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Ein häufig geführtes Argument der Kritiker einer Abschaffung des Performance Ratings ist, dass für die Bestimmung der Top-Performer und für ein leistungsorientiertes Vergütungssystem („pay for performance“) ein Performance Rating benötigt wird. Es ist jedoch hinreichend belegt, dass kein Manager, egal auf welchem Level in der Organisation, eine Benotung seiner Mitarbeiter benötigt, um seine Top-Performer zu identifizieren. Manager sind auch ohne das Vorhandensein von Ratings in der Lage, die Leistungsbeiträge ihrer Mitarbeiter zu bestimmen. Das ist keine Frage des Vorhandenseins irgendwelcher formaler Ratings oder Rankings, sondern hängt wesentlich davon ab, inwieweit der Manager in der Lage ist, kontinuierliche und tatsächlich bedeutsame Feedbackgespräche mit seinen Mitarbeitern zu führen. Dazu bedarf es auch keinerlei formaler Interim- oder Jahresendfeedback-Rituale. Vielmehr besteht bei einer unmittelbaren Verknüpfung von Performance Rating und leistungsbezogener Vergütung die Gefahr, dass der Performance Management Prozess von der Vergütungsthematik komplett vereinnahmt wird – anstatt das eigentliche Kernthema des Performance Management, nämlich das der Personalentwicklung, in den Vordergrund zu stellen.
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In aller Regel entsteht ein großer Druck auf die Führungskräfte, wenn Performance Rating und Vergütung unmittelbar miteinander verknüpft sind. Dies resultiert dann in einer entsprechend rechtsschiefen Verteilung der Beurteilungen im Performance Management. In der oben genannten Studie korrelierte die positive Einschätzung der eigenen Bonuspläne als motivierend (Pläne transparent und nachvollziehbar ausgestaltet – variabler Anteil an der Gesamtvergütung wird als adäquat angesehen) jeweils mit einer Rechtsverschiebung der Leistungsbeurteilungskurven in den betreffenden Unternehmen. Hier spielen „Beurteilungstendenzen“ eine Rolle (Ausstrahlungseffekt, Mildefehler/Beschönigungstendenz, mangelnde Differenzierung/Tendenz zur Mitte; Sympathie-/Antipathie-Effekte; Recency-Effekt/letzter Eindruck). Beurteilungen tendieren in der Summe über den Zeitablauf, immer besser zu werden. „Gegenmittel“ wie strikte Vorgaben (etwa von Verteilungsspielräumen im Sinne einer Normalverteilung – die sogenannte Forced Distribution oder das Bilden von Rangreihen der Top-Performer, und das Verschieben der letzt-gerankten Mitarbeiter in die jeweils untere Kategorie – das sog. Forced Ranking) konterkarieren sämtliche Ziele der leistungsbezogenen Vergütung und bestrafen insbesondere Mitarbeiter mit tatsächlichen Top-Leistungen in leistungsstarken Teams.
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Die zentrale Frage ist, wie kann in der Praxis nach wie vor eine leistungsorientierte Vergabe von Boni oder Gehaltserhöhungsbudgets sichergestellt werden, wenn den Führungskräften das gewohnte Instrument eines Performance Rating weggenommen wird. Wesentliche Voraussetzung für eine differenzierte Vergütung und für eine Gewährleistung von Transparenz über das gesamte Jahr ist ein entsprechendes „enablement“ der Führungskräfte. Dabei darf der potenzielle Widerstand gerade in der Linie gegen eine Ablösung des Performance Ratings und gegenüber Änderungen im Performance Management im Allgemeinen nicht unterschätzt werden. Jüngste Studien zeigen, dass das Linienmanagement der positiven Einschätzung seitens der Personalverantwortlichen hinsichtlich der positiven Effekte einer Neugestaltung des Performance Management-Ansatzes häufig nicht folgt.22 Wie bei allen Veränderungsprozessen muss also zuallererst ein Sponsor auf der höchsten Unternehmensebene gefunden werden, der die angestrebten Ziele unterstützt.
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Einige Unternehmen, die sich von einem Performance Rating verabschiedet haben, tendieren dazu, ein substituierendes Ranking etwa für die Entscheidung über die Vergabe von Gehaltserhöhungen einzuführen. Dies erscheint geradezu paradox und führt gegebenenfalls zu einer Verstärkung der beschriebenen potenziellen negativen Folgen eines klassischen Rating-Ansatzes. Vielmehr sind die Führungskräfte in die Verantwortung zu nehmen und gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass sie in der Lage sind, ihre Entscheidungen gegenüber den Mitarbeitern zu begründen. Der Kernpunkt eines neu gestalteten, ganzheitlichen Performance Management muss somit die Sicherstellung eines kontinuierlichen Dialogs zwischen Führungskraft und Mitarbeiter sein. Gegenseitiges Feedback zu den vereinbarten Leistungszielen, deren ständige kritische Überprüfung und das gemeinsame Identifizieren von Möglichkeiten zur Leistungsverbesserung muss Bestandteil der täglichen Arbeit werden und nicht Teil einer separaten Unterhaltung zwischen Manager und Mitarbeiter.23 Damit wird zugleich die Vergangenheitsorientierung der üblichen Performance-Bewertung überwunden.
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Der kontinuierliche Dialog sollte mit einer entsprechenden IT-Lösung unterstützt werden, die den Anforderungen mobiler Endgeräte und der Cloud gerecht wird. Dabei werden „Check-ins“ und auch „Check-outs“ angeboten, die etwa bei Erreichen eines spezifischen Projekt-Meilensteins oder Abschluss eines vereinbarten Ziels die Dokumentation einer entsprechenden ganzheitlichen Beurteilung zulässt. Auf diese wird zum Zeitpunkt der Gehaltsrunde oder der Bonusvergabe zurückgegriffen, wenn der Manager aufgefordert ist, über eine holistische Bewertung des „Was“ und des „Wie“ aller vereinbarten Ziele und Anforderungen aus der Position und unter Berücksichtigung der vorhandenen Budgets, im Falle der Gehaltsrunde auch unter Berücksichtigung der relativen Lage der aktuellen Vergütung des Mitarbeiters, Entscheidungen zu treffen. Das im Tool dokumentierte Feedback und insbesondere die „Check-outs“ können gleichsam auch in Kalibrierungsrunden eingehen, wenn es darum geht, unabhängig von Gehaltsentscheidungen Top-Talente zu identifizieren. Gleichsam gewährleistet dieser Prozess Transparenz, der Mitarbeiter weiß wo er steht und Überraschungen am Jahresende werden vermieden.
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Potenzielle Risiken wie Transparenzverlust und ein geringerer Grad an Differenzierung („Tendenz zur Mitte“) bei der Vergabe von Budgets für Boni oder Gehaltserhöhungen sind zu antizipieren. Auch werden hierdurch weniger Möglichkeiten bestehen, den direkten Zusammenhang von Leistung und Entlohnung zu analysieren. Hier müssen den Managern etwa in der Gehaltsrunde über das Gehaltsplanungstool Reports in „real time“ angeboten werden, mit denen der Differenzierungsgrad bei der Budgetvergabe über die gesamten Berichtslinien analysiert werden kann. Begleitende Kalibrierungsmeetings auf den einzelnen Führungsebenen während der Budgetvergabezyklen können unterstützen, um Schiefstände in der Vergabe ex ante zu vermeiden.
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Kritikern, die behaupten, der Wegfall des Performance Rating führe bei Gehalt und Bonus zu Schiefständen, Intransparenz und resultierend daraus zu Ungleichbehandlungen, sei entgegengehalten, dass gerade durch die Verwendung von Ratings einer Scheintransparenz Vorschub geleistet wird. Beim Rating wird sich in aller Regel auf ein scheinbar quantifizierbares Konstrukt verlassen, das in den wenigsten Fällen Rückschlüsse erlaubt, welche Kriterien im Einzelnen in das Rating eingegangen sind. Wird stattdessen über den kontinuierlichen Dialog sichergestellt, dass die Mitarbeiter ein differenziertes und effektives Feedback erhalten, erzeugt dies geradezu zwangsläufig Transparenz. Der häufig erhobene Einwand, dass Manager ohne Bezug zu Rankings oder Ratings nicht in der Lage sind, leistungsbezogene Entscheidungen zu treffen, irritiert. Das Abschaffen von Performance Ratings meint nicht zwangsläufig die Bedeutung von Leistung als die wesentliche Bezugsgröße in Abrede zu stellen. Vielmehr rückt gerade im Konzept des kontinuierlichen Dialogs der Leistungsaspekt in den Vordergrund.24