Schweizer Tobak. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301005
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Art innere Enttäuschung, eine enorme Leere, die ich in diesem Haus und in diesem Dorf nicht mehr aushalten konnte. Ich hatte jedoch Ursache und Wirkung verwechselt und bin zurückgekommen, nachdem ich das auch eingesehen hatte, in eine bescheidene Wohnung mit gewöhnlichen Nachbarn. Mit einem Mal war hier alles anders. Leute, die ich bisher schlicht übersehen hatte, grüssten mich, waren freundlich zu mir, wollten wissen, wie es mir geht. Meine Rückkehr war für sie ein spätes Bekenntnis, dass ich doch zu ihnen gehöre. Das war bewegend zu erleben.

      Jetzt erst sah und fühlte ich im Dorf mit seiner Landschaft, dem See, der Weitsicht auf den Kranz der Alpen so etwas wie Heimat. Als es Zeit wurde, in ein Heim zu wechseln, drängte mich Elsa zu einer nobleren Bleibe. Aber ich wollte nicht. Ich fühle mich hier sehr gut aufgehoben und angesehen als Frau Schaller, die Frau des einstigen Direktors und Gemeindeammanns, das ist doch was!»

      Der jugendliche Schalk seiner älter gewordenen Tante war für einen Augenblick wieder da. André glaubte, in ihr die frühere Helene wieder gefunden zu haben.

      Sie entschuldigte sich für ihren Redeschwall. Wem das Herz voll sei, fliesse bekanntlich der Mund über. Sie freue sich, dass er da sei und nun wollte sie von ihm wissen, warum, wieso und wofür. Sie hörte für sein Gefühl etwas zu aufmerksam zu, sie wollte ihm vermutlich zeigen, wie wichtig sie seinen Besuch fand. Er machte es so kurz wie möglich und kam zum Schluss auf das Thema, das ihn seit seiner Rückkehr am meisten beschäftigte: der erstaunliche Untergang der Tabakindustrie, jener Industrie, die seiner Tante ein so sorgloses Leben bereitet hatte.

      Helene gab eine erstaunlich kurze und abgeklärte Antwort. Die Männer in aller Welt rauchten seit dem Zweiten Weltkrieg immer mehr Zigaretten und immer weniger Zigarren. Die kleinen Betriebe hatten letztlich zu wenig verdient, um sich im Wettbewerb zu halten, einige grössere machten grosse Fehler, schwächelten bei der Entwicklung neuer Ideen, investierten zu wenig in die Werbung, verpassten die Mechanisierung und wurden sehr oft durch die Familienstrukturen in den Ruin getrieben.

      Viele der reichen Tabakherren konnten ihr Geld im letzten Augenblick retten. Ihre veralteten, aber oft noch erstaunlich intakten Betriebe wurden von den verbliebenen beiden grossen, Gruber und Brand, aufgekauft. Und diese beiden gehörten inzwischen zu den Grossen der Tabakwelt. Während die Grubers im Schmauchtal mit wenigen Leuten noch irgendwelche Grundprodukte herstellten, wickelten in der alten Fabrik der Brands an die dreihundert Angestellte noch immer in Handarbeit einige auserlesene Zigarren.

      Übergangslos fragte Helene nach Andrés Schwester und ergänzte, es sei ein Elend gewesen, dass Konrad unter so mysteriösen Umständen hatte sterben müssen.

      Auch Andrés Geschwister waren einst bei Helene ein- und ausgegangen, als ob sie dort zu Hause seien. Immer wieder meinte ihre Mutter, wie schade es wäre, dass Helene keine Kinder bekam. Sie wäre doch eine so gute Mutter geworden. Doch noch heute, wenn er sich daran erinnerte, konnte er an dem Tonfall, in dem sie es gesagt hatte, so etwas wie einen Vorwurf heraushören. Er hatte dies vergessen, doch jetzt kam dieser Ton seiner Mutter zurück und rief ihm Elsa in Erinnerung.

      Warum hatte er Elsa vergessen? Und warum hatte Helene nicht gleich zu Beginn von ihr erzählt? Doch als er nach ihr fragte, reagierte sie durchaus lebhaft.

      Elsa gehe es sehr gut, sie sei Lehrerin für Musik und Gesang an der Sekundarschule hier, sie hätte auch ein Pensum in der Stadt und leite dort einen Chor. Die inzwischen 51-Jährige lebe allein und komme immer wieder vorbei, um nach ihr zu sehen. Ihr Mann, mit dem sie einen Sohn habe, sei mit 40 an Krebs gestorben. Der Sohn lebe in Zürich, sei ledig und arbeite als Banker, erzählte sie mit unüberhörbarem Stolz.

      Sie ermunterte ihn, Elsa zu besuchen. Sie seien immerhin so etwas wie Cousin und Cousine. Er fand das eine gute Idee, denn irgendwie erinnerte er sich an ein durchaus fröhliches bis übermütiges Mädchen mit dunklen, beinahe schwarzen Zöpfen und roten Backen. Als er sie zum letzten Mal gesehen hatte, war sie vielleicht vierzehn gewesen.

      Er versprach, sich bei Elsa sehen zu lassen und wiederzukommen und bat Helene darum, einen Blick in all die alten Geschichten, die sie offenbar noch immer aufbewahrte, werfen zu dürfen. Sie war hocherfreut über sein Interesse, er dürfe durchsehen, was immer er wolle, letztlich jedoch gehöre alles Elsa, ob die sich allerdings daraus etwas mache, wisse sie nicht. Der letzte Satz hörte sich leicht bitter an.

      André versuchte, sich an Elsa zu erinnern.

      Mit Elsa hatte sich das Klima bei Ernst und Helene deutlich verändert, mit einem Mal drehte sich dort alles um die kleine Göre. Er war damals zwölf und fühlte sich bisher von der Tante besser gelitten als von seiner Mutter. Plötzlich war alles anders, ein Schock, eine kalte Dusche für den Hahn im Korb. Elsa war als Dreijährige aus einem Waisenhaus gekommen. Helene und Ernst hatten das Kind zu sich genommen, weil sie die Hoffnung auf ein eigenes Kind längst aufgegeben hatten und endlich auch die zuständigen Behörden daran nicht mehr zweifelten. Später adoptierten sie das Mädchen, ein damals langwieriger Prozess. Als Elsa kam, arbeitet Andrés Schwester in Israel im Kibbuz und sein Bruder war Student, er fuhr jeden Tag mit der Bahn in die Stadt, und seine Mutter verbrachte die Tage in der Fabrik hinter ihren Lohnlisten. Nur Helene war immer dagewesen. Dann kam Elsa.

      Trotzdem – er erinnerte sich an Elsa als ein fröhliches, ausgelassenes Mädchen. Manchmal im Sommer holte Helene ihn ab und fuhr mit ihm und Elsa zu einem der Seen, nicht zum Baden, eher in eine Wirtschaft mit Garten am Wasser. Sie fürchtete sich davor, die Kinder in den See zu lassen, sie fand das Wasser schmutzig und oft wurde das Baden in jenen Jahren tatsächlich verboten. Sie bestellte jeweils für beide eine Limonade oder gar eine Eiscreme und wanderte danach ein Stück am See entlang. Meistens hatte sie ein Buch dabei, setzte sich auf eine Bank, bat André, auf Elsa aufzupassen und begann zu lesen – endlos, wie ihm schien. Dem 13- und 14-Jährigen fiel es nicht leicht, die unermüdliche Zappelgöre im Zaun zu halten. Mehr und mehr fand er Ausflüchte, um die Ausflüge mit Elsa zu vermeiden. Schliesslich war er jetzt ein Junge und für anderes vorgesehen.

      Durch all die Jahre hatte er das Mädchen mehr oder weniger vergessen und mit ihr viele andere wie Lorenz, seinen Sohn Felix und eigentlich alle seine Mitschüler. Irgendwann würden sie ihm bestimmt begegnen, hoffte er. Elsa aber würde er schon bald aufsuchen. Nur nicht gleich.

       Das Projekt

      Andrés Arbeit für die Sekundarschule brachte ihn im November mit dem geplanten Bau einer neuen regionalen Sekundarschulanlage in Kontakt, von dem ihm Isidor bei ihrem ersten Treffen erzählt hatte. Schon vor 100 Jahren hatte man ein für jene Zeit und Verhältnisse grosszügiges Zentralschulhaus gebaut. Auch rückblickend zeigten die damaligen Verantwortlichen Mut und Glauben an die Zukunft. Das Werk wurde zu Recht im ganzen Land gelobt, von vielen Architekten und Behörden anderer Gemeinden besichtigt und nachgeahmt. 100 Jahre hatte es gedient und würde auch in Zukunft für die unteren Stufen genutzt werden.

      Doch jetzt war man aufgebrochen, um ähnlich Grosses zu schaffen. Die neue Schule würde nicht mehr einfach ein Haus sein, sondern eine Art Campus für die oberen Stufen, Sekundarschule und Progymnasium, bestehend aus mehreren Häusern mit viel Freiraum, drei Turnhallen und alles auch im Hinblick auf die neuen didaktischen Technologien aufs Modernste eingerichtet für die kommenden 100 Jahre, meinten die Planer und äusserten doch auch Zweifel. Alles würde sich in Zukunft noch viel schneller verändern als in den vergangenen 100 Jahren.

      Im Frühling 2006 sollte der erste Spatenstich erfolgen und am ersten Freitag im Juli 2008, fast auf den Tag genau 100 Jahre nach der Eröffnung des alten Zentralschulhauses, würde die neue Anlage unter Mitwirkung der ganzen Region mit einem grossen Fest eingeweiht. Nach der definitiven Freigabe durch Kanton und Gemeinden, quasi beim Apéro mit kleinen Häppchen, hatte sich ein Komitee gebildet, welches dieses Fest schon jetzt in seinen Grundzügen entwickeln wollte. Ein Höhepunkt würde eine Aufführung sein, bei der Schüler mit Spiel, Gesang und Tanz in einem Festspiel die regionale Geschichte der letzten 100 Jahre in wenigen, aber starken Aufzügen wiedergäben.

      André selbst war, weil er nicht zum festen Lehrkörper gehörte, zu diesem kleinen Anlass nicht eingeladen. Als ihm Isidor, der das Komitee präsidierte, davon erzählte, begeisterte er sich für diese Arbeit.