„Wo ist Philipp?“ Carmen sah ihren Erstgeborenen an.
„Keine Ahnung.“ Er feixte und schlüpfte in seine Schuhe.
„Hier ist dein Pausenbrot.“ Sie reichte ihm die Dose.
Max stopfte sie in den Schulrucksack.
„Warte bitte auf Philipp“, rief sie ihm über die Schulter zu, raffte den langen Bademantel auf und bewältigte die Treppe.
„Warum? Der ist so ein Baby“, beschwerte sich Max.
„Eben deshalb. Gut, dass er einen großen Bruder hat“, entgegnete Carmen dem Achtjährigen.
„Philipp?“ Sie flog die Treppe hoch, klopfte an seine Zimmertür und betrat den Raum. „Bist du fertig?“ Sie zwängte die Brotdose zwischen Hefte und Bücher.
Ihr Sohn nickte. Durch das Fenster fiel ein Sonnenstrahl auf sein hellblondes Haar.
„Du hast ja ein anderes T-Shirt angezogen.“ Sie registrierte das abgestreifte Shirt, das achtlos auf dem Boden herumlungerte, hob es auf und legte es über die Stuhllehne.
„Das passt mir nicht mehr.“ Er lugte zu dem Oberteil, auf dem Ich bin 6 stand. Er hatte es beim Frühstück getragen, und es war keineswegs zu klein.
„Da steckt doch bestimmt etwas anderes dahinter?“ Carmen betrachtete ihren Sohn, der die feinen Gesichtszüge seines Vaters im Miniaturformat widerspiegelte.
„Max sagt, da kann ich gleich Baby draufschreiben“, tönte es zwischen den Zahnlücken. „Aber ich bin kein Baby.“
„Natürlich bist du kein Baby.“ Sie manövrierte ihren Jüngsten aus dem Zimmer. Noch vor Kurzem war er sehr stolz darauf gewesen, endlich sechs Jahre alt geworden und in die Schule gekommen zu sein.
„Komm endlich!“ Am Ende der Treppe stampfte Max ungeduldig von einem auf den anderen Fuß.
Carmen half Philipp, in die Schuhe zu steigen und lud den Rucksack auf seinen Rücken. „Sagt Papa noch Tschüss.“
Vier Füße trabten in die Küche.
„Bis heute Abend, ihr beiden“, hörte sie Paul sagen. Sie horchte auf. Es folgte kein weiterer Spruch, wie sonst für ihn üblich. Sie strich sich die nassen Haare hinter die Ohren und massierte ihre Schläfen.
„Tschö, Mama“, trompeteten ihre Söhne. Max riss die Haustür auf.
„Oh, oh! Einen Moment, meine Herren.“ Carmen erhaschte die Riemen, die über den Schultern ihres Ältesten lagen, wirbelte ihn zu sich und drückte ihm einen Kuss auf die Backe.
„Mama!“ Max rubbelte den Kuss mit dem Handrücken ab und flitzte durch die Tür.
„Bis heute Mittag.“ Sie versah Philipp mit einem Lippendruck.
Er schenkte ihr ein Zahnlückenlächeln und stolperte hinter seinem großen Bruder her. Sie schloss die Tür und kehrte zurück in die Küche. Paul hatte die Arme vor der Brust verschränkt und knetete gedankenverloren seine Unterlippe.
„Möchtest du mir nicht erzählen, was passiert ist? Gibt es Probleme mit einem Patienten oder in der Klinik?“ Sie füllte ihre Kaffeetassen.
Wortlos schob er ihr die Tageszeitung über den Tisch. Carmen faltete sie auf, blätterte die Seiten um und überflog die Überschriften, während sie an dem heißen Getränk nippte. Plötzlich schrie ihr die Botschaft entgegen. Sie stellte die Tasse ab. Die dunkle Brühe schwappte auf die Untertasse.
Kinderschänder Georg S. aus Justizvollzugsanstalt entlassen
Georg S., der vor fast sechzehn Jahren die fünf Jahre alte Emma H. aus ihrem Garten entführte, missbrauchte und tötete, wurde nach fünfzehn Jahren vorzeitig aus der JVA entlassen.
Die Strafvollstreckungskammer entschied, den Rest der Strafe auf Bewährung auszusetzen. Das Urteil begründet sich in einer positiven Sozialprognose des Verurteilten und keiner weiteren Gefährdung der Allgemeinheit, die durch einen forensischen Psychiater bescheinigt wurden.
Das Gericht ordnete jedoch eine vierjährige Führungsaufsicht an.
„Ich fasse es nicht.“ Carmen knallte die Zeitung auf den Tisch. Sie schnaubte vor Wut. Ihre Nasenflügel flatterten. „Sie haben das Schwein laufen lassen! Das darf doch nicht wahr sein.“ Sie schnappte sich die Tageszeitung und las den kurzgefassten Artikel abermals. „Das gibt es doch nicht!“ Sie sprang auf und lief vor dem Tisch auf und ab. „Welcher Idiot hat denn diese Prognose gestellt? Forensischer Psychiater! Pah!“ Sie stieß einen Schwall Bitterkeit aus und schöpfte neuen Atem, um ihrer Enttäuschung Luft zu verschaffen. „Der muss seinen gesunden Menschenverstand komplett ausgeschaltet und keine Kinder haben. Sonst zieht man solch ein Urteil noch nicht mal in Erwägung!“
Ihre Wut tobte mit Orkanstärke zwölf und flaute ab, sobald sie das Verhalten ihres Mannes wahrnahm. Er hockte auf dem Stuhl und malträtierte immer noch seine Unterlippe.
Carmen trat hinter ihn und schlang ihre Arme um seinen Oberkörper. Sie presste ihre Wange an seine und schaukelte ihn wie ein kleines Kind sachte hin und her. „Es tut mir leid, Paul.“ Sie küsste seine Wange und streichelte über sein dichtes Haar.
„Es hört nie auf.“ Er befreite sich sachte aus der Umarmung. „Danke, Carmen, aber ich fahre in die Klinik. Ich kann jetzt nicht darüber sprechen. Ich bin sowieso schon zu spät dran, und Arbeit ist für mich die beste Medizin.“
Sie nickte. „Und heute Abend wirst du auch nicht darüber sprechen können.“
Er drückte ihre Hand.
Carmen begleitete ihn zur Haustür. „Ich liebe dich.“ Sie wickelte die Arme um seinen Hals und küsste ihn auf die Lippen, bevor er aus dem Haus ging.
„Ich werde nicht zulassen, dass dieser Mann auch unsere Familie zerstört“, flüsterte sie der geschlossenen Haustür zu. „Niemals!“
Kapitel 10
„Wie fühlen Sie sich, Frau Ziegler?“ Sophie nahm die kalte Hand der Patientin und streichelte zärtlich über ihren Handrücken.
Die alte Frau öffnete die schweren Lider. Ihre Mundwinkel zuckten. „Es geht“, hauchte sie.
„Sie sind sehr tapfer.“ Sophie liebkoste die Hand, auf der das Alter dunkle Flecken und violette Venen hinterlassen hatte. „Auf unserer Skala von eins bis zehn – wie stark sind Ihre Schmerzen derzeit?“
„Neun“, formten die Lippen lautlos. Die Kranke raffte ihre hauchdünne Kraft zusammen. „Neun“, huschte es leise aus ihrem Mund.
Sophie bemerkte die glasigen Augen ihrer Patientin. „Ich werde Ihnen noch etwas Morphium und Valium spritzen. Sie müssen nicht solche Schmerzen erdulden. Ist das in Ordnung?“
Frau Ziegler deutete ein Nicken an.
„Ich muss Sie dazu aufdecken. Es wird also kurz kühl.“ Sie klappte die Bettdecke zurück, löste zwei Knöpfe der Pyjamajacke, reinigte die Injektionsstelle mit einem Alkoholtupfer und injizierte das Schmerzmittel sowie das Beruhigungsmittel unterhalb des Bauchnabels. „Es wird gleich wirken“, versprach sie der Kranken, während sie diese wieder zudeckte. „Und bis dahin habe ich eine Überraschung für Sie. Einen Moment.“ Sie tätschelte den Arm der Frau und trippelte auf leisen Sohlen in den Korridor der Palliativstation.
Seit einiger Zeit war es den todkranken Patienten erlaubt, ihre Haustiere mit in das Krankenzimmer zu nehmen. Eigentlich waren Tiere im Krankenhaus tabu. Im Sterbebereich wurde allerdings eine Ausnahme gemacht, da die emotionale Unterstützung der Vierbeiner als enorm hilfreich eingestuft wurde.
Sophie hievte eine Tiertransportbox, die auf dem Flur wartete, hoch und bugsierte sie in das Krankenzimmer. Dort stellte sie den Behälter auf den Boden und entriegelte die Tür. Ein kleiner Mischlingshund sprudelte hervor und flitzte auf das Bett zu. Das kleine Energiebündel sauste