Gesammelte historiografische Beiträge & politische Aufsätze von Franz Mehring. Franz Mehring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Mehring
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788027207824
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klarer und schneller entwickelt sich das Bewußtsein. Im Kriege wird der Soldat gemeiniglich viel schneller als der Offizier empfinden das, was ist, und instinktiv danach handeln, und das höchste »Genie« des Feldherrn besteht darin, das instinktmäßige Handeln der Soldaten nach seinen inneren Gründen zu erkennen und gemäß dieser Erkenntnis entschlossen zu handeln. Wie schwer das selbst für sehr namhafte Generale noch immer ist, kann man aus den Berichten und Denkwürdigkeiten von Carnot, Dumouriez, Hoche, Gouvion St. Cyr und anderen Offizieren erkennen, welche die Freiwilligen der französischen Republik zu organisieren und ins Feld zu führen hatten. Nach diesen Zeugnissen, die dann so eifrig ausgebeutet worden sind, um das volkstümliche Element der Landwehr trotz 1813 und 1814 möglichst aus dem preußischen Heere auszuscheiden, waren die Freiwilligen nicht viel mehr als Falstaffs Steifleinene, und doch scheiterten die österreichischen und preußischen Mustertruppen an dem Damm, den ihnen angeblich so verwahrloste Scharen entgegenwarfen.

      Alle Kriegsgeschichte wird erst verständlich, wenn man sie auf ihre ökonomischen Grundlagen zurückführt. Sie verflüchtigt sich dagegen in einen historischen Roman, wenn man das größere oder geringere »Genie« der Feldherren zu ihrem bewegenden Hebel machen will. Die gebildeteren Generale des achtzehnten Jahrhunderts wußten recht gut, welch herrliche Sache die Volksbewaffnung sei. Der Graf zur Lippe, der Marschall von Sachsen haben es offen ausgesprochen, auch Friedrich schon als Kronprinz in seinem Anti-Macchiavell. Er führt da aus: Die Römer kannten die Desertion nicht, ohne die heutzutage kein Heer denkbar ist. Sie kämpften für ihren Herd, für alles, was ihnen das teuerste war; so dachten sie nicht daran, den großen Zweck durch schnödes Davonlaufen zu vereiteln. Aber bei unsern Völkern ist das ganz anders. Bürger und Bauern unterhalten zwar das Heer, aber sie ziehen nicht selbst zu Felde, die Soldaten müssen aus der Hefe des Volkes genommen und durch die härteste Gewalt an die Fahne gefesselt werden. Nenne man es »Genie«, daß Friedrich und andere Kriegsmänner seiner Zeit die ganze Gebrechlichkeit der Söldnerheere durchschauten, aber dies »Genie« änderte nichts an der Strategie und Taktik des Söldnerkrieges und hatte nicht einmal so viel theoretische Bedeutung, daß die gelehrten Strategen der großen Militärmächte die Volksbewaffnung verstanden, als sie ihnen leibhaftig und in einem sehr fühlbaren Lehrkursus entgegentrat.

      Mit der Umwälzung der ökonomischen Zustände wälzt sich auch die Heeresverfassung um, und es liegt in der Natur der Dinge, daß sich die Praxis der Masse sehr viel schneller in die veränderten Verhältnisse schickt als die Theorie der einzelnen. Deshalb lernen die Offiziere an den Soldaten, nicht aber die Soldaten an den Offizieren. Amerikanische und französische Bauern haben die Strategie des neunzehnten Jahrhunderts erfunden, und es hatte schon seinen guten Sinn, wenn der alte Ziegler einmal in einer Militärdebatte des deutschen Reichstags sagte: Die sogenannten Sachverständigen haben sich immer blamiert. Sie haben sich immer blamiert, wo das militärische Sachverständnis sich über die Konsequenzen der ökonomischen Entwicklung hinwegsetzen wollte. Friedrich erzielte seine Erfolge, weil er sich in das Söldnerheer als das zu seiner Zeit einzig mögliche fügte, obgleich er die Vorzüge des Volksheeres wohl erkannte; die sachverständigsten Offiziere seines Heeres haben dann aber nach seinem Tode, unbeschadet ihrer persönlichen Begabung für den Kriegsdienst, die verschiedensten Schicksale gehabt, je nachdem sie ihr Sachverständnis den veränderten ökonomischen Zuständen anzupassen wußten oder nicht, je nachdem sie von den Soldaten lernen konnten oder nicht.

      In Friedrichs späterer Zeit gehörten zu den bedeutendsten Offizieren seines Stabes der Kapitän v. Steuben und der Major v. Berenhorst. Beide erfuhren die »Ungnade« des gegen geistig hervorragende Offiziere immer mißtrauischen Königs und verließen das preußische Heer. Steuben ging nach Amerika, wo er sich bekanntlich große Verdienste um die militärische Organisation der Rebellen erworben hat. Hier sagte er schon 1793 einem deutschen Besucher, dem Militärschriftsteller v. Bülow, die französischen Freiwilligen, über deren Untüchtigkeit ihre eigenen Generale gleichzeitig nicht genug klagen konnten, führten denselben Krieg wie die amerikanischen Farmer, und sie würden ebenso unüberwindlich sein. Berenhorst trat nicht wieder in militärische Dienste, aber er schrieb seine berühmten Betrachtungen über die Kriegskunst, worin er das friderizianische Heer einer scharfen, von der Nachwelt durchaus bestätigten Kritik unterwarf. Er sagte von Friedrich sehr treffend: »Wohl verstand er die Maschine zu gebrauchen, minder wohl, sie zu zimmern«; er geißelte »die äußerste Grobheit, Härte und Dienstsklaverei«, »die Mikrologie und den Minutismus der Paradekünste«. Und dieser scharfsichtige Beobachter verstand doch so wenig, worauf es ankam, daß er noch zwei Jahre nach der Schlacht von Jena schreiben konnte, der »Genius der Taktik« müsse ein »höheres Hilfsmittel« erfinden, um die napoleonische Kriegführung lahmzulegen.

      Schärfer noch spiegelt sich unsere Auffassung in den Lebensläufen zweier berühmter Generale wider. Hat das preußische Heer je einen genialen Feldherrn und Organisator besessen, der sich ganz aus eigener Kraft und durch alle junkerlichen Kabalen hindurch, trotz seiner bäuerlichen Abstammung zu den höchsten Militärstellen emporschwang, aber dabei immer ein Herz fürs Volk betätigte und sich von allem schnauzbärtigen Wesen frei hielt, so war es Scharnhorst. In dem Jahrzehnte vor Jena arbeitete er mit äußerster Anstrengung an der Reform des preußischen Heeres, aber mitten in diesem Heere lebend blieb er trotz allen theoretischen Studierens der napoleonischen Feldzüge in der friderizianischen Strategie befangen. Erst in dem Herbstfeldzuge von 1806, als er die französischen Truppen selbst manövrieren sah, in den letzten Schachzügen vor der Schlacht von Jena, die er als Generalstabschef des preußischen Oberbefehlshabers zu leiten hatte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er suchte die überlegene Kriegführung der Franzosen sofort nachzuahmen, aber bei der Beschaffenheit des preußischen Heeres natürlich ohne Erfolg. Kein militärisches »Genie« vermochte die zerschmetternde Niederlage des preußischen Heeres abzuwenden. Allein Scharnhorsts wirkliches Genie betätigte sich nunmehr darin, daß er den wirklichen Zusammenhang der Dinge erkannte und mit gar keinem »Genie« rechnete, sondern in sieben Jahren fast übermenschlicher Kämpfe gegen den unglaublich beschränkten König und gegen die unglaublich eigensüchtige Junkerklasse das preußische Heer auf diejenigen ökonomischen Grundlagen stellte, die diesem Heere einen erfolgreichen Kampf mit dem französischen Heer ermöglichten. Scharnhorst wie seine Freunde Gneisenau, Boyen, Grolman forderten die Befreiung der Bauern mindestens ebenso energisch wie Stein, Schön, Hardenberg.

      Aber auf der schmachvollen Flucht nach Jena zeichnete sich der Oberst Yorck mit seinem Jägerregimente durch glückliche Gefechte bei Altenzaun und Wahren aus; es waren die einzigen kleinen Erfolge, die das preußische Heer in dem ganzen Feldzuge davontrug. Yorck schlug die französischen Abteilungen, die ihn verfolgten, mit ihrer eigenen Tirailleurtaktik. Nun war Yorck aber in allem das gerade Gegenteil von Scharnhorst: ein Offizier der alten Schule, der das friderizianische Heer am liebsten bis auf den letzten Gamaschenknopf erhalten hätte, ein finsterer, gallsüchtiger Anhänger der eisernsten Disziplin, ein kassubischer Junker voll der borniertesten Klassenvorurteile. Allein er hatte sich in jenen Bataillonen leichter Infanterie heraufgedient, die Friedrich noch kurz vor seinem Tode zu errichten befahl, und wenn diese Bataillone auch im allgemeinen sich nicht den Existenzbedingungen des preußischen Heeres entziehen konnten und demgemäß bald dieselben steifgedrillten Linientruppen wurden wie alle anderen Bataillone, so gab es doch ein Regiment im Heere, das auf annähernd ähnlichen ökonomischen Grundlagen stand wie das französische Heer; eben das Jägerregiment, zu dessen Obersten Yorck einige Jahre vor Jena ernannt worden war. Das Regiment war von Friedrich in den Schlesischen Kriegen gebildet worden, um doch eine bewegliche Truppe gegen die Kroaten und Panduren des österreichischen Heeres zu haben; für diesen Zweck durfte es begreiflicherweise nicht aus fremdländischen Söldnern und hörigen Bauern, sondern mußte aus Leuten gebildet werden, die ihr persönliches Interesse an die Fahne fesselte. So wurde es aus lauter gelernten Jägern rekrutiert, aus Söhnen von Ober- und Unterförstern und andern Beamten, die mit dem Dienst im Regimente sich eine Anwartschaft auf eine Versorgung in der Försterei erwarben. Solchen Leuten konnte der Parademarsch nicht eingeprügelt werden: Sie durften sogar bei den Revuen vor dem Könige in bequemen Haufen vorbeimarschieren. In währender Friedenszeit war das Regiment, das im Kriege sehr gute Dienste getan hatte, dadurch zum Spott aller friderizianischen Gamaschenknöpfe geworden: »einen alten barocken Giebel« nannten sie es, der in dem prächtigen Bau dieses prächtigen Heeres stehengeblieben sei. Das Regiment war eine militärische Kuriosität geworden, und Yorck übernahm nur mit größtem