Nach der Katastrophe von Stalingrad und dem Verlust von mehr als 350 000 Mann im Laufe des Jahres 1942 war die Wehrmacht empfindlich geschwächt.
Im Sommer 1943 versuchte sie mit neu aufgestellten Truppen unter dem Namen „Operation Zitadelle“ eine letzte Offensive an der Ostfront. Doch auch dieser Angriff scheiterte. Die große Panzerschlacht bei Kursk musste die Wehrmacht abbrechen, um einer verheerenden Niederlage zu entgehen.
Danach begann der verzweifelte Widerstand der Wehrmacht gegen die immer stärker werdende Rote Armee. Am 22. Juni 1944, dem dritten Jahrestag von Hitlers Überfall auf die Sowjetunion, begann die sowjetische Großoffensive. Die Heeresgruppe Mitte brach zusammen. In atemberaubender Geschwindigkeit eroberten die sowjetischen Truppen die von Deutschen besetzten Gebiete zurück und stießen gegen das Deutsche Reich vor. Der Abwehrkampf endete schließlich am 8. Mai 1945 vor den Ruinen von Hitlers Reichskanzlei im zerstörten Berlin.
Das Flugblatt der Geschwister Scholl wollte dem Versuch entgegenwirken, das Desaster von Stalingrad propagandistisch auszuschlachten. Die Katastrophe sollte eine Katastrophe genannt werden dürfen.
Nach Ansicht der NS-Machthaber war dieses Verhalten Hochverrat. Die Strafe dafür war der Tod. Den Geschwistern Scholl war klar, dass sie sich durch ihr Tun in Lebensgefahr brachten. Deshalb bleibt ihr Verhalten an diesem Tage rätselhaft.
Es gelang ihnen, den größten Teil der Flugblätter an Fenstersimsen und auf Treppenabsätzen zu verteilen. Sie konnten danach ungesehen auf die Straße flüchten. Doch dann gingen sie in den Lichthof der Universität zurück, um die noch übrig gebliebenen Flugblätter zu verteilen. In einer spektakulären Aktion wollten sie die Blätter von der oberen Balustrade hinab segeln lassen.
Dabei wurden sie von dem Hausmeister Jakob Schmied beobachtet. Schmied war überzeugter Nationalsozialist. Er stürmte die Treppen hinauf und nahm die beiden Geschwister vorläufig in Gewahrsam. Von der herbeigerufenen Gestapo wurden sie kurze Zeit später festgenommen.
Sie ließen sich ohne Widerstand abführen. Robert Mohr leitete von nun an die Verhöre und die polizeiliche Untersuchung.
Am gleichen Abend, an dem Hans und Sophie Scholl mit den Verhörspezialisten der Gestapo um ihr Leben und um das Leben und die Freiheit ihrer Mitverschwörer rangen, ließ Dr. Joseph Goebbels, der den absurden Titel „Minister für Volksaufklärung und Propaganda“ führte, im Berliner Sportpalast eine Großveranstaltung inszenieren, die von allen deutschen Rundfunkstationen übertragen und von der NS-Wochenschau gefilmt wurde.
Mit dieser berüchtigten Veranstaltung, die unter dem Motto „Totaler Krieg – kürzester Krieg“ stand, lieferte er sein demagogisches Meisterstück ab. Sie sollte einer „Angstpsychose in der Bevölkerung“ entgegenwirken, die eine „stark beeinträchtigte Siegeszuversicht“8 nach sich zog, wie es in einem SS-Bericht hieß.
Zum Abschluss einer rhetorisch genau durchgeplanten Rede stellte er den Zuhörern im Saal und damit dem deutschen Volk die Frage „Wollt ihr den totalen Krieg?“, die von der aufgepeitschten Masse mit einem enthusiastischen „Ja“ und mit nicht enden wollenden Sieg-Heil-Rufen beantwortet wurde.
Am Ende dieses schicksalhaften 18. Januar 1943, im Angesicht der Katastrophe von Stalingrad, konnten die Nationalsozialisten noch einmal einen doppelten Sieg feiern: Eine bedeutende Stimme des Widerstands wurde zum Schweigen gebracht und die nationalsozialistische Führung hatte sich die Legitimation erschlichen, ihren Krieg mit noch rücksichtloserer Härte – auch gegen das eigene Volk – führen zu können.
Drei Tage lang herrschte Staatstrauer im „Großdeutsehcn Reich“. Dann erklärte die NS-Führung, dass die Stalingrad-Krise überwunden sei. Die Toten wurden abgeschrieben. Mit der nun anlaufenden und im Volksmund so genannten „Operation Heldenklau“, der „Auskämmung“ von Verwaltungsstellen für den Dienst in der Wehrmacht, sollten die Lücken geschlossen werden. Angehörige der Hitlerjugend, die älter als 15 Jahre waren, wurden als „Flakhelfer“ in den Luftkrieg geschickt, damit weitere Erwachsene als Soldaten an die russische Front geworfen werden konnten.
Der aussichtslos gewordene Krieg, der nur noch das Morden und Rauben im Namen des Nationalsozialismus verlängerte, konnte erst einmal ungehindert fortgesetzt werden.
1 Sönke Zankel: Die Weiße Rose war nur der Anfang. Köln 2006, S. 122f.; zit. als Zankel.
2 A. E. Dumbach/J. Newborn: Die Geschichte der Weißen Rose. Freiburg im Breisgau 1994, S. 184; zit.als Dumbach/Newborn.
3 Harald Steffahn: Die Weiße Rose. Reinbek bei Hamburg 1992. S. 100; zit.als Steffahn.
4 Michael C. Schneider/Winfried Süß: Keine Volksgenossen. Der Widerstand der Weißen Rose. München 1993, S. 33; zit.als Schneider/Süß.
5 Hitler hatte einmal gesagt, mit der 6. Armee könnte er den Himmel erobern.
6 Sophie Scholl/Fritz Hartnagel: Damit wir uns nicht verlieren. Briefwechsel 1937-43. Hrsg. von Thomas Hartnagel, Frankfurt am Main 2005, S. 445; zit. als Hartnagel.
7 Joachim Fest: Hitler. Frankfurt am Main – Berlin 1987, S. 909; zit. als Fest.
8 Wolfgang Benz: Geschichte des Dritten Reiches. Bonn 2008, S. 193; zit. als Benz.
Eine ungewöhnliche
Familie in einer
bewegten Zeit
Hans Scholl wurde 1918, zum Ende des Ersten Weltkriegs geboren; seine jüngste Schwester Sophie 1921, als die Folgen der Niederlage für das deutsche Volk immer stärker spürbar wurden. Sie gehörten jenen unglücklichen Jahrgängen an, deren Leben gleich von zwei Weltkriegen überschattet wurde. Die „Urkatastrophe“ des Zwanzigsten Jahrhunderts stand auch am Beginn ihres Lebens.
Fast die Hälfte aller deutschen Männer zwischen 15 und 60 Jahren waren im Ersten Weltkrieg Soldaten oder dienstverpflichtet. Einer von ihnen war der 1891 geborene Robert Scholl. Er entstammte einer Bauernfamilie und hatte nach der Mittleren Reife die Verwaltungsfachschule in Stuttgart besucht. Als der Krieg 1914 ausbrach, hatte ihn der nationale Taumel, der weite Teile des Bürgertums erfasst hatte, nicht angesteckt. Er war ein Kriegsgegner in einer militaristischen Zeit.
Als er gleich zu Beginn des Krieges eingezogen wurde und zum Infanteristen ausgebildet werden sollte, verweigerte er den Dienst an der Waffe. Pazifisten konnten im Kaiserreich zu Sanitätssoldaten ausgebildet werden. Robert Scholl musste allerdings wegen zivilen Ungehorsams einen im Sinne der Zeit wenig ruhmreichen Strafdienst in einem Ludwigsburger Lazarett ableisten.
1915 lernte er Magdalena Müller kennen, die dort als Krankenschwester arbeitete. Magdalena Müller war 1881 geboren. Die tiefgläubige evangelische Christin trat 1904 den Diakonissen bei und wurde 1909, nach ihrer Ausbildung zur Krankenpflegerin, in Schwäbisch Hall eingesegnet. In der Folgezeit arbeitete sie als „Schwester Lina“9 in der Gemeindekrankenpflege, bis auch sie Verwundete pflegen musste.
Im Oktober 1916 trat Magdalena Müller aus der Diakonissengemeinschaft aus. Einen Monat