Asklepios. Charlotte Charonne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charlotte Charonne
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783946734703
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      Maria stellte die Teller ab, schüttete die Vinaigrette über den Salat und vermengte die Zutaten.

      „Was plant deine Kollegin genau?“ Sophie drapierte die Serviette über ihrem Schoß.

      „Das Projekt steckt noch in der Anfangsphase. Sie würde gern ein kleines Krankenhaus am Stadtrand von Montevideo aufbauen, in dem Kinder aus den Slums kostenlos medizinisch versorgt werden können.“ Maria nippte an dem Wasser. „Zumindest einige. Es ist wohl ein Fass ohne Boden.“

      Sophies Augen funkelten. „Wann?“

      „Im nächsten Jahr. Ich könnte sie in der nächsten Woche einladen, damit ihr einander kennenlernt und sie dir die Details darlegen kann, wenn du möchtest.“

      Sophie nickte.

      „Aber …“, Maria legte das Besteck ab, faltete ihre Hände und fixierte ihre Tochter, „... nun machst du erst einmal hier die Türen sauber hinter dir zu. Sonst wird dir auch woanders keine offenstehen.“

      Kapitel 12

      Freitagvormittag

      Sie parkte einige Meter von seinem Haus entfernt. Seit acht Wochen beschattete sie Schwarz aus dem Leihwagen wie ein Spionagesatellit die Erdoberfläche aus dem Weltall. Damit er möglichst keine Gefahr witterte, wechselte sie nicht nur ständig die Autotypen, sondern veränderte ebenfalls ihr Aussehen mittels Perücken, Brillen und Modeaccessoires.

      Ihre Wandlungsfähigkeit stand der eines Chamäleons in nichts nach und war absolut varietéwürdig. Sie variierte nicht nur ihre Haarfarbe täglich, sondern – ebenso wie das Kriechtier – ihre Körperform. Diese Illusion kreierte sie mittels verschiedener Absatzhöhen, Bekleidungsstilen und Kleiderschnitten, wodurch ihr Alter ebenfalls beträchtlichen Schwankungen zu unterliegen schien.

      Sie klappte die Sonnenblende herunter und taxierte die Frau im Spiegel. Kritisch zupfte sie an der roten Kurzhaarperücke und rückte die schwarze Hornbrille mit dem Fensterglas in Position. Ein Kontrollblick auf die Armbanduhr verriet ihr, dass er gleich das Haus verlassen würde. Zwar konnte sie ihn nicht ständig observieren, aber wann immer sich ihr die Gelegenheit bot, spionierte sie ihn aus. Bereits nach vier Wochen hatte sie eine Art Stundenplan für Schwarz erstellt, der die Wochentage sowie die Stunden enthielt, und alle Kästchen mit seinen jeweiligen Aktivitäten gefüllt. Nun inspizierte sie die Matrix akribisch. Bisher hatte es keine Abweichungen gegeben. Schwarz folgte dem Plan punktgenau wie ein Schweizer Uhrwerk.

      Anfangs hatte das Glück ihr dabei geholfen, ihn ausfindig zu machen. Er war in das Haus zurückgekehrt, das er geerbt hatte und in dem seine Kindheitserinnerungen finstere Schatten warfen. Und die Schreie der Kinder sich tief in das Kellergemäuer gegraben hatten. Es lag nur zehn Kilometer von ihrem eigenen entfernt – ein sogenannter Katzensprung, der es ihm auch ermöglicht hatte, in ihrer Gegend auf Beutezug zu gehen.

      Die Haustür öffnete sich. Das Holz wirkte morsch wie ein vermodertes Brett, das vom Meer nach viel zu langer Zeit an den Strand gespült worden war. Er zog die Tür hinter sich zu, steckte den Schlüssel ins Schloss und kurbelte ihn zweimal herum. Dann keilte er den Schädel zwischen die schmalen Schultern und konzentrierte sich auf seine braunen Halbschuhe, die über den kurzen Gehweg zur Straße schlurften. Ohne aufzuschauen, fügte er sich dem Verlauf der Straße, die nach fünfzig Metern wie ein vom Stamm abgebrochener Ast nach links abknickte.

      Sie starrte auf seinen Rücken, der kleiner und kleiner wurde und schließlich aus ihrem Blickfeld ausradiert wurde. Langsam leerte sie den Becher Cappuccino, der ihr im McDonald’s Drive-in durch das Fenster gereicht worden war, verstaute ihn in dem Getränkehalter, kontrollierte zum x-ten Mal die Zeit und warf den Motor an. Falls er seinen Stundenplan beherzigte, würde er in zehn Minuten in den Bus mit der Nummer 154 steigen und zu seinem Bewährungshelfer fahren wie jeden Montag und Freitag.

      Ihr Wagen folgte dem kurvigen Straßenverlauf und trudelte an dem Linienbus, der an der Haltestelle seine Fahrgäste einsammelte, vorbei. Gemächlich reihte sie sich in den Nachmittagsverkehr ein und suchte sich in der Richard-Wagner-Straße einen Parkplatz, der eine gute Aussicht auf die Hausnummer 14 gewährte.

      Fünfzehn Minuten später näherte sich die Gestalt mit dem eingezogenen Haupt dem Gebäude. Der Mann rupfte die rechte Hand aus der Hosentasche, betätigte die Klingel und verschwand in dem Haus.

      Sie schnappte sich das Buch, das auf dem Beifahrersitz lag, und tauchte mit einem Seufzer in die Lektüre ein. Sie hatte eine Stunde Zeit, um der tragischen ­Liebesgeschichte von Holly und Gerry zu folgen, bevor die Sitzung mit dem Bewährungshelfer beendet sein und er sich auf dem gleichen Weg, den er gekommen war, wieder in seine Höhle verkriechen würde.

      Pünktlich erschien er auf dem Treppenansatz und trat den gewohnten Rückweg an. Wenige Meter vor seinem Domizil lauerte sie ihm bereits auf und beobachtete, wie er in dem Haus verschwand. Sie visierte die schmuddeligen Vorhänge an der Vorderseite des Gebäudes. Die Gardinen bewegten sich nicht. Anscheinend verspürte er nicht das Bedürfnis, nach einem eventuellen Verfolger Ausschau zu halten oder die missachtenden Blicke und Bemerkungen der Nachbarn einzufangen. Sie hatte längst bemerkt, dass diese eine Initiative gegründet hatten, um den Bewohner des Hauses zum Schutze ihrer Kinder zu observieren. Diese Vorsichtsmaßnahme konnte sie ihnen nicht verdenken.

      Sie packte das Sandwich mit Käse, Salatblättern, Tomate und Ei aus, das sie sich als Mittagessen mitgebracht hatte, und wartete auf den nächsten Programmpunkt.

      Er führte ein einsames Leben, empfing keinen Besuch und verkehrte lediglich mit seiner Therapeutin und seinem Bewährungshelfer. Am Freitagnachmittag radelte er mit dem Fahrrad zum Wald, wo er es auf dem Parkplatz abstellte und ein bis zwei Stunden spazieren ging. An den anderen Nachmittagen arbeitete er in seinem Garten und kämpfte gegen den Wildwuchs an, der dort wie Bambus wucherte.

      Donnerstagmorgens erledigte er seine Einkäufe, montagnachmittags besuchte er seine Therapeutin. Ab 19:00 Uhr verriet das Licht des Fernsehers seine Aktivität. Zwischen 23:00 und 24:00 Uhr schaltete er das Gerät aus und begab sich vermutlich ins Bett. Was er die übrigen Stunden im Inneren seines Hauses trieb, entzog sich ihrer Kenntnis. Sie verspürte keinerlei Verlangen, ihr Vorstellungsvermögen diesbezüglich zu bemühen.

      Sein Stundenplan ließ nur zwei Möglichkeiten, ihn zu überwältigen: Sie musste ihn entweder am Wald abpassen oder sich Zugang zu seinem Haus verschaffen, um ihn dort zu betäuben und in das Auto zu schaffen. Letzteres barg vor allem die Gefahr ungewollter Zeugen, die die Entführung beobachten könnten. Auch wenn die Nachbarschaft über das Verschwinden erfreut sein würde, bestünde die Wahrscheinlichkeit, dass sie der Polizei Auskünfte über sie erteilen könnte. Das wiederum barg die Gefahr einer frühzeitigen Festnahme. Aufgrund dessen war der Wald weniger gefährlich, da er außer am Wochenende kaum aufgesucht wurde. Sie entschied sich daher für diese Variante.

      Um 14 Uhr verließ er das Haus und schwang sich auf sein Fahrrad. Fünfzehn Minuten später trennte sie sich von ihrer Lektüre und zuckelte zum Wald, wo sie am Parkplatz vorbeirollte und zufrieden verfolgte, wie er seine Routine absolvierte. Sie stoppte, zog ihren Kalender aus der Tasche, blätterte zum nächsten Freitag und tippte gedankenverloren mit der Fingerspitze auf das Datum. Schließlich startete sie das Auto und fuhr nach Hause. Es blieb ihr genau eine Woche, um die letzten Vorbereitungen zu treffen.

      Kapitel 13

      Freitagmittag – eine Woche später

      Der Mercedes-Benz Sprinter parkte auf dem Waldparkplatz. Sie entnahm ihrer Umhängetasche einen Elektroschocker und versenkte ihn in der Hosentasche der weiten Leinenhose. Sie stieg aus und schmiss einen Blick auf die Straße, die zu dem Parkplatz führte.

      Die Luft roch nach Frühsommer – nach Fichtennadeln und dem Geruch des Harzes, das durch die Sonnen­strahlen erwärmt wurde. Bauschige Sahnewolken wanderten über den blauen Himmel. Darunter spielten Vögel mit roten Bäuchen Fangen. Trotz der friedlichen Atmosphäre wuchs ihre innere Unruhe. Tausende von panischen Gnomen flitzten durch ihren Körper und beschleunigten ihren Puls. Ein leises Klacken drang an ihre Ohren. Sie drehte den Kopf in den Nacken und erspähte den erwarteten Fahrradfahrer,