„Ich habe dich auch lieb, Mama.“
„Warte – Papa möchte dir auch Gute Nacht sagen.“ Sophie reichte ihr Telefon weiter.
„Emma?“ Paul drückte das Handy an sein Ohr. Mit der freien Hand streichelte er Sophies Arm.
„Hallo, Papa!“, fiepte Emma.
„Hallo! War Oma brav?“, scherzte Paul. Um die Augen in dem noch jungenhaften Gesicht tanzten winzige Lachfältchen.
Emma giggelte. „Ja, ganz brav.“
„Sie hat also alles gemacht, was du wolltest?“
Emmas Locken wippten zustimmend.
„Und was macht ihr jetzt?“ Pauls Blick klebte auf Sophies Dekolleté.
„Oma liest mir vor.“ Emma blickte zu dem Bilderbuch.
„Prima! Dann noch viel Spaß euch beiden. Schlaf gut. Bis morgen Abend.“ Paul riskierte einen weiteren Ausblick in Sophies Ausschnitt. „Den werden wir heute auch noch haben“, säuselte er in Sophies Ohr.
„Bis morgen“, trällerte Emma und reichte ihrer Großmutter das Telefon.
„Hallo?“ Maria sprach in die Muschel. „Keiner mehr dran“, erklärte sie Emma und beförderte das Telefon zurück auf den Nachttisch. „Dann können wir ja jetzt in Ruhe lesen.“
Sie blätterte das Buch auf und las ihrer Enkeltochter vor, wie der kleine Rabe Socke zu seinem Namen gekommen war. Dabei präsentierte sie das Buch so, dass Emma die Bilder ebenfalls betrachten konnte.
„Das ist eine schöne Geschichte.“ Maria klappte das Bilderbuch zu und stellte es zurück zu seinen Kameraden. „Die kannte ich noch gar nicht.“
Sie gähnte und bewunderte ihre Enkeltochter, die trotz des anstrengenden Tages noch absolut fit schien. „Bist du gar nicht müde?“
„Ich bin nie müde.“ Emma drückte Flopsi an sich.
„Das gibt es doch nicht.“ Maria hockte sich nochmals auf die Bettkante und koste Emmas weiches Haar.
„Aber damit ich einschlafen kann, singen Mama oder Papa mir immer etwas vor.“ Sie lächelte verschmitzt und fügte ernst hinzu: „Manchmal habe ich Angst im Dunkeln. Aber nicht vor Monstern. Die gibt es nicht.“
„Wovor hast du denn Angst?“
„Nichts sehen zu können. Und keine Luft zu bekommen. So wie in einem dunklen Keller ohne Fenster.“
„Ach so.“ Maria streichelte Emma über den Scheitel. „Das finde ich auch sehr unangenehm, und damit es nicht dunkel wird und du genügend Luft bekommst, lassen wir deine Tür einen Spaltbreit offen und das Licht im Flur an. Einverstanden?“
Emma nickte.
„Und singen kann ich auch.“ Maria glättete die Decke. „Als deine Mama klein war, mochte sie am liebsten La le lu.“
„Das mag ich auch am liebsten.“ Emma stemmte Flopsi in die Luft. „Und Flopsi auch.“
„Das trifft sich gut. Dann singe ich dir das Lied vor.“
„Ich muss aber erst noch beten.“ Emma legte den Hasen beiseite und faltete die Hände. Nachdem sie mit ernster Miene ein Nachtgebet gesprochen hatte, schloss sie die Augen, lauschte Marias Gesang und war bereits bei der zweiten Strophe eingeschlafen.
Maria küsste sacht ihre Stirn und ließ die Zimmertür, wie versprochen, offenstehen. Das Licht vom Korridor schlich auf Zehenspitzen in Emmas Zimmer und leistete ihr bis zum nächsten Morgen Gesellschaft.
Kapitel 2
Sonntag
„Wenn du möchtest, können wir heute Nachmittag in ein Freigehege fahren und die Rehe füttern. Das Wetter ist so herrlich.“
Maria stieg aus dem Sandkasten und klopfte sich den Sand von der Hose.
„Au ja!“ Emma quietschte vor Vorfreude und lief zur Schaukel, die Paul in einem greisen Baum für sie angebracht hatte. „Ich schaukle so lange, bis du die Nudeln gekocht hast!“
„Aber nicht zu hoch!“ Maria hob mahnend einen Finger.
„Dooooch!“ Emma umfasste die Stricke und hievte sich geschickt auf das Brett.
„Dann halte dich gut fest! Soll ich dich anschubsen?“
„Das kann ich alleine!“ Der Stolz in Emmas Stimme war unüberhörbar.
„Prima! Ich setze nur kurz das Nudelwasser auf und bin gleich wieder da.“
Maria überquerte die Wiese und die Terrasse, streifte die Schuhe auf der Fußmatte, die mit dem Schriftzug Willkommen grüßte, ab und eilte in die Küche.
Als sie die Sonnencreme für Emma endlich gefunden hatte, kochte das Wasser bereits. Rasch warf sie die Nudeln hinein, regelte die Temperatur der Herdplatte, durchkreuzte den Wohnraum und trat ins Freie.
Sie spähte durch den Garten zur Schaukel.
Das Schaukelbrett war leer.
„Emma?“ Maria lugte durch den Garten. „Emma?“ Ihre Stimme kletterte in einen höheren Oktavbereich. Sie lauschte.
Vögel zwitscherten. Irgendwo bellte ein Hund, und in der Ferne heulte ein Motor auf.
Kein Kichern von Emma.
Maria sauste durch die gepflegte Gartenanlage und suchte hinter Büschen und Bäumen sowie in der Gartenlaube.
Keine Spur von Emma.
Sie kehrte ins Haus zurück, ohne ihre Schuhe auf der Matte abzutreten.
„Emmaaaaaaaa?“ Mit Riesenschritten durchquerte sie den Wohnbereich, klopfte an die Tür des Gäste-WCs, zögerte für einen Moment und öffnete sie. Emma war nicht da.
„Emmaaaaaa?“ Maria stürmte die Treppe hinauf und wiederholte die Prozedur an der Badezimmertür. Das Bad war leer.
Sorge grub sich in jede Pore ihres Körpers und fraß sich bis ins Knochenmark, während sie Emmas Zimmer, das Schlafzimmer und das Arbeitszimmer betrat. Von Emma fehlte jede Spur.
„Emma? Ich kann dich nicht finden. Wo bist du?“ Eine eiserne Zange umklammerte Marias Magen und quetschte ihn zusammen. „Hast du dich versteckt? Komm raus. Du hast gewonnen. Dein Versteck ist zu gut.“
Kein Laut.
„Bitte, Emmaaaaa“, flehte sie.
Sie spitzte die Ohren. Gespenstische Stille erfüllte das Haus. Von unten drang ein zischendes Geräusch herauf. Das Nudelwasser kochte über.
Maria hastete die Treppe hinunter, schaltete den Herd aus und rannte in den Keller. „Emma?“, schluchzte sie, während sie Vorratskeller, Waschkeller und Heizungskeller begutachtete. „Emma, bitte, komm raus!“, wiederholte sie immer wieder, während sich hektische Flecken auf ihrer Haut abzeichneten.
Auf der Kellertreppe stolperte sie über ihre eigenen Füße und schlug hart mit dem Kinn auf. Sie presste die Hände gegen den pochenden Schmerz. Klebriges Blut glänzte in den Handflächen. Sie schmierte es achtlos an den Hosenbeinen ab.
„Emma?“ Sie weinte beinahe, als sie zurück in den Garten hetzte. „Ruhig bleiben“, mahnte sie sich. „Emma erlaubt sich nur einen Scherz. Sie findet es bestimmt lustig.“
Maria preschte zurück ins Haus und durchsuchte jeden Winkel. Sie tastete die Vorhänge ab, verrutschte alle Sitzgelegenheiten und durchwühlte jeden Schrank. Von Raum zu Raum wurde sie unruhiger. Panik nistete sich in ihrem Körper ein wie tiefziehende Wolken in einem Gebirge.
„Emma?“ Die Silben überschlugen sich.
Sie flitzte