Asklepios. Charlotte Charonne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charlotte Charonne
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783946734703
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sowie eine Insulinflasche. Er zückte das Handy und wählte den Notruf.

      „Hier spricht Doktor Paul Hofmann“, meldete er sich und gab seine Adresse durch. „Insulinvergiftung. Koma. Bitte schicken Sie sofort einen Krankenwagen.“

      Eine Woche später wurde Sophie in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie eingewiesen.

Teil 2

      Kapitel 8

      Fünfzehn Jahre später

      Sie drehte den Schlüssel im Schloss, drückte die Klinke herunter und betrat den Kellerraum, der sich über die Jahre in einen chirurgischen Bereich verwandelt hatte. Der Geruch von Desinfektionsmittel begrüßte sie. Sie legte die sterilen, in Plastikfolie eingeschweißten Laken auf dem Seziertisch ab. Ihr Patient würde bald eintreffen.

      Er hatte ihr Leben gekreuzt wie ein unachtsamer Ellenbogen eine Glasvase, die durch den Schubs ins Wanken gerät, fällt und zerbricht. Sie hatte schließlich die Scherben und Splitter aufgesammelt und zusammengeleimt. Die sichtbaren Risse waren jedoch geblieben. Als Kitt hatte sie süße, klebrige Rachefantasien verwendet.

      Der Keller in der alten Villa war Stück für Stück in einen perfekten Operationsraum verwandelt worden. Die dort gestapelten zahlreichen Kisten und Tüten mit Gegenständen, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr gebraucht wurden und aller Voraussicht nach auch niemals mehr Verwendung finden würden, wurden aus dem Haus geschafft. Meter für Meter wurde die Fläche von dem alten Tand befreit und Platz für Neues geschaffen: Alte, verstaubte Möbelstücke fanden ihren Weg zum Sperrmüll. Sie wurden von Koffern und Säcken, die mit ausrangierter Kleidung vollgestopft waren, begleitet. Morsche Gartenmöbel, Packen alter Zeitschriften, Küchengeräte, die der Fortschritt längst überholt hatte, und Krempelkisten, die mit Erinnerungen früherer Hausbewohner vollgepfercht waren, vervollständigten das Müll-Ensemble.

      Das Aufräumen wirkte wie ein Befreiungsschlag, der Raum zum Atmen und für neue Ideen schuf, die bald darauf in Angriff genommen wurden und peu à peu einen Teil der Ersparnisse fraßen: Es wurde in eine Klimaanlage investiert, um in dem Kellerraum eine konstante Temperatur zwischen zweiundzwanzig und sechsundzwanzig Grad zu gewährleisten. Daraufhin wurde ein Wasser­anschluss installiert sowie ein Waschbecken zum Waschen und Desinfizieren der Hände. Desinfektionsmittelbeständige Fliesen verliehen dem neuen Hobbykeller den letzten Schliff.

      Als das Grobgerüst stand, wurde es mit weiteren Accessoires gefüllt: Die Decke bekam einfache Neonröhren sowie eine Operationsleuchte, die das schattenfreie Ausleuchten des Eingriffsbereiches ermöglichte. Aus mehreren Optionen wurde ein Modell gewählt, das häufig oberhalb des Zahnarztstuhls eingesetzt wurde. Es würde dem Zweck ausreichend dienlich sein.

      Die Bestellung zusätzlicher Requisiten erfolgte online bei verschiedenen Anbietern. Sie hatte für den baldigen Besucher einen zerlegbaren, fahrbaren Wasch- und Sezier­tisch geordert. Dieser hatte nun einen Ehrenplatz in der Mitte des Operationszimmers erhalten. Zweifelsohne hätte sie einem professionellen Operationstisch den Vorzug gegeben. Letztendlich hatte aber der Kostenfaktor den Ausschlag gegeben. Die jetzige Variante war erheblich günstiger und bei den relativ leichten Eingriffen konnte sie durchaus an diesem Tisch arbeiten. Zudem wollte sie ihrem Patienten nicht zu viel Bequemlichkeit bieten. Er würde auf Matten und Gelpolsterung verzichten müssen.

      Sie rüstete den Tisch mit Gurten und Fixier­bändern aus, die den Patienten normalerweise vor dem Herunter­fallen bewahren sollten, und fand sogar mit dem ­Seziertisch kompatible Handablagen, die ebenfalls über Befestigungsgurte verfügten. Zudem bestückte sie ihren zukünftigen Arbeitsplatz liebevoll mit Skalpellen, Messern, Sonden, Zangen und Pinzetten, die sie zur Heilung ihres Gastes benötigen würde. Zufälligerweise traf das Paket mit dem Chirurgenwerkzeug ausgerechnet an ihrem Geburtstag ein. Sie packte die medizinischen Instrumenten­sätze mit freudig glänzenden Augen aus, als seien es Präsente, und arrangierte die OP-Bestecke zu einem großzügigen Gabentisch.

      Einiges Kopfzerbrechen hatte ihr der Anästhesie­bereich bereitet. Die Idee, auf eine Narkose zu verzichten, hatte eine Weile ihre Gedanken beschäftigt. Genau genommen hatte er den Mädchen diese Gnade ebenfalls nicht zukommen lassen. Unter dem Strich konnte sie dies aber trotz allem nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren und entschied sich für die Einrichtung eines professionellen Narkosearbeitsplatzes.

      Sie begutachtete den perfekt ausgestatteten Raum, löschte das Licht und versperrte die Tür.

      Nun konnte sie nur noch eins tun: Warten, bis er kam.

      Kapitel 9

      „Geht es dir nicht gut?“ Carmen stellte die Kaffeetasse ab und musterte Paul besorgt. Der Gürtel ihres Bademantels umschlang ihre schmale Taille. Das tropfnasse rote Haar floss glänzend über ihre Schultern.

      Die Zeitung zwischen seinen Händen zitterte.

      Ihre Finger zwirbelten an dem Ehering. Seit neun Jahren zierte er ihre Hand. Als sie vor elf Jahren eine Stelle als Krankenschwester in der Klinik angenommen hatte, hatte sie sich von jetzt auf gleich in Paul verliebt. Damit hatte sie den Reigen der Schwestern erweitert, die ihn wegen seiner feinen Gesichtszüge, blauen Augen, blonden Surfersträhnchen und sportlichen Figur hemmungslos anhimmelten.

      Paul schien jedoch keine von ihnen auch nur ansatz­weise wahrzunehmen. Er hatte sich mitsamt seinem Kummer um den Tod seiner Tochter Emma und die ­Depressionen seiner Frau Sophie sowie dem vergeblichen Kampf um seine Ehe unter einem Berg aus Arbeit verscharrt.

      Carmen hatte ihn mit ihrer Lebensfreude besprenkelt und versucht, ihn nach Feierabend in einen Biergarten oder ein Lokal zu locken. Auf seine Ablehnungen reagierte sie stets heiter, als hätte er ihr anstelle eines abgenutzten Korbes ein Bündel Sonnenblumen überreicht, die pure Fröhlichkeit verströmten.

      Eines Abends, als sie ihm erneut vorgeschlagen hatte, sich gemeinsam bei einem Glas Wein von der Arbeit und dem Alltag abzulenken, hatte er zugestimmt und sie damit mindestens so sehr überrascht wie sich selbst. Später hatte er ihr eingestanden, sie hätte ihn durch einen winzigen Einblick in ihre Seele überzeugt. Es war ein kurzer Moment emotionaler Nähe gewesen, und zwar als sie ihm anvertraut hatte, es gäbe wohl kaum jemanden außer ihr, der wirklich verstehen könnte, wie sehr ein wenig Zeitvertreib von Schmerzen ablenken kann.

      Die Äußerung an sich hatte ihm freilich noch nicht gereicht, um ihrer Einladung Folge zu leisten. Paul verriet ihr, es seien ihre Augen gewesen, die für den Hauch einer Sekunde einen Anflug von Traurigkeit widergespiegelt hätten: Die blassgrüne Iris verdunkelt wie der mit kristall­klarem Schmelzwasser gefüllte Grüne See, wenn eine kaum sichtbare feine Schleierwolke über ihn hinwegfegt und die Sonnenstrahlen für einen Moment schwächt. Deshalb war er damals aus dem Kittel geschlüpft und ihr in ein Gartenlokal gefolgt.

      Auch wenn sie einen bezaubernden Abend miteinander verbracht hatten und Paul seit Langem wieder einmal gelacht hatte, gab er Sophie nicht auf. Dies geschah erst, als er zu der Überzeugung gelangt war, seiner Frau würde es ohne ihn besser gehen: Sie ertrug es nicht, in sein Gesicht zu schauen, Emma darin wiederzufinden und tagtäglich daran erinnert zu werden, auf welch qualvolle Weise ihre Tochter gestorben war. Sie vermochte nicht, die Kraft aufzubringen, mit ihm ein neues Leben – ohne Emma – aufzubauen.

      Ohne ihn, so glaubte er, hätte sie eine Chance, ihr Leid leichter zu verarbeiten und jemanden kennenzulernen, der ihr helfen konnte. Jemanden, mit dem sie sich ein neues Leben einrichten konnte. Jemanden, der sie nicht Stunde für Stunde an ihr verlorenes Glück erinnerte. Erst danach war es Carmen gelungen, ihn mehr und mehr für sich zu gewinnen.

      „Paul?“ Ihre Brauen zogen sich zusammen und malten einen besorgten Balken auf ihre Stirn.

      Er antwortete nicht, faltete die Zeitung zusammen, legte sie auf den Frühstückstisch und verschanzte das Gesicht in den Händen.

      „Es geht gleich wieder“, flüsterte er.

      „Was ist denn?“ Sie sortierte die Schulbrote für ihre Söhne in die Brotdosen. „Ich bin gleich wieder bei dir.“ Sie stand auf und stob – von Pauls Niedergeschlagenheit aus dem morgendlichen ruhigen Rhythmus gebracht – auf nackten Sohlen ins