Schweizer Tobak. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301005
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weil sie zu viel assen, sich zu wenig bewegten oder sich zu Tode soffen, was weit schlimmer sei und ganze Familien zerstöre. Die Aufregung sei doch völlig überzogen. Selbstverständlich müsse man mit dem Tabakgenuss umsichtig umgehen, niemand liebe einen Zigarrenraucher beim Mittagessen. Das sei wie mit dem Genuss von Wein, niemand wolle doch bestreiten, dass dieser eine gute Mahlzeit aufwerte. Marietta meinte dazu, das sei nicht das Problem. Beim Wein müssten nicht alle mittrinken und das Wasser aus der Röhre sei damit nicht versaut. Die Luft im Umfeld der Raucher schon. Zudem sei ihr letzthin eine Frau nachgerannt und habe sie unflätig beschimpft, weil sie das Papierchen eines Karamells unbeabsichtigt verloren hatte. Zigarettenstummel aber lägen zu Millionen herum und kein Mensch rege sich darüber auf.

      Jetzt war das Mass voll. Selbst ihre Eltern zogen über Marietta her. Sie sei eine Fanatikerin und predige wie eine Sektiererin, wie könne sie nur alle rauchenden Menschen zu Umweltverschmutzern stempeln! Aber so seien sie eben alle, diese anmassenden Besserwisser und Sektierer, die keinen Sinn für die kleinen Freuden im Leben hätten. Es sei doch auch etwas, das Leben zu geniessen, nicht nur immer zu arbeiten und sich nie einem auch nur kleinen Laster hinzugeben. Man sage ja, die Summe aller Laster sei bei allen Menschen gleich, welches denn nun ihr Laster wäre.

      Zugegeben, sie liebe es auch, das Leben zu geniessen, sie verstehe aber darunter mehr als das süchtige Inhalieren von stinkendem Rauch, entgegnete sie, und argumentierte: «Mein Laster ist es, dummes Geschwätz, wenn möglich, abzublocken oder mir mindestens nicht anzuhören.» Jedermann sei freundlich eingeladen, mit ihr die lungenkotzenden Schwerkranken zu besuchen und einmal richtig mitzubekommen, wie genussvoll dieses Lebensende sein könne. Wirklich, das seien dann die kleinen Freuden der letzten zwei, drei Jahre.

      Marietta stand auf, wünschte allen einen schönen Abend und ging. Jetzt begannen die Eltern, ihre Tochter in Schutz zu nehmen. Sie meine es nicht so böse und sei doch eine liebevolle und einfühlsame Pflegerin. Sie bekomme immer wieder liebe Briefe von Patienten. Wahrscheinlich hätte sie sich hier provoziert gefühlt und es gar nicht so ernst gemeint. Die zwei anderen am Tisch sitzenden Paare beruhigten sich.

      André hatte seine Zweifel, aber keine Lust, das Gespräch weiterzuführen, er befürchtete, die Runde auch vorzeitig verlassen zu müssen. Er blieb, bestellte sich ein Glas Wein und einen Teller mit Pommes frites und Schnitzel. Er nahm an der für eine Weile munter plätschernden Unterhaltung teil und erzählte auf ein paar neugierige Fragen hin, dass er Lehrer in Frankreich gewesen und wie er nun neu zum Segler geworden war.

      Ohne es zu wollen, führte seine Geschichte in eine Richtung, die er nicht erwartet hatte. Inhalt und Ergebnis wurden ihm erst im Nachhinein, zurück in seinem Haus, richtig bewusst.

      Seine Tischgenossen liessen kein gutes Haar an Land und Leuten, die ihn während über 30 Jahren ein mehr oder weniger gutes Leben hatten leben lassen.

      Er hielt sich nicht für übertrieben frankophil und hatte sich nie Illusionen über die Probleme der Franzosen, ihrer Nation, die sie noch immer als «gross» erlebten und ihrer Republik gemacht, die nicht immer gefestigt erschien. Dieses Volk liess sich nicht leicht regieren, es ging auf die Strasse, um die Zähne zu zeigen, aber auch, um seinen Stolz vorzuführen, um zu jubeln und zu tanzen.

      Auch er hatte die Europäische Union nicht nur als Erfolgsprojekt erlebt, aber gab es dazu eine einigermassen bessere Alternative? War es nicht die einzige Möglichkeit, um aus den sich seit Jahrhunderten mehrfach zerstrittenen und immer wieder blutig bekämpften Feinden Freunde und Partner zu machen? Gab es eine andere Lösung für Europa, um sich gegen die grossen Mächte dieser Welt durchzusetzen oder sich zumindest Gehör zu verschaffen?

      Was wussten diese arroganten Schweizer schon von den grässlichen Verletzungen, die unzählige Kriege diesen Völkern und Menschen beigebracht hatten? Was wussten sie über die kulturellen und materiellen Verluste, die beinahe jede Generation hatte hinnehmen müssen? Jetzt versuchte man, sich zusammenzuraufen, gemeinsam eine prosperierende Zukunft in Frieden aufzubauen. Was waren schon die bekannten Unzulänglichkeiten im Hinblick auf die Chancen für die Zukunft! Die Europäische Union war ein Hoffnungsträger für einen friedvollen Kontinent, auf dem keine Diktatoren mehr Platz hatten.

      Doch seine Gesprächspartner liessen das alles nicht gelten. Sie reduzierten Frankreich auf eine unfähige Gesellschaft und Europa auf ein nicht funktionierendes, wirtschaftlich nicht steuerbares Gebilde ehrgeiziger Politiker und Bürokraten. Sie wollten darin nur einen undurchsichtigen, Milliarden verschlingenden, über seine Verhältnisse lebenden, unweigerlich dem Untergang bestimmten Moloch sehen.

      Es blieb im Gespräch nicht beim einfachen Vergleich unterschiedlicher Traditionen, Mentalitäten und Systeme. Franzosen waren für die Leute am Tisch faul, unzuverlässig, oberflächlich, wurstig und arrogant.

      Im Zweiten Weltkrieg rannten sie offenbar einfach feige davon und zogen hinter dem Schild der Amerikaner wieder in ihre Häuser, Dörfer und Städte zurück, zurück zu ihren Cabarets mit den leichten, lasziven Flittchen. Bestenfalls fürs Bett geeignet, lachte eine Frau. Eine andere, aus Basel stammende und mit einem Gemüsehändler verheiratete junge Frau am Tisch meinte, sie kenne die Franzosen, Männlein und Weiblein zur Genüge. Tausende dieser Waggis kämen jeden Morgen, um in Basel zu arbeiten, nicht nur in der Chemie, sondern überall, als Markt- und Putzfrauen, Verkäuferinnen, Coiffeusen, Bau- und Hilfsarbeiter und alle seien ein wenig grobschlächtig und schwer von Begriff, Deppen eben.

      Woher kamen alle diese Klischees über die Nation im Westen? André erinnerte sich an einen Aufsatz im Feuilleton einer Zeitung, den er als Student gelesen und seither vergessen hatte. Er wurde damals darauf aufmerksam, weil ihn seine Kommilitonen hänselten, als er zum ersten Mal für drei Monate nach Paris ging, um die dortige Sprache zu üben.

      Als der deutsche Kaiser 1914 gegen Frankreich in den Krieg zog, musste er sein Volk hinter sich scharen. Dafür war ihm, zumindest seinen Propagandamachern, kein Aufwand zu gross und keine Verunglimpfung zu schäbig, um ihre schamlose Hetze erfolgreich zu machen. Zeitungen und Plakate waren voll übelster illustrierter Unterstellungen über Jahre. Dieser mörderische Krieg war nicht nur auf dem Schlachtfeld zäh und lang, sondern auch hinsichtlich der Volksverhetzung. Zwar gaben die Franzosen mit gleicher Münze zurück, doch in der weit herum kaiserfreundlichen Deutschschweiz mit ihrem von den Romands ungeliebten, mit Bismarck verschwägerten General Wille, kamen nur die Verunglimpfungen aus dem Reich zum Tragen.

      Der Autor jenes Aufsatzes konnte nachweisen, wie sich diese Stimmungsmache in der Bevölkerung über Generationen festgesetzt hatte, und, so fand André, bis ins 21. Jahrhundert nachwirkte, wie die Hetze gegen Juden.

      Vielleicht war das ein Erbe der unseligen Zwischenkriegszeit, in der die systematische Verunglimpfung, Verleumdung und Schändung alles Jüdischen zum grössten Verbrechen gegen die Menschlichkeit der modernen Geschichte ausgeartet war. Zwar wurden die Juden in Europa durch alle Zeiten immer wieder behindert, ausgebeutet, verfolgt und getötet, doch erst die gnadenlose Hatz der Nationalsozialisten führte schliesslich im Zweiten Weltkrieg zum Massenmord an Männern, Frauen und Kindern aus ganz SEuropa.

      Wer Krieg will, befeuert den Hass durch Hetze. Hass ist ein Feuer, das sich oft an kleinen Unzulänglichkeiten entzündet, im Alltag Nahrung findet, anfänglich in Nischen schmort, im Gespräch in kleinen Gruppen aufglüht, in Vereinen, vermeintlich harmlos, oft launisch, oft mutwillig angefacht, auflodert, aus Misstrauen, aus Angst vor Unbekanntem, Andersartigem, Undurchschaubarem, aber auch aus Neid und Missgunst und das schliesslich ausartet in wütende Tiraden, die sich erst gegen Einzelne, dann gegen Gruppen, Völker und Rassen richten und sich schliesslich zu Kriegen ausweiten.

      Die Gier nach Macht oder Reichtum ist die Mutter aller Kriege. Wer den Hass kennt und die Hetze beherrscht, bekommt seinen Krieg.

      All diese Zusammenhänge kannte André, doch konnte er sie nicht auf den Punkt bringen. Man würde ihn als Schulmeister disqualifizieren, fürchtete er, vermutlich zu Recht.

      Warum, fragte er sich, gelang es ihm nicht, diesem dummen Geschwätz angemessen, inhaltlich korrekt, aber humorvoll und überzeugend zu begegnen? Hatte er durch all die Jahre die Schlagfertigkeit in seiner Muttersprache verloren? Konnte er mit diesen Leuten keinen gemeinsamen Nenner mehr finden? Er war doch zurückgekommen, um wieder in seiner Heimat zu leben, aber