Sophie knuddelte das Wollknäuel, das wiederum begeistert die Hand seiner Besitzerin leckte. Als würde das Tier die Schmerzen der Bettlägerigen spüren, wurde es urplötzlich ruhig und kuschelte sich an sie. Die Hand der Kranken wanderte langsam über die Decke und kraulte den Kopf des Hundes. Tränen liefen ihr über die Wangen.
„Ich habe Bella aus dem Tierheim geholt“, berichtete Sophie erfreut, „da ich mir dachte, der Hund vermisst Sie mindestens so sehr wie Sie ihn. Und ich verspreche Ihnen, dass Bella später einmal bei mir wohnen darf. Ich habe zwar nur einen kleinen Garten, aber in der Nähe meines Hauses ist ein großer Park, in dem wir spazieren gehen können. Das wird ihr gefallen. Außerdem bin ich allein.“ Das Lächeln auf Sophies Gesicht vermochte nicht die Melancholie, die zu ihrer treuen Begleiterin geworden war, zu übertünchen. „Dann könnten wir uns gegenseitig Gesellschaft leisten. Wäre das eine Idee?“
Frau Ziegler streckte die Hand nach ihr aus. Sophie umschloss sie und spürte einen leichten Druck.
„Danke, Frau Doktor.“
Sie konnte die Worte kaum hören. Die Züge ihrer Patientin entspannten sich. Das Medikament wirkte und ließ sie einen kurzen Schlaf finden. Bella hielt die Augen ebenfalls geschlossen und rührte sich nicht.
„Bis später.“ Sophie streichelte über den Rücken des Tieres und verließ das Krankenzimmer.
Sie tippte auf das Glas ihrer Armbanduhr. Vor einigen Jahren hatte sie die klassische goldene Damenuhr, die Paul ihr zu Emmas Geburt geschenkt hatte, gegen das einfache Accessoire aus Edelstahl getauscht. Die erhabenen silbernen Ziffern auf dem schwarzen Hintergrund verrieten den längst überschrittenen Dienstschluss. Vor dem Nachhauseweg würde sie sich noch eine Tasse Kaffee gönnen, wie meistens. Sie schlenderte durch den Krankenhauskorridor, den eine fast andächtige Ruhe erfüllte, zum Aufenthaltsraum des Personals.
„Hallo, Steffi“, grüßte sie beim Eintreten.
„Da bist du ja! Ich habe auf dich gewartet.“ Ihre Kollegin faltete die Tageszeitung hektisch zusammen. „Wie geht es Frau Ziegler?“
„Ich habe ihr ihren Hund gebracht. Sie hat sich natürlich riesig gefreut. Auch über mein Versprechen, ihn danach bei mir aufzunehmen. Ich glaube, das erleichtert sie sehr.“
„Gute Idee! Dann hast du jemanden, der dich begrüßt, wenn du nach Hause kommst. Obwohl …“, ihre Freundin lächelte, „ein Zweibeiner wäre besser.“
„Fängst du schon wieder damit an.“ Sophie verdrehte die Augen.
„Sollen wir heute Abend gemeinsam etwas essen gehen?“ Stefanie umklammerte die Zeitung.
„Meine Mutter hat mich heute zum Abendessen eingeladen. Sie ist gestern aus Afrika zurückgekommen. Wie sieht es mit morgen aus?“, schlug Sophie leichthin vor.
„Das ist gut. Dann seid ihr heute nicht allein.“ Auf Stefanies Stirn bildete sich eine Sorgenfalte.
„Was ist denn los?“ Sophie füllte eine Tasse mit Kaffee und gab einen Schuss Milch hinein. Beunruhigt rührte sie in dem Gemisch. Es bäumte sich auf und schwappte auf die Untertasse.
„Du hast die Zeitung heute noch nicht gelesen, oder?“ Sie legte den Unglücksboten vor sich ab.
„Ich hatte noch keine Zeit dazu. Warum? Ist etwas passiert?“ Sophie starrte auf das bedruckte Papier.
„Du wirst es ohnehin erfahren.“ Stefanie packte, wie üblich, das Herz auf die Zunge. „Ich denke, es ist besser, wenn du das nicht alleine liest.“
„Was?“ Die Tasse in Sophies Hand begann zu beben. Sie deponierte das Getränk auf dem Tisch, setzte sich zu ihrer Freundin und angelte nach den Neuigkeiten des Tages. Einige Strähnen des schulterlangen Bobs fielen in ihr Gesicht, als sie den Kopf beugte, um die Titelseite zu begutachten. Ihr sprang nichts ins Auge.
„Im Panorama-Teil.“ Stefanie zupfte an ihrem hellblond gefärbten Kurzhaarschnitt, den sie sich zugelegt hatte, um morgens mehr Zeit im Bett als im Bad verbringen zu können.
Sophie blätterte zu der genannten Rubrik. Als sie die Headline erfasste, hob und senkte sich ihr Brustkorb hektisch. Ihre Hände, die das Papier hielten, verkrampften sich zu Fäusten und zerknitterten die Kanten. Sie schwankte auf dem Stuhl wie Schilf im Wind. Stefanie rutschte ihren Stuhl an sie heran und legte einen Arm um ihre Schulter, aus Angst, sie könnte von dem Sitz fallen. Sophie fixierte die schwarzen Buchstaben. Schließlich faltete sie die Zeitung zusammen und strich sie wortlos glatt.
„Sophie?“, wisperte die Freundin.
„Es geht schon.“ Sie bemühte sich, ruhig zu atmen.
„Bist du sicher?“ Stefanie berührte ihren Arm.
„Ja.“ Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch und vergrub die Stirn in den Händen.
„Es ist ungerecht und schrecklich“, stellte Stefanie fest.
„Wäre er erst in drei oder fünf Jahren rausgekommen, wäre es ebenso ungerecht. Davon wird Emma nicht mehr lebendig.“ Sophie verknotete die Finger ineinander und verschanzte sie in ihrem Schoß.
„Das stimmt.“ Ihre Kollegin nickte. „Für diese Tat gibt es keine Gerechtigkeit.“
„Ich habe dieses Szenario mit meiner Therapeutin besprochen. Dieses und viele andere.“ Einige Tränen kullerten über Sophies Wangen.
Stefanie legte den Arm um sie, streichelte die Tropfen mit dem Daumen weg und küsste das dunkle Haar.
„Danke, dass du mich damit nicht allein gelassen hast.“ Sophie lehnte den Haarschopf an ihre Schulter. „Meinst du, du könntest mich nach Hause fahren? Ich würde die Straßenbahn und fremde Menschen gerne meiden.“ Sie blinzelte ihre Freundin an.
„Selbstverständlich. Das ist doch gar keine Frage. Möchtest du den Kaffee noch trinken?“
Sophie schüttelte den Kopf.
Stefanie stand auf, schüttete den Kaffee in den Abfluss und stellte die Tasse in das Spülbecken.
Im Umkleidezimmer tauschten sie die Arztkittel gegen Straßenkleidung. Sophie schlängelte sich in ein Wickelkleid mit blau-weißem Print, dunkelblaue Pumps und eine leichte Strickjacke, Stefanie in Jeans und eine weiße Bluse.
„Wann fährst du zu deiner Mutter?“ Stefanie steuerte den Wagen aus der Tiefgarage.
„Um sieben Uhr. Ich wollte mich davor noch frisch machen.“ Sophie schaute aus dem Seitenfenster, wo der Alltag seinen verführerischen, normalen Lauf nahm – geradeso als hätte ein Illustrator ihn für ein Wimmelbilderbuch erdacht. Passanten eilten über den Bürgersteig. Einige schleppten Einkaufstüten, andere Aktentaschen. Ein kleiner Junge leckte an einem Eis, das ihm über Hand, Arm und T-Shirt floss. Seine Mutter spuckte auf ein Papiertaschentuch, eifrig bemüht, die Eisflecken aus dem Shirt zu reiben, während es auf ihr Haar tropfte.
Eine Politesse mit windschiefem Käppi stellte einen Strafzettel aus. Der Autobesitzer redete wild gestikulierend auf sie ein, während ein Hund mit weißem Fell und schwarzen Flecken sein Bein am Hinterrad hob und einen gebogenen Strahl, der gegen den Reifen platschte, produzierte.
Sophie wunderte sich immer darüber, wie das Leben ohne Emma einfach weiterlaufen konnte. Ebenso erstaunte es sie, dass es ihr dank geduldiger Ärzte und Therapeuten tatsächlich gelungen war, mit dem Leben Schritt zu halten.
„Ich kann gern auf dich warten und dich zu ihr fahren. Ich habe nichts Besonderes vor.“ Stefanie reihte sich in den Verkehr ein.
„Das ist lieb von dir, aber ich komme schon klar. Ich würde gern ein paar Minuten allein sein.“ Ihre Finger verwebten sich ineinander.
„Und wie kommst du hin?“ Stefanie stoppte an einer roten Ampel