Schweizer Tobak. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301005
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wollte er zur Bibliothek, zum Lese- und Schreibzimmer, machen. Er würde lesen, viel lesen, in den Wald gehen, an den See, am See entlang zurückkehren, schreiben und lesen.

      In den nächsten Tagen kaufte er sich eine Badehose und ging zum See. Seit über 40 Jahren war er nicht mehr dagewesen. Damals gab es im Sommer hin und wieder Badeverbote, weil die Bauern die Felder überdüngt hatten und der ganze Dreck bei Regen in den See geflossen war. Hin und wieder waren die Buben trotzdem schwimmen gegangen, nicht bei der geschlossenen Holzbude, in der Frauen und Männer nicht zusammen ins Wasser gehen und schwimmen durften, sondern an einer offenen Stelle hinter einer schützenden alten Betonmauer.

      Da wollte er wieder hingehen und sich erinnern, schwimmen.

      Jemand im Dorf hatte ihm erzählt, das Wasser sei jetzt wunderbar sauber und für die Jahreszeit erstaunlich warm. Das Gartenbad jedenfalls sei offen.

      Er wollte nicht ins Gartenbad, er konnte sich darunter nichts vorstellen, der See war ja keine Piscine und in irgendeine Holzkiste wollte er sich nicht pferchen lassen.

      Einst in Paris war er mit Miriam und den Mädchen, mit gefülltem Picknickkorb und einem Faltboot auf dem alten Peugeot ab und zu an Sonntagen bei schönem und warmem Wetter an die Yonne gefahren, dorthin, wo sie seicht ist und gemächlich fliesst. Da waren sie immer allein und ringsum war alles sanfte grüne Natur. Grün war auch das Wasser, nicht wirklich sauber, aber gewiss nicht ungesund, das wenigstens wollte er glauben. Auch das waren schöne Stunden, schöne Tage gewesen. Frankreich ist ein grosses schönes Land, erinnerte er sich.

      Jene Mauer mit der kleinen Wiese, die er wiedersehen wollte, war noch da, auch eine neue Sitzbank. Alles war gut. Er schwamm sich zurück in seine Kindheit und Jugend. Später wanderte er am Ufer entlang zum Steg der Segelboote und war überrascht über die grosse Zahl vor allem beinahe neuer Schiffe. Vielleicht sollte er sich eine Jolle kaufen und segeln lernen oder umgekehrt. Die Anlegestelle gehörte dem Club, er wollte sich erkundigen und fürchtete den Gedanken, die Sache könnte für ihn zu teuer werden. Seine Pension aus Frankreich liess sich zwar sehen, aber allzu grosser Spielraum lag nicht drin. Hier schien das Alltagsleben deutlich teurer, das hatten ihm schon die ersten Einkäufe gezeigt und das Haus würde ihn auch belasten, mehr, als er sich ursprünglich ausgerechnet hatte, Erbteil und Ersparnisse würden kaum genügen, um schuldenfrei zu sein. Vielleicht hatte er sich selbst getäuscht, weil er einfach hierher kommen wollte. Hier bekam er ohnehin noch keine Rente und wenn, nur für die wenigen Jahre, in denen er in der Schweiz gearbeitet und eingezahlt hatte.

      Immerhin, auf der Bank lagen einige zehntausend Euro von Miriam, der ausbezahlte Erlös aus der Wohnung in Paris.

      Als er sich entschlossen hatte, Paris zu verlassen und in die Seeweite zu ziehen, hatte ihn die Aussicht gereizt, sich seinem in den letzten 40 Jahren mehr oder weniger vernachlässigten Fach Geschichte wieder etwas zu nähern. Noch als Maturand favorisierte er die Renaissance, doch die hatte seiner Meinung nach die Völker weit weniger bewegt als die spätere Zeit der Aufklärung und der französischen Revolution, die Zeit, in der die heutige Welt erdacht und erfunden worden war, die Zeit von Descartes, Diderot, Voltaire, Rousseau, Adam Smith, Benjamin Franklin und vielen anderen. Europäer und Amerikaner begeisterten ihn, das war für ihn grosse Geschichte.

      Es würde bestimmt sehr reizvoll sein, sich Schmauchtals kleiner Geschichte anzunehmen. Das war vermutlich Brachland und eine Möglichkeit, sich in der Gegend bemerkbar oder gar nützlich zu machen. Zu seiner grossen Enttäuschung fand er sehr schnell heraus, dass lokale und kompetente Kenner seit den Anfängen in der letzten Eiszeit alle relevanten Ereignisse, die politische und wirtschaftliche Entwicklung, Daten und Fakten schon lange akribisch gesammelt und in erstaunlich sorgfältig und edel gemachten Büchern festgehalten hatten. Sogar die Ursprünge der Schallers, der Ahnen seiner Mutter, und vieler anderer Familien der umliegenden Dörfer waren längst geklärt. Es gab nichts mehr zu recherchieren oder zu erforschen. Ernüchterung, ja beinahe Enttäuschung waren anfänglich gross. Doch die Auseinandersetzung mit seiner eigenen Herkunft und den zum Teil tragischen Verwicklungen beschäftigte ihn zusehends, weniger die Fakten, mehr der menschliche Gehalt, die Saga. Er wusste, dass seine direkten Vorfahren, die Schallers, Bauern auf dem Heimberg gewesen waren, sein Grossvater jedoch bei den Brand-Cigars Verkäufer wurde und noch nicht 30 war, als er jeweils mit Koffern und Rucksack nach Deutschland fuhr, den Münchner Tabakläden seine Produkte anbot, den Import der Bestellungen organisierte und später Niederlassung und Fabrik der Firma in München leitete bis zur Reichskristallnacht. André lebte auch in der Gewissheit, ohne dies jemals überprüft zu haben, dass sein Grossvater als Folge seiner endlosen Raucherei an Kehlkopfkrebs erkrankt und daran unter entsetzlichen Schmerzen gestorben war. Dieser langsame Tod, den seine Mutter Tag für Tag begleitet hatte, hatte ihr traumatische Prägungen beigebracht. Wenige Wochen nach Grossvaters Sterben erhielt sie aus München die Nachricht vom grässlichen Ende ihres Mannes. Sie war jetzt allein mit ihren drei Kindern. Immerhin nicht arm, nicht weit von ihrem Bruder Ernst wohnend und auch in verschiedener Hinsicht gestützt durch die Beziehung zu den Brands, den Besitzern von Brand-Cigars. So war das bei ihm als Kind angekommen.

      Er begann sich für Einzelschicksale, Herkunft und Lebensläufe von Menschen, die er aus seiner Jugendzeit oder Kindheit kannte, zu interessieren. Dieses Interesse war auch durch sein eigenes Erleben motiviert. Wenn es so etwas wie Liebe gab, hatte ihn diese nach Frankreich entführt. Miriam war für ihn einfach unwiderstehlich gewesen. Ihr Gesicht hatte fröhliche Unbefangenheit ausgestrahlt, und in allem, was sie sagte, war Zuversicht, Freude auf gutes Gelingen und frohe Tage gelegen. Er erlebte sie als Gegenpol zu seiner Mutter, die sich stets sorgte, sich vor jedem kommenden Tag fürchtete oder ihm mindestens ohne Hoffnung auf Gutes und Schönes entgegensah. Er selbst neigte zu dieser Gemütslage und Miriam hatte ihn da herausgeholt und in einem gewissen Mass auch mitgerissen.

      Er hatte seine Mutter kaum lächeln sehen, mit Miriam zusammen sah er sie sogar lachen. Aber Miriam wollte nicht in der Schweiz leben. «C’est beau, la Suisse, tu sais, mais un peux étouffante …», und sie sagte dies mit grossem Charme.

      Andrés Vater war offensichtlich irgendwie mit dem deutschen Faschismus verstrickt gewesen. Sein Sohn scheute sich jedoch sein Leben lang, aus Respekt vor seinen Eltern, dieses Thema anzusprechen. Aber der Mann hatte nun einmal Brand-Cigars in München in den letzten Jahren vor und während des Krieges bis kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner geleitet. Ohne ein Mindestmass an Linientreue hätte er diese Stellung nie bekommen oder gar halten können. Auch der Grossvater, der in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg im Auftrag der legendären Mama Brand für Brand-Cigars nach Deutschland gezogen war, konnte sich dem Einfluss der Entwicklung zum nationalsozialistischen Deutschen Reich nicht entziehen. Allerdings verliess er Deutschland mit seiner Frau, als die Horden der paramilitärischen SA im Rassenwahn in den Strassen der Städte alles kurz und klein schlugen, was als jüdisch galt oder aussah – aus Altersgründen, wie er die braunen Behörden ausdrücklich wissen liess. Der alte Sebastian – so nannten ihn auch «seine» Arbeiterinnen und Arbeiter am Starnberger See – war damals 63 Jahre alt.

      Er kaufte in der Schweiz durch die Vermittlung der Brands über dem See dieses schöne Haus. Er erlebte jedoch das Ende des Krieges nicht, er starb im März 1945, nur wenige Wochen vor dem grausigen Tod seines Schwiegersohnes und kaum zwei Monate vor dem Ende des Hitlerreichs. Schon nach dem Fall von Stalingrad wusste Sebastian, dass der Krieg für Deutschland verloren war, doch sprach er nie darüber, er setzte aber nach diesem Zusammenbruch der Ostfront alle Hebel in Bewegung und bat auch Marcel Brand, den Nachfolger der inzwischen verstorbenen Mama Brand, um Unterstützung, um seine Tochter Irma mit ihren Kindern – durch die Heirat waren sie deutsche «Reichsangehörige» geworden – auf Dauer in die Schweiz «heimzuholen», wie er es nannte.

      Der Vorgang war kompliziert, ein Doppelbürgerrecht gab es nicht und die Familie konnte auch nicht den Status von Flüchtlingen annehmen, das hätte den als Leiter der Niederlassung zurückgebliebenen Vater in Schwierigkeiten bringen können. Er durfte nicht in den Verdacht eines Defätisten geraten, das war lebensgefährlich und zudem auch ein Risiko für die deutsche Brand-Cigars.

      Es gelang nur Dank der Hilfe eines befreundeten Arztes, der sowohl bei der Mutter wie auch bei dem am 6. Juni 1944 geborenen Säugling Andreas eine Lungentuberkulose attestierte und die beiden älteren Kinder als schwer gefährdet einstufte. Nachdem