Und diese Flugblätter verbreiteten sich schnell. Immer wieder liefen Meldungen bei der Münchener Geheimen Staatspolizei ein, dass auch in anderen Städten Süddeutschlands und in Österreich diese Flugblätter bei den Polizeibehörden abgegeben worden waren; einmal sogar in Hamburg.
Am 4. Februar 1943 starteten die Polizeibehörden eine Großfahndung. Beteiligt waren die Münchener Gestapo, aber auch Kriminal- und Ordnungspolizei. Der Polizeichef, Oberregierungsrat Schäfer, beauftragte zwischen dem 5. und 11. Februar 19431 den erfahrenen Kriminalbeamten Robert Mohr damit, den oder die Urheber schnell und möglichst diskret ausfindig zu machen. Mohr sollte „diese Affäre zu Ende bringen“.2
Inhaber von Hotels, Gaststätten und anderen öffentlichen Einrichtungen wurden zur Mitarbeit aufgefordert. Die Spezialisten der neu eingerichteten Gestapo-Sonderkommission fanden schnell heraus, dass alle Flugblätter auf derselben Schreibmaschine geschrieben wurden und in Massen mit der Post in andere Städte verschickt worden waren. Die Empfänger waren augenscheinlich nach dem Zufallsprinzip ausgewählt worden. Die Versender hofften offenbar, dass manche ihrer Flugblätter bei Regimegegnern landen würden, die dann für die weitere Verbreitung sorgen würden.
Weil sich die Postsendungen größtenteils an Akademiker richteten, gingen die Ermittler davon aus, dass sich die Versender im Umfeld der Münchener Universität befinden mussten.
Die Münchener Universität befand sich schon seit einigen Wochen in Aufruhr. Am 13. Januar 1943 hatte der bayerische Gauleiter Paul Giesler in einer rüpelhaften Festrede zur 470-Jahr-Feier der Ludwig-Maximilians-Universität besonders die Studentinnen beleidigt. Er forderte sie auf, doch lieber „dem Führer ein Kind zu schenken“, statt an der Universität zu lernen. Den „weniger Hübschen“ versprach er zynisch, seine Adjutanten vorbei zu schicken, um ihnen „ein erfreuliches Erlebnis“3 zu bereiten.
Die Studenten waren gezwungen worden, sich diese Suada anzuhören. Sie mussten in den Festsaal kommen, um einen Stempel in ihrem Studentenausweis zu erhalten. Ohne diesen Stempel sollte man im kommenden Semester nicht weiterstudieren dürfen.
Als die Studentinnen daraufhin erbost den Festsaal verließen, wurden sie an den Ausgängen von SA und Polizeikräften in Empfang genommen, die versuchten, die jungen Frauen in Gewahrsam zu nehmen. Ein Teil von ihnen wurde aber kurz darauf von ihren Kommilitonen, die fast alle Soldaten waren und deshalb der in diesem Falle liberaleren Militärgerichtsbarkeit unterstanden, in einer Art Kommandounternehmung befreit. Der Rest wurde zur Gestapo-Zentrale gebracht. Dort wurden ihre Personalien aufgenommen. Sonst geschah ihnen nichts und kurze Zeit später ließ man sie wieder laufen. Durch diese Aktion hatten die Polizeibehörden einen großen Bestand persönlicher Daten von potentiell regimekritischen Frauen erhalten.
Nach diesem Skandal, der nur mühsam von der gleichgeschalteten Presse unterdrückt werden konnte, wurden an drei folgenden Nächten in München Mauern und Wände mit der Parole „Nieder mit Hitler!“ beschrieben. Die gleichen Täter schrieben außerdem mit großen Lettern „Freiheit!“ an die Münchener Universität.
Ein Regime, das zwar permanent von Freiheit redete, aber jede Opposition unterdrückte, und das sogar den von ihm initiierten Eroberungskrieg „Großdeutschen Freiheitskampf“ nannte, konnte diesen Gebrauch des Wortes „Freiheit“ nicht dulden. Ab dem 9. Februar 1943 wurde die Münchener Universität von der Gestapo beobachtet. Außerdem beauftragte die Sonderkommission den regimetreuen Münchener Altphilologen Prof. Harder mit einer sprachwissenschaftlichen Analyse der ihnen vorliegenden Pamphlete. Harder sollte als eine Art Profiler ein Persönlichkeitsbild des mysteriösen Verfassers erstellen. An diesem Vorgehen kann man erkennen, wie wichtig es für die NS-Behörden war, den oder die Urheber der Flugschriften zu fassen. Der Leiter der Gestapo-Sonderkomission, Robert Mohr, sagte nach dem Krieg aus, dass die Flugblattaktion in „höchsten Stellen von Staat und Partei Beunruhigung und Aufsehen“4 hervorgerufen hatte. Ein Regime, das die Welt dominieren wollte, hatte Angst vor ein paar regimekritischen Flugblättern.
Am 18. Februar 1943, gegen 10:30 Uhr, betrat der 24-jährige Sanitäts-Feldwebel Hans Scholl den Lichthof der Münchner Universität. Er war für die Dauer des Semesters zum Studium freigestellt worden, um sich auf seine Examina vorzubereiten. Ihn begleitete seine 21-jährige Schwester Sophie, die in München Biologie und Philosophie studierte. Sie hatten in einem Koffer die von der Polizei gesuchten regimekritischen Flugblätter dabei, die sie für die Vorlesungspause auslegen wollten.
Hans Scholl war der Kopf einer Widerstandsgruppe, die ihre ersten Flugblätter mit „Weiße Rose“ unterzeichnet hatte. Zusammen mit seinem Freund, dem Medizinstudenten und Sanitäts-Feldwebel Alexander Schmorell, hatte er die ersten Flugblätter der Gruppe geschrieben, vervielfältigt und verteilt. Zu ihrer Gruppe stießen im Laufe des Jahres 1942 noch Willi Graf, ebenfalls Medizinstudent und Soldat, und der Philosophieprofessor Kurt Huber. Und noch ein weiterer Medizinstudent, Christoph Probst, der ein enger Freund Alexander Schmorells war, schloss sich dem Kreis an. Da er aber bereits verheiratet war und seine Frau das dritte Kind erwartete, versuchten die Freunde, ihn zu schützen. Er sollte möglichst wenig über die gefährlichen Aktivitäten der anderen erfahren. Außerdem diente er nicht in München, sondern in Innsbruck. Dort war er ebenfalls Sanitätssoldat, allerdings bei der Luftwaffe. Seit dem Sommer 1942 wusste auch Sophie Scholl Bescheid über das illegale und lebensgefährliche Engagement ihres Bruders. Er hatte seine Widerstandsarbeit nicht mehr vor seiner Schwester verbergen können. Da sie den Krieg und den Nationalsozialismus hasste, war es für sie keine Frage, ihren Bruder bei seinem Kampf zu unterstützen.
Die ersten Flugblätter wandten sich mit ihrem gelehrt wirkenden, apokalyptischen Stil direkt an junge Intellektuelle. Deshalb war ihre Wirkung größtenteils nur auf ein akademisches Umfeld beschränkt.
Auf Anregung von Prof. Huber sollten sich die weiteren Flugblätter an größere Kreise wenden. So war das fünfte Flugblatt mit einem „Aufruf an alle Deutsche!“ überschrieben und im Namen der „Widerstandsbewegung“ verfasst. Das sechste Flugblatt, das Hans und Sophie Scholl an diesem Morgen auslegen wollten, richtete sich nach dem Skandal an der Hochschule an ihre „Kommilitonen! Kommilitoninnen!“.
Gleich zu Beginn wird darin in flammenden Sätzen an den Untergang der 6. Armee in Stalingrad erinnert, für den Hitler verantwortlich gemacht wurde: „Führer, wir danken dir!“, heißt es dazu bitter.
Und in der Tat, die Vernichtung der 6. Armee bedeutete einen weiteren schweren Schlag für die deutsche Kriegsführung. Der verlustreiche Russland-Feldzug der letzten beiden Jahre hatte die Kräfte der Wehrmacht erschöpft. Ein Sieg rückte in immer weitere Ferne. Die verheerenden Nachrichten aus Russland erinnerten manchen geschichtsbewussten Zeitgenossen an Napoleons fatalen Marsch auf Moskau.
Bis zu dieser Schlacht hatte eine Pattsituation auf dem europäischen Kriegsschauplatz geherrscht. Das „Dritte Reich“ hatte im Sommer 1941 die Sowjetunion überfallen. Im Winter war die deutsche Offensive vor Moskau zusammengebrochen. Nur unter großen Mühen war es der deutschen Armeeführung gelungen, die Front zu stabilisieren und die im Sommer eroberten Gebiete zu halten. Im Folgejahr richtete sich das Augenmerk des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) auf den Süden der Sowjetunion. Die deutschen Truppen sollten über den Don und die Wolga bis in die Industriemetropole Stalingrad und weiter in den Kaukasus vorstoßen, um die russischen Ölfelder zu besetzen und die sowjetische Kriegsmaschine von ihrer Rohstoffbasis abzuschneiden (Fall Blau).
Stalingrad, an der Wolga gelegen, sollte zum Symbol des Sieges über den Bolschewismus werden. Die 500 000-Einwohner-Stadt war ein Zentrum der sowjetischen Schwerindustrie, etwa 20 % der russischen Panzer, vor allem das gefürchtete Modell T-34, wurden in ihrem berühmten Traktorenwerk hergestellt.
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