Schweizer Tobak. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301005
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die Arbeit seiner Mutter gemacht, fiel ihm auf.

      Doch das war nicht die ganze Wahrheit. Irma machte sehr wohl ihren Teil. Am Abend arbeitete sie mit den Kindern die Schulaufgaben durch, übte mit Elisabeth die langweiligen Etüden auf dem Klavier, auch vierhändig, begleitete Konrads Querflötenspiel und forderte den noch kleinen André mit der Blockflöte heraus. Im Sommer begleitete sie die Kinder zum Schwimmen an den See. Sie war selbst eine gute Schwimmerin und hatte den Kindern dieses Können so früh wie möglich beigebracht. Im Winter besuchte sie mit ihnen Museen und kleine Theater in Stadt und Land, ging sogar ins Kino, wenn es Filme gab, die für sie zugelassen waren oder die sie für zuträglich hielt. Sie verwickelte sie auch in Gespräche über Gott und die Welt. Sie war selbst kaum gläubig, hielt aber darauf, dass sie die Stunden mit den Konfirmanden besuchten. Das war bei Elisabeth kein Problem, jedoch bei Konrad schon. Bei André hatte sie resigniert.

      Und jetzt, da er älter war, fragte er sich auch, wie wohl seine Mutter damit fertig geworden war, so ganz ohne Mann zu leben. Er war sich sicher: Da gab es nichts und niemanden. Dabei war sie doch erst 37 gewesen, als sie ihn verlassen hatte, ohne dies wirklich zu wollen, nur auf bessere Zeiten wartend und hoffend. 60 Jahre hatte sie mehr oder weniger allein gelebt. Nein, nicht allein, 20 Jahre mit ihrer Mutter und ihnen, den Kindern. An die 40 Jahre lebte sie dann noch allein in diesem Haus, die letzten zwei oder drei Jahre davon im Altenheim. Kein Wunder, dass sie das Haus nicht verkaufen wollte. Das Haus war ihre Festung gewesen.

      Wie wäre sein Leben wohl verlaufen, wenn sie die Flucht in die Schweiz unterlassen hätten? Diese Frage beschäftigte André im Zug auf der Rückfahrt in die Seeweite. Alles an seiner Herkunft erschien ihm an den Tabak gebunden. Trotzdem waren er und Elisabeth Tabakmuffel. Beide waren sie geprägt von einer gewissen Feindseligkeit gegenüber diesem stinkenden, schwelenden, schmauchenden, rauchenden, zerstörenden und mordenden Kraut und dem ganzen Drumherum. Beiden war jedoch auch klar, wie vieles sie diesem Kraut und dem Drumherum zu verdanken hatten.

      Im Lauf der Gespräche hatte sich Elisabeth nach Tante Helene, die in Wirrwil im Altenheim lebe, erkundigt und wollte ihm kaum glauben, als André ihr versicherte, dies nicht gewusst zu haben, denn seines Wissens nach sei sie doch nach dem Tod ihres Mannes ins Tessin gezogen. Er versprach, gelegentlich bei ihr vorbeizuschauen.

       Zurück zur Schule

      Anfang September besuchte unerwartet Nadine mit ihrem Mann aus Südfrankreich ihren Vater André. Den Grund ihrer Reise sah André ohne weitere Erklärung: Nadine war schwanger. Im Oktober würde er Pépère eines Enkels werden. Sie hatten mit Absicht nichts davon geschrieben und waren über Paris gereist, um auch Miriam damit zu überraschen. Sie blieben nur drei Tage, kaum genug, um etwas Richtiges zu unternehmen.

      Vielmehr wollte sie wissen, was er denn hier tue von Tag zu Tag, es müsse doch schrecklich langweilig sein, hier zu leben.

      Und wirklich, er tat sich schwer, sein Leben hier nach etwas aussehen zu lassen. Er hatte jetzt im Haus aufgeräumt, den Garten etwas diszipliniert, machte Spaziergänge am See und im Wald und hatte auch schon einige Kontakte geknüpft und Leute kennen gelernt. Erstaunlicherweise war ihm kaum jemand aus seiner Schulzeit begegnet. Das hatte er sich anders vorgestellt, doch allzu neugierig war er nicht, seine ehemaligen Mitschüler zu treffen.

      Bei seinem nächsten Besuch auf der Gemeindeverwaltung kam er auf das Thema zu sprechen. In den letzten 40 Jahren habe sich eben doch sehr viel verändert. Das Dorf sei um rund 500 Einwohner gewachsen, aber dies sei nur ein Aspekt, die grössten Veränderungen seien durch Fluktuation entstanden. Es könne durchaus sein, dass nur noch wenige seiner Mitschüler hier lebten. Es gab eine Liste der 60-Jährigen, weil die Gemeinde all diesen Einwohnern zum Geburtstag einen Glückwunschbrief schrieb. Mit 70 und 75 wurden die Glücklichen zu einem kleinen Ausflug mit Mittagessen eingeladen. Natürlich dürfe er diese Liste haben, mehr als im Telefonbuch stehe nicht drin.

      Etwas zu jovial schlug ihm der Gemeindeschreiber vor, ein Schiff zu kaufen, segeln zu lernen und dem Club beizutreten. Da lerne er gute Leute kennen, hätte einen wunderbaren Zeitvertreib auf dem See und mit dem richtigen Ausweis dürfe er sogar frische Barsche und Felchen aus dem Wasser fischen. Als halber Franzose sei er doch bestimmt ein guter Koch und Feinschmecker. Dieser Rat imponierte André mehr als er zeigte und er ging immer wieder zum Bootssteg und machte seine Absicht bekannt.

      Allen, denen er begegnete, waren freundliche Leute, vielleicht ein bisschen spiessig, auf äusserliche Kleinigkeiten bedacht, blauer Blazer, weisse Hosen, Bügelfalten, weisse Schuhe, Detailpflege am Schiff …

      Jedoch benahmen sie sich nicht überheblich oder gar elitär, wie er eigentlich befürchtet hatte. Einige von ihnen mochten Unternehmer, Handwerker, Krämer oder gut verdienende Kaderleute sein. Doch bisher hatte er weder sich affektiert aufspielende noch arrogant brüskierende Schiffseigner getroffen, wie er sie unter Franzosen ab und zu, zugegeben in anderen Gruppen, erlebt hatte.

      Man half sich am Steg, sprach über das Wetter, tauschte Witzchen, ihm gefiel die Atmosphäre, auch die Idee, ein Schiff zu haben und dazuzugehören, inzwischen kam er auch mit seinen Mitteln klar, irgendwie würde er es schon schaffen.

      Seiner Tochter erzählte er, um zu zeigen, dass er durchaus Pläne hatte und um seine Verlegenheit etwas zu kaschieren, von der Idee. Sie reagierte sehr verblüfft und erinnerte ihn an die Geschichte, die er einst an der Yonne als Mahnung immer wieder erzählt hatte, von dem Mann, der auf diesem kleinen See im Sturm zusammen mit seinem Sohn ums Leben gekommen war. Er hatte nicht mehr daran gedacht oder die Geschichte verdrängt.

      Das war im Sommer geschehen, bevor er als Student nach Bern gezogen war. Niemand hatte ein solches Unglück mit einem so grossen Schiff auf diesem kleinen See für möglich gehalten. Als André dazu anhob, die Sache erneut zu erzählen und zu erklären, dass er niemals in diese Wetterfalle geraten würde, bat Nadine darum, das Thema zu wechseln. Sie wollte unbedingt, dass ihre Kinder ihren Großvater erleben dürften und er sich nicht unsinnigen Gefahren aussetzte. Offenbar neigte die Schwangere zur Hysterie, dachte er sich, versprach jedoch, sich die Sache nochmals zu überlegen.

      Sie fragte ihn, warum er sich nicht um die hiesige Schule kümmere. Er könnte sich doch als Aushilfe anbieten, stundenweise oder so.

      Er hatte Mühe, sich damit anzufreunden. Ihm selbst wäre das nicht eingefallen. Ein Lehrer hier galt früher als Schulmeister, als Pauker, auch in der Sekundarschule. Der Gedanke erinnerte ihn zu stark an seine Kindheit in der genormten Dorfschulbank mit dem klappbaren Pultdeckel.

      Andererseits konnte er sich hier nützlich machen, auch so neue Kontakte knüpfen, mit dem kulturellen Leben in der Region in Verbindung kommen. Lehrer sein war doch sein Beruf und so ziemlich das Einzige, das er sich in seiner Situation wirklich zutraute.

      Einen, an den er sich bei der Durchsicht seiner Namensliste auf Anhieb erinnerte, war Isidor Locker. Schon seines Namens wegen war er bemerkenswert gewesen. Der Sohn eines Lehrers und ehemalige Musterschüler war jetzt Rektor der Sekundarschule. Vielleicht machte es durchaus Sinn, sich als Aushilfslehrer für Französisch oder Geschichte anzubieten, für ein paar Stunden pro Woche oder gar ein kleines reguläres Pensum. Er ging hin. Isidor war da, im alten Schulhaus, in dem sie beide einst in der Schulbank gesessen hatten.

      André war überrascht, da gab es keine Bänke mehr mit Klapppulten. Das Klassenzimmer, in das ihn Isidor führte, war hell und die Wände voller fröhlicher Bilder. Zwar gab es an der Frontwand noch immer eine riesige Tafel, doch davor hing eine aufwindbare Leinwand. Das einstige Lehrerpult war verschwunden. Die Arbeitstische der Schüler mit den modernen Stühlen standen im Halbkreis um den Tisch des Lehrers.

      Das Gespräch war erfolgreich. André kam kurz vor den Herbstferien genau zur richtigen Zeit, sagte Isidor.

      Auch er war jetzt 60 und etwas schulmüde, aber es falle ihm schwer, aufzuhören. Er wollte gern Leiter der Schule bleiben, doch nicht mehr vor den Klassen stehen. Mindestens bis zum grossen Fest, der Einweihung der neuen regionalen Schulanlage in genau viereinhalb Jahren, kurz vor seiner Pensionierung wollte er dabei bleiben.

      Isidor war noch immer ehrgeizig, dachte André, das war er schon immer gewesen, auch