Asklepios. Charlotte Charonne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charlotte Charonne
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783946734703
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Stelle, an der Anton zuvor gegraben hatte. Sie sperrte den Mund auf und schnappte nach Luft. Entsetzen fraß sich in ihre Gesichtszüge. Ihr Blick heftete sich an ihre Hände, die ihrerseits an Antons Halsband Halt suchten. Die Fingerknöchel zeichneten sich weiß unter der Haut ab. Äste und Dornen hatten blutige Kratzer auf die Handrücken gezeichnet. Britta wurde schwindelig. Der Waldboden bebte und die Bäume schwankten. Gleichzeitig schien sich die gesamte Kulisse wie ein Karussell zu drehen. Sie presste die Augenlider zusammen und konzentrierte sich darauf, ruhig durchzuatmen.

      Anton zerrte und zerrte an seinem Halsband.

      Britta beruhigte sich allmählich. Fast zwanghaft wagte sie eine nochmalige Überprüfung. Es war noch da: Ein Unterarm mit einer Hand. Die Haut wirkte grünlich und marmoriert, als wollte sie sich ihrer Umgebung an­passen, um unentdeckt zu bleiben. Sie umklammerte Antons Leder­band mit beiden Händen und unterdrückte die aufkeimende Übelkeit.

      Es war ein Arm.

      Der Arm eines Kindes.

      Eines kleinen Kindes.

      Kapitel 4

      Drei Wochen später

      „Emma, Emma …“ Sophies Lippen bewegten sich fast lautlos. Sie stierte paralysiert auf den Sarg, der im Altarbereich aufgebahrt war. Auf dem weißen Holz tanzten Kornblumen, Heide-Nelken und andere bunte Wiesenblumen, deren Farben von dem Meer aus Kränzen und Blumen, das den Kindersarg umgab, aufgenommen wurden. Es wirkte geradeso, als würde Emma auf einer Frühlings­wiese ruhen.

      Sophie war während der letzten Wochen zusehends schwächer geworden wie eine Rose, der Wasser fehlte. Am Ende war sie vollkommen verblüht.

      In den ersten Tagen nach Emmas Verschwinden hatte sie eine Hyperaktivität an den Tag gelegt, die ihrer sonst besonnenen Art vollkommen fremd war. Um Emma zu finden, hatte sie mehrmals die Polizei aufgesucht, Flugblätter gedruckt und verteilt, mit der Presse sowie Radio- und Fernsehsendern Kontakt aufgenommen und sinnlos von früh bis tief in die Nacht die Gegend abgefahren. Darüber hatte sie das Essen vergessen. Paul kostete es alle Überredungskünste, ein paar Brocken in sie hineinzuzwängen, wenn er abends aus der Klinik nach Hause kam – falls er sie dann überhaupt antraf.

      Mittlerweile ähnelte sie Grizabella aus dem Gedicht Rhapsody on a Windy Night von T.S. Eliot. Ihre Kleider baumelten lose an ihren Schultern wie auf einem Bügel. Unter ihren Augen lagen violette Ringe. Ihr Haar hatte seinen Glanz verloren und fiel büschelweise aus. Ihr Blick huschte nervös hin und her. Bei jedem Laut zuckte sie zusammen, fuhr aber bei dem Vorschlag, therapeutische Hilfe zu suchen, aus der zerknitterten Haut.

      Paul umfing ihre Taille und presste sie an sich. „Komm, Sophie. Wir bleiben an Emmas Seite.“

      Tiefes Schweigen erfüllte die überladene Kirche. Nicht nur Familienangehörige, Freunde, Bekannte und Kollegen waren zu der Beerdigungszeremonie erschienen, sondern auch zahlreiche Unbekannte.

      Die Glocken begannen zu läuten. Der kleine Sarg wurde von Pauls Kollegen, die über die Jahre in der Klinik zu engen Freunden geworden waren, hinausgetragen. Die Ärzte hatten ihre weißen Kittel gegen schwarze Anzüge getauscht. Obwohl sie dem Tod stets nahe waren, spiegelten ihre Mienen tiefe Betroffenheit und Anteil­nahme wider.

      Paul schob Sophie sachte von der Bank in den Mittelgang. Sie schaffte es, einen Fuß vor den anderen zu setzen und hinter dem Pfarrer, der dem Blumensarg unmittelbar folgte, herzuwanken. Tränen strömten über ihr Gesicht.

      Ein Fußweg führte zu dem kleinen Friedhof hinter der Kirche. Das Knirschen von Kies, das die schweren Schritte erzeugten, mischte sich mit dem Glockenklang. Die Trauerprozession machte vor einem ausgehobenen Grab halt.

      Der Pfarrer zitierte den Bibelvers, den Sophie und Paul für Emma ausgewählt hatten. Sophie umschlang ihren Oberkörper mit den Armen und wiegte sich vor und zurück. Paul hielt sie fest, aus Angst, sie könnte in das offene Grab fallen. Dann übergaben die Sargträger den Kindersarg Zentimeter für Zentimeter dem Erdreich.

      Stille breitete sich aus. Sie schlich über den Friedhof und schien die Luft zum Atmen zu zerdrücken. Leise stellte sich ihr ein Sopran entgegen. Mit jeder Note wurde er lauter.

      “La le lu

      Nur der Mann im Mond schaut zu

      Wenn die kleinen Babys schlafen

      Drum schlaf’ auch du …”

      Sophie und Paul hatten das Lied für Emma ausgesucht. Es war das Lied, das sie am liebsten gemocht hatte und das ihre Eltern ihr immer und immer wieder hatten vorsingen müssen, wenn sie keinen Schlaf finden konnte.

      Pauls Bruder Thomas fügte persönliche Worte an, die er gemeinsam mit Paul niedergeschrieben hatte. Paul und Sophie hätten dazu in diesem Moment nicht die Kraft gefunden. Auch Thomas gelang es nicht, das Zittern aus seiner Stimme zu verbannen. Er war Emmas Patenonkel gewesen und hatte es nie als Pflicht, sondern als Freude empfunden, mit Emma zu spielen und kleine Überraschungs­ausflüge für sie zu organisieren.

      „Aus der Erde bist du genommen, der Erde geben wir dich zurück, dein Gott wird dich rufen zu neuem Leben.“ Der Pfarrer trat vor und warf dreimalig Erde in das Grab, während er sprach. „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.“

      Paul nahm mit der freien Hand Erde auf und lies sie durch die Finger auf den Sarg rieseln. Das leise Geräusch, als die Erdbröckchen auf den Sarg fielen, machte den endgültigen Abschied schmerzhaft deutlich.

      Sophie presste sich die Hände auf die Ohren.

      „Sophie?“ Paul drückte ihre Seite.

      Sie zeigte keine Reaktion.

      Behutsam umfasste er ihre Handgelenke und zog die Hände von ihren Ohren. „Sophie, hörst du mich? Nimm die Blütenblätter und streue sie auf Emmas Weg.“

      Sophie verharrte reglos. Sie starrte mit weit aufgerissen Augen auf den Sarg.

      Paul umschlang wieder ihre Taille, aus Angst sie könnte stürzen. „Sophie? Die Blumen!“

      Wie eine von Fäden geführte Marionette versenkte Sophie ihre Finger in der Schale mit den zartrosa Pfingstrosen­blütenblättern, die Emma geliebt hatte. Mechanisch, von unsichtbaren Strängen geführt, tauchte die Hand aus dem Blättermeer auf. Langsam entkrampften sich die Finger, und Blüte für Blüte schwebte auf Emmas Sarg, bedeckte die Erde und verschmolz mit der Blumenwiese auf dem Holz.

      „Komm, Sophie.“ Er lenkte sie von dem Grab weg und gab den Platz für Maria frei. Diese verabschiedete sich still von ihrer Enkeltochter. Dann ließ auch sie behutsam eine Handvoll Erde auf den Holzsarg prasseln.

      Paul führte Sophie zum Auto, das vor der Kirche parkte. Sie hatten darum gebeten, von Beileidsbekundungen am Grab Abstand zu nehmen. Er öffnete die Beifahrertür und dirigierte Sophies Körper auf den Beifahrersitz. Sie schien ihre Umwelt nicht wahrzunehmen. Er startete den Motor und steuerte das Restaurant an, das sie für das gemeinsame Speisen der Trauergäste gebucht hatten. Er wusste nicht, wie Sophie den Tag überstehen sollte. Und auch nicht die Tage, Monate und Jahre, die nun folgen würden.

      Kapitel 5

      Ein Jahr später

      Kölner Stadtschau, 31.5.2001

      Lebenslang für Mord an Emma H.

      Höchststrafe für Georg S.

      Das Landgericht Köln hat das Urteil gegen Georg S. gefällt. Der Angeklagte wurde für den Mord an der fünfjährigen Emma H. zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Das Gericht hat die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Damit ist eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung nur in besonderen Ausnahmefällen, wie zum Beispiel schwerer Erkrankung, möglich. Eine anschließende Sicherungsverwahrung nach Verbüßung der lebenslangen Haftstrafe (fünfzehn Jahre) wurde jedoch nicht verhängt.

      Die Begründung für diesen Beschluss liegt in dem eingeholten psychiatrischen Gutachten, das die Kriterien für eine Sicherungsverwahrung im Falle des Georg S. nicht erfüllt