Schweizer Tobak. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301005
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Laden einige Lebensmittel, ging zurück ins Haus und begann dort zu leben – allein und ohne Eile.

      Er nahm sich vor, ein Fahrrad zu kaufen, damit die Zeit für die Einkäufe zu kürzen und Ausflüge dem See entlang und durch die Landschaft machen zu können.

      Die kommenden Tage verbrachte er mit ausgedehnten Wanderungen. Nach und nach erinnerte er sich an all die Wege, die er als Kind und Schüler gegangen war, an die kleinen Streiche, die er mit anderen Buben gespielt hatte.

      Es war Sommer, eine wunderbare Zeit. Weit weg von der Bruthitze der Grossstadt fühlte er sich befreit und voller Frieden. An einzelnen Stellen reichte der Wald vom Heimberg bis ans Seeufer. Da setzte er sich in den Schatten und liess seine Augen über die stille Wasserfläche gleiten, freute sich an der leichten Brise, und versuchte, sich an die kleinen Dörfer und Plätze am gegenüberliegenden Ufer zu erinnern.

      Seine gesamte Kindheit hatte er mit seiner Mutter, der Grossmutter und den für ihn damals so viel älteren Geschwistern hier über dem sich von Norden nach Süden ausdehnenden See und dem langgezogenen Dorf mit seinen Dutzenden von kleinen und grösseren Fabriken verbracht. Die diesseitigen angrenzenden Dörfer waren damals noch klar auszumachen, insbesondere zwischen Wirrwil und Kreuzach gab es diesen breiten, tiefen Graben, den er bei tiefem Wasserstand verbotenerweise mit anderen Jungen immer wieder durchwatete, nach Kröten oder gar Fröschen absuchte und in dem sie sich ab und zu mit den Buben aus Kreuzach heftig stritten. Die Kreuzacher Buben wirkten auf ihn immer etwas seltsam. Deren Kniehosen waren länger und sie mussten jeden Sonntag zur Kirche gehen. Das wusste er von Felix.

      Diese Kirche mit dem schönen Turm hatte den Jungen – damals hatten ihn alle Andreas gerufen – immer wieder angezogen, aber er gehörte nicht dazu, er war nicht katholisch. Die Kirche stand direkt neben der Fabrik, in der seine Mutter arbeitete und er ging daran vorbei, wenn er Tante Helene besuchte. Hin und wieder warf er einen Blick in die ihm seltsam fremde Welt der Katholischen.

      Während der Zeit der Sekundarschule hatten er und Felix’ jüngerer Bruder Peter ein Stück weit den gleichen Schulweg. Von ihm liess er sich die ewigen Wahrheiten und Geheimnisse der Papstkirche erklären. Peter glaubte an die Vergebung der Sünden, an die Verwandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut seines Erlösers und an Hölle, Fegefeuer und Himmel. Der Junge war so überzeugt, dass André begann, sich ernsthaft um sein eigenes Seelenheil Sorgen zu machen. Doch seine Mutter wies ihm ihren Weg, meinte, er sei ein Reformierter und schickte ihn in den Konfirmandenunterricht. Sie hielt nichts vom katholischen Tingeltangel. Der allmächtige Gott, zu dem man betete, und die Bibel als Anleitung zum anständigen Lebenswandel genügten. Der Pfarrer war nur zur genauen Erklärung des geschriebenen Wortes da und mehr brauche es nicht, sagte die Mutter.

      Inzwischen war nicht nur der Bach in Röhren begraben worden, vielleicht war auch der religiöse Graben mehr oder weniger zugeschüttet, und für die unterschiedliche Geschichte interessierten sich die jungen Leute kaum mehr.

      Alle wichtigen Leute in Andrés Kindheit waren Reformierte gewesen, auch die Brands, die Fabrikanten, die im katholischen Dorf wohnten und denen die dort einzige, aber sehr bedeutende Fabrik gehörte. Auch Tante Helene und Onkel Ernst wohnten da. Letzterer wurde als Reformierter und Direktor bei den Brands gar Gemeindepräsident. Das war so etwas wie ein Zeugnis katholischer Toleranz, oder hatte das vielleicht etwas mit Geld und Macht zu tun? Andrés Mutter Irma, Ernsts Schwester, verneinte vehement, aber nicht, weil sie an die katholische Toleranz glaubte, sondern an die ausserordentlichen Fähigkeiten ihres Bruders.

      André erinnerte sich genau. Als er diese Frage gestellt hatte, war er 16, er hatte seiner Meinung nach zu denken begonnen und besuchte das Gymnasium. Es war die Zeit, in der er viele Bücher las. Neben der ohnehin diktierten Pflichtlektüre interessierte ihn quer-beet jede Richtung, Brecht, Marcuse, Solschenizyn, Hemingway, Dostojewski, Tschechow, und dabei fand er zum Entsetzen seiner Mutter auch Zeit für die ersten Abenteuer mit Mädchen. Dabei war alles harmlos, Getändel und maximal Geschmuse, wenn›s hochkam. Ein uneheliches Kind wäre ein Unglück gewesen, eine Katastrophe, eine Schande, ein Grund, sich das Leben zu nehmen, mindestens für die junge Mutter. Um zu vermeiden, dass sie für diese Ungeheuerlichkeit in die Pflicht genommen würden, flohen junge Männer damals noch in die Fremdenlegion.

      Der tief empfundenen Kontrolle seiner Mutter war er erst als Student entgangen. Da hatte er in Bern seine Mansarde. Mit etwas Glück machte er ihr auch da keine Schande. Das war nicht so ganz einfach, es gab keine Pille, kaum Präservative, die jungen Frauen wussten über ihren eigenen Körper kaum Bescheid und er nicht viel mehr.

      Seither hatte er ein Leben gelebt und nun stand er wieder da, wo alles begonnen hatte. André lächelte vor sich hin. Zum ersten Mal seit langem.

      Hier war er zu Hause, das war seine Heimat, hier wollte er leben, bis die Natur sein Leben irgendwann beenden würde.

      Wo waren sie abgeblieben, die Menschen seiner Kindheit? In diesen ersten Tagen hatte er kaum jemanden getroffen, den er als Junge gekannt hatte. Hin und wieder begegnete er einem Gesicht, das ihn berührte, mit Zügen, die ihm nicht ganz fremd erschienen, doch er zögerte jeweils, anzuhalten und sich vorzustellen, nach dem Namen zu fragen. Er musste sich wieder daran gewöhnen, dass sich hier die Leute auf der Strasse grüssten, das hatte er vergessen. Anfänglich fühlte er sich dabei erkannt. Das war ein Irrtum. Eigentlich war es wunderbar, dass sich die Menschen grüssten. Trotzdem, er war ein Fremder geworden, niemand schien ihn zu kennen oder sich an ihn zu erinnern.

      Rund 40 Jahre waren vergangen, seit er die Mansarde in Bern bezogen hatte. Kein Wunder kannte ihn hier niemand mehr. Alle, die seine Kindheit geteilt hatten, gingen inzwischen ihre eigenen Wege, hatten Berufe erlernt, geheiratet, waren weggezogen, hatten Kinder bekommen, waren jetzt auch um die 60 Jahre alt und lebten wohl überwiegend in völlig veränderten Strukturen. Die Menschen, die in seiner Jugend Erwachsene gewesen waren, waren jetzt Greise oder verstorben. Die Heimat, in die er zurückgekommen war, war nicht mehr da. Darüber hatte André nicht nachgedacht, als er Paris verliess. Er hätte es wissen müssen.

      Die Lehrer, zu denen er in die Schule gegangen war, die damals noch mit dem Meerrohr paukten, gab es nicht mehr. Der Pfarrer, der ihn konfirmiert und auch vorwitzigen Mädchen Kopfnüsse verpasst hatte, war längst gestorben. Der Schulabwart, der einst den Schülern die Ohren langzog, wenn sie die Schuhe auf dem Teppich nicht sauber machten, war vor vielen Jahren in seinem Auto von der Killerbahn – so nannte man die an der Strasse entlangfahrende Eisenbahn – zerdrückt worden.

      Jetzt wollte er sich die Zeit nehmen und seine Kindheit neu entdecken, sich auch jenen Dingen widmen, die er bisher übersehen hatte. Aus lauter Verlegenheit hatte er sich vorläufig in seinem einstigen Zimmer eingenistet. Er wollte und konnte nicht in einem der anderen Betten schlafen.

      Seine Mutter hatte sein Zimmer kaum verändert. Auf den Regalen standen noch immer die Bücher, die ihn als Schüler gefesselt hatten, neben vielen anderen ein Dutzend Bände von Karl May, nur zwei, drei Bücher weiter, ein Zeitsprung in jeder Beziehung, das «Bildnis des Dorian Gray». Er nahm es vom Gestell, legte sich aufs Bett und begann zu lesen. Irgendwie kam es ihm vor, als ob auch ihm jetzt Ähnliches geschah. Da war die Jugend und das Leben nahm seinen Lauf, rasend schnell, und jetzt traf er sich in einem Spiegel mit dem alternden Mann, unausweichlich. So hart war ihm dies bisher nicht begegnet. Dieser Bruch mit seinem bisherigen Leben liess ihn in eine völlig neue Gegenwart fallen.

      Er schob alle Arbeiten wie Ein- und Umräumen vor sich her. Die Schränke waren noch immer voll von Kleidern und anderen Sachen seiner Mutter. Er mochte daran nicht rühren. Andererseits musste er nur wenig Dinge besorgen. Küchen-, Toiletten- und Bettwäsche lag, sorgfältig gebügelt, in Stapeln in den Regalen. Im Augenblick brauchte er sich nur um sein Essen zu kümmern.

      Dabei übersah er den seit dem Tod der Mutter wild wuchernden Garten. Er wollte ihn nicht sehen, er hatte Zeit und er versuchte, die Zeit anzuhalten, «reculer pour mieux sauter» fiel ihm ein.

      Bücherregale musste er beschaffen! Er hatte in Paris alle seine Bücher in Kisten verpackt und mit den wenigen anderen Sachen, die er nicht zurücklassen wollte, einem Spediteur übergeben. Der Gedanke liess ihn lächeln: Nicht was er mitnehmen, sondern was er nicht zurücklassen wollte, hatte er eingepackt, das war ein Unterschied. Das grosse Zimmer