Auch nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandvertrages gingen die revolutionären Wirren weiter. Nachdem am 1. Januar 1919 die KPD gegründet wurde, kam es zu Straßenkämpfen in Berlin („Spartakus-Aufstand“). Noch bis in den Mai sollten immer wieder Unruhen im Reichsgebiet auflammen. Radikallinke Gruppen versuchten in mehreren Städten Räteregierungen nach sowjetischem Vorbild zu etablieren. Diese Versuche wurden mit der Einwilligung der Regierung von den neu aufgestellten nationalistischen Freikorps niedergeworfen.
Im Januar 1919 wurde eine Nationalversammlung gewählt. Es kam eine Dreiviertelmehrheit für die parlamentarische Demokratie zustande. Eine Koalition aus SPD, Zentrum und der liberalen DDP unter Philipp Scheidemann übernahm die Regierung. Friedrich Ebert (SPD) wurde zum Reichspräsidenten gewählt. Die Parteien, die im Kaiserreich die Opposition gebildet hatten, bildeten die „Weimarer Koalition“ und regierten nun das Land.
Das Frauenwahlrecht, der Acht-Stunden-Tag und Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften wurden eingeführt und damit zum Teil jahrzehntelange Forderungen der politischen Linken erfüllt. Den gewaltsamen Wirren bei ihrer Entstehung zum Trotz, bot die neue deutsche Republik eine Chance für die soziale Weiterentwicklung der Gesellschaft.
Auch Robert Scholl stellte sich in den Dienst des gesellschaftlichen Fortschritts. In Forchtenberg trat er 1920 sein Amt als Bürgermeister an. Seine älteste Tochter, Inge Scholl, schreibt über diese Zeit:
„Das beschauliche Städtchen im Kochertal, in dem wir unsere Kindertage verbrachten, schien von der großen Welt vergessen. Die einzige Verbindung mit dieser Welt war eine gelbe Postkutsche, die die Bewohner in langer, rumpelnder Fahrt zur Bahnstation brachte.“11
In dieser Weltabgeschiedenheit bekam das Ehepaar Scholl vier weitere Kinder: Elisabeth (geb. 1920), Sophie (geb. 1921), Werner (geb. 1922) und Thilda, die 1925 geboren wurde, aber bereits im folgenden Jahr starb. Trotz dieses Schicksalsschlages erlebten sie eine schöne Kindheit. Inge Scholl schreibt darüber:
„Uns aber erschien die Welt dieses Städtchens nicht klein, sondern weit und groß und herrlich. Wir hatten auch bald begriffen, dass sie am Horizont, wo die Sonne auf- und unterging, noch lange nicht zu Ende war.“12
Das Verhältnis der Geschwister war sehr eng, auch weil die Kinder mit einem geringen zeitlichen Abstand voneinander geboren waren. Elisabeth Scholl meint dazu:
„Von klein auf waren wir eine Freundesgruppe, wir waren nicht auf andere angewiesen.“13
Diese enge Bindung sollten die Geschwister ein Leben lang beibehalten, ja sie ging sogar noch über den Tod hinaus. Neben dem geringen Altersunterschied mag auch die besondere Stellung der Scholl-Kinder dazu beigetragen haben. Als die Kinder des Bürgermeisters waren sie privilegiert in der engen Welt der kleinen Stadt. Und noch einen Unterschied gab es zu den anderen Kindern des Städtchens: Robert Scholl legte sehr großen Wert auf Bildung. Im Haushalt der Scholls wurde musiziert, die Kinder wurden spielerisch an die Kunst und an die Literatur herangeführt. Die Künste wurden ein fester Bestandteil ihres Lebens.
In der Familie wurde ein offener Umgangston gepflegt. Susanne Zeller-Hirzel, eine Freundin und spätere Mitkämpferin Sophie Scholls, schildert Robert Scholl so:
„[Er] war ein hochgewachsener, temperamentvoller Herr, der ungeniert seine Meinung sagte. Gerechtigkeit und Anstand waren für ihn höchste Werte.“14
Magdalena Scholl hielt sich eher zurück. Ihrem Wesen nach bescheiden und fromm war sie „der stille, gute Geist der Familie“.15 Das Streben nach Gerechtigkeit und Anstand haben später Hans und Sophie zum Handeln gegen den Nationalsozialismus veranlasst. Dabei half ihnen der Wahlspruch ihres Vaters. Er stammt von Goethe: „Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten“.
In jenem Goethegedicht, das aus dem Singspiel Lila von 1777 stammt, heißt es unter anderem:
„Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten
Nimmer sich beugen
Kräftig sich zeigen
Rufet die Arme
Der Götter herbei.“
Dieses Hohelied auf den persönlichen Mut, auf Unbeugsamkeit und Selbstbewusstsein half der Familie durch die Zeit der Verfolgung. Elisabeth Scholl berichtet, dass das Goethewort ihnen in den dunkelsten Stunden nationalsozialistischer Hetze Zuversicht schenken konnte. Hans Scholl schrieb den Wahlspruch der Familie unmittelbar vor seiner Hinrichtung an die Zellenwand.
Auch in Forchtenberg eckte Robert Scholl mit seinen damals neumodischen Ideen an. Aber immerhin gelang es ihm, „in zähe[m] Kampf gegen manchen Bauernschädel“16, durchzusetzen, dass der Ort einen Eisenbahnanschluss und eine Kanalisation bekam.
Als Forchtenberg in der Mitte der 1920-er Jahre an den Errungenschaften der Moderne teilhaben konnte, war es gelungen, die Republik zu stabilisieren. Es war die Zeit der „Goldenen Zwanziger“.
Vorausgegangen war eine Phase der Krisen. Bei den Friedensverhandlungen 1919 in Versailles wurde dem Deutschen Reich die alleinige Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges gegeben. Die deutschen Unterhändler wurden durch ein Ultimatum der Siegermächte gezwungen, die harten Friedensbedingungen zu akzeptieren.
Das Deutsche Reich musste sein Kolonialreich und einige Gebiete wie Elsass-Lothringen abtreten, vor allem aber hohe Reparationen an Geld und Sachlieferungen leisten. Im Januar 1921 wurde festgelegt, dass es innerhalb von 42 Jahren 226 Milliarden Goldmark und 12% seiner Exporteinnahmen17 an die Siegermächte zu zahlen hatte. Außerdem wurde die Armee, der Stolz des Kaiserreiches, auf 100 000 Mann verkleinert. Die deutsche Armee sollte nicht mehr über moderne Waffen wie Flugzeuge, Panzer und U-Boote verfügen dürfen. Deutschland sollte niemals wieder einen Krieg beginnen können.
Die Haltung der Siegermächte zur Schuldfrage zeigte sich beispielsweise in der symbolischen Gestaltung der Soldatenfriedhöfe. Die alliierten Gefallenen bekamen weiße Kreuze und Grabsteine. Sie waren die unschuldigen Opfer des Krieges. Die deutschen Gefallenen sollten aber unter schwarzen Grabkreuzen ruhen. In den Augen der Sieger waren sie die Aggressoren, die für eine böse Sache gekämpft hatten.
Die harten Friedensbedingungen, vor allem aber die Kriegsschuldfrage, brachten weite Teile der Bevölkerung gegen die Republik auf. Die deutsche Kriegspropaganda hatte vier Jahre lang behauptet, dass das deutsche Volk seine einzigartige Kultur vor dem Neid der Feinde verteidigen musste. Die Deutschen hatten glauben sollen, dass das Reich einen gerechten Verteidigungskrieg führte.
Französische und belgische Truppen besetzten das Ruhrgebiet, um den Forderungen der Siegermächte Nachdruck zu verleihen. Die demokratischen Politiker riefen zum passiven Widerstand auf. Wegen des militärischen Drucks der Alliierten blieb ihnen bald nichts anderes übrig, als auf die Forderungen einzugehen. Sie wurden deshalb