Schweizer Tobak. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301005
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lenkte der an sich sehr misstrauische, aber letztlich auch für kleinere und grössere Geschenke empfängliche Amtsleiter für Auslandsaufenthalte ein.

      Es war eine Zitterpartie. Beinahe systematisch wurden im «Reich» unheilbar Kranke – Tuberkulöse galten mindestens als sehr schwer und selten heilbar – einer Heilstätte zugewiesen. In der Regel erhielten die Angehörigen nach kurzer Zeit die Mitteilung, die Patienten seien an den Folgen des Leidens gestorben. Nicht immer, aber hin und wieder und selbstverständlich nur für Nichtjuden waren andere Lösungen möglich.

      Sebastian musste in Kauf nehmen, dass sein für seine Tochter im «Reich» angespartes und noch immer dort liegendes Geld als Bürgschaft gesperrt wurde. Das war zwar unschön, aber zu verschmerzen.

      Im September, als die Amerikaner Frankreich befreiten, verbrachten Sebastians Enkel und seine Tochter die ersten Wochen in der neuen Heimat, in der deutschen Heimstätte von Davos. Die Wahl dieses Kurortes in Graubünden war für die Nazis unverdächtig. Während der Hitlerzeit galt die Stadt in den Bergen, vor allem seit dem Mord an Gauleiter Gustloff, als eine Drehscheibe deutscher Maulwürfe des Dritten Reichs.

      Als ob er seine letzte Kraft für diesen Vorgang verbraucht hätte, erkrankte Sebastian wenige Wochen nach der Ankunft seiner Lieben. Damit begann für ihn eine lange und nicht nur sehr schmerzhafte, sondern auch kostspielige Leidenszeit. Bedingt durch den damaligen Zeitgeist, aber auch durch seine Biographie hatte Sebastian keine in der Schweiz einsetzbare Krankenversicherung. Irma wurde sehr schnell klar, dass ihre Eltern an ihren Kosten in Davos ausbluteten. Sie brach ihren «Kuraufenthalt» in den Bergen kurzerhand ab und zog noch vor Weihnachten ins Haus am Heimberg über dem See. So konnte sie auch ihrer Mutter helfen, über den gesundheitlichen Zerfall ihres Mannes hinwegzukommen.

      Irma wollte arbeiten. Bei Brand-Cigars fand sich eine Stelle im Lohnbüro und ihre Mutter übernahm die Aufsicht auf die Kinder.

      Nach den Herbstferien besuchten Elisabeth und Konrad die reguläre Dorfschule. Die Grossmutter hütete zu Hause den noch nicht jährigen André, während Irma ihrer Arbeit nachging. Diese Arbeit war für sie erlösend, nicht nur, weil sie damit zu einem Einkommen kam, sondern auch, weil sie sich ablenken konnte und sie sich nicht dauernd mit der Katastrophe, die der scheussliche Krieg in ihr Leben gebracht hatte, auseinandersetzen musste.

      In einem Brief hatte sie versucht, ihrem Mann ihre Entscheidungen verständlich zu machen. Telefonate nach Deutschland waren beinahe unmöglich und wenn, wurden sie abgehört. Das wollte Irma nicht riskieren. Auch wurden sämtliche Briefe geöffnet, gelesen und nach Belieben zensiert oder gar konfisziert. Doch sie wählte einen unverfänglichen Text, sie schrieb, als wäre sie eine ehemalige Mitarbeiterin von Brand-Cigars, die sich an ihre Münchner Zeit erinnerte, von ihren Kindern erzählte und hoffte, ihn in besseren Zeiten besuchen zu können. Sie war überzeugt, ihr Mann würde, im Gegensatz zu den Zensoren, die wirkliche Botschaft verstehen.

      Sie hatte auf ihren Brief nie eine Antwort erhalten. Einen Monat später war ihr Vater gestorben und kurz danach erhielt sie die Nachricht vom schrecklichen Tod ihres Mannes und Vaters ihrer Kinder.

      Soviel wusste André. Er würde versuchen, mehr zu erfahren, nahm er sich vor.

      Das grosse Dorf hatte sich in den vergangenen 40 Jahren viel stärker verändert, als er dies in den ersten Tagen wahrgenommen hatte. An jeder Ecke waren neue Wohn- und Geschäftshäuser entstanden, vor allem auch im langgezogenen Zentrum des Dorfes entlang der Haupt- oder Durchfahrtsstrasse.

      Überall standen auch noch die kaum übersehbaren Fabrikgebäude der Tabakindustrie, zum Teil ordentlich instand gehalten, andere sahen eher etwas heruntergekommen oder mindestens vernachlässigt aus. Dies war ihm schon bei seinen ersten Streifzügen aufgefallen. Doch erst nach einigen Wochen begriff er, dass hinter den hohen Fenstern dieser Säle niemand mehr Zigarren wickelte. Zwar prangten an vielen Fassaden noch immer die Namen der einstigen Fabrikherren oder deren Marken, da und dort in messingglänzenden Lettern, doch die Räume dahinter wurden nun beispielsweise als Lager für alte Möbel genutzt.

      Wo waren die Hunderte und Aberhunderte von Arbeiterinnen und Arbeiter der Region hingegangen? Wovon lebten alle diese Leute jetzt?

      Doch das war noch nicht alles. Das Schmauchtal hatte auch Fabriken der Metallindustrie gehabt, in denen Profile, Bleche, Drähte und hochpräzise Drehbänke, Werkzeugmaschinen entstanden. Davon gab es nicht mehr viel. Tausende von Leuten, schätzte er, hatten in all diesen zum Teil riesigen Hallen und kleinen Fabriken gearbeitet. Jetzt standen sie scheinbar leer oder wurden nur noch zu einem kleinen Teil von wenigen Leuten genutzt. André erinnerte sich daran, als er als Sekundarschüler um die Mittagszeit nach Hause trödelte, wie während mehreren Minuten Hunderte von Arbeitern auf ihren durch den Fahrwind leise surrenden Fahrrädern an ihm vorbei zu ihren Mittagstischen pedalten. Es gab wenige Autos, einige Motorräder, doch um diese Mittagszeit und eine Stunde danach auf der Fahrt zurück in die Fabrik beherrschten die Fahrräder die Strasse.

      Jetzt gab es sie nicht mehr, die Männer auf ihren Rädern. Wovon lebten die Menschen jetzt? All diese Fragen beschäftigten André sehr.

      Im August reiste er für eine Woche an den Starnberger See zu seiner Schwester. Es galt, endlich die Erbschaft zu regeln. Die Mutter hinterliess zwar ein schuldenfreies Haus, aber darüber hinaus war nicht sehr viel geblieben. André würde also, um im Haus bleiben zu können, die Anteile seiner Schwester und Konrads Familie ausbezahlen und dabei Hypothekarschulden machen müssen. Darüber hatte er nie nachgedacht.

      Das alles hatte ihm der Anwalt Peter Gramper, den Elisabeth mit den Abklärungen beauftragt hatte, erläutert und dabei auch den Vorschlag gemacht, den Nachkommen in Brasilien zu raten, das Erbe in der Schweiz zu belassen, um es vor dem galoppierenden Zerfall der brasilianischen Währung zu schützen. So blieben die Erben in Brasilien Miteigentümer des Hauses und könnten beispielsweise den anfallenden jährlichen Mietzins problemlos in Brasilien einführen.

      Diese Idee gefiel auch Elisabeth für ihren Erbteil, umso mehr, als sie selbst keine Kinder hatte und das Geld für sich selbst nicht brauchte.

      Anfänglich machte sich André Sorgen, wie er diese Miete mit seiner Rente schaffen würde, doch seine Bank war zu seinem eigenen Erstaunen sehr offen, man würde ihm im Hinblick auf das völlig unbelastete Haus nötigenfalls das Geld für diese Zinsen für zwei Jahre vorschiessen und in der Zwischenzeit könne er sich nach einem Zusatzeinkommen umsehen.

      Zudem war André nicht mittellos. Miriam hatte ihm seinen Anteil an der gemeinsamen Wohnung ausbezahlt. Jetzt fehlte nur noch die Zusage aus Brasilien.

      Eduardo, Ines und Sonja waren nie von São Paulo weggezogen. Sie lebten nach wie vor bei Silvias Verwandten. Ines, die Ältere, hatte ein Handelsdiplom geschafft und arbeitete in der Niederlassung einer grossen amerikanischen Werbeagentur.

      Sonja besuchte das Lyzeum der katholischen Schule, die Elisabeth von ihrer einstigen Reise her kannte und wollte angeblich Lehrerin werden.

      Keines der drei Kinder dachte je daran, seine schweizerische Herkunft und Nationalität wahrzunehmen. Ihr verstorbener Vater war eine für sie unwirkliche Erinnerung und die Umstände seines Todes erschienen ihnen noch immer als tragisches, aber gleichzeitig in ihrer Welt nicht seltenes Schicksal. Niemand in der Sippe ihrer Mutter machte davon ein grosses Aufhebens und niemand hatte je weiter versucht, die Wahrheit über die Hintergründe oder gar den oder die Täter zu finden.

      Alle glaubten – oder mindestens schienen sie das zu glauben –, Konrad sei das Opfer einer bösen Organisation geworden und er hätte versucht, deren Machenschaften zu verhindern oder gar aufzudecken.

      Viele der Verwandten, vor allem die Frauen, sahen in allem einfach eine Fügung Gottes. Die Männer neigten eher zur Selbsthilfe, ohne jedoch, keinesfalls offen, an Gott zu zweifeln. Das alles erzählte Elisabeth auf Grund der bisher eingegangenen Briefe und Belege.

      André verbrachte ein paar gute Tage bei der alleinstehenden 70-jährigen Elisabeth. Sie bedauerte, keine Kinder und im Gegensatz zu Tante Helene auch keines adoptiert zu haben. Ihr Leben sei dazu zu unstet gewesen, meinte sie. Harald war sein Leben lang gereist und auch nach seiner Pensionierung antiken Ausgrabungen nachgegangen. Sie wollte nicht zu Hause auf ihn warten, also reiste