Gesammelte historiografische Beiträge & politische Aufsätze von Franz Mehring. Franz Mehring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Mehring
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788027207824
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wenn Calvin in Wittenberg und Luther in Genf gelebt hätte, die Geschichte des modernen Europa einen ganz anderen Verlauf genommen haben würde. Zum Unglück für diese geistreiche Auffassung war nun aber, Person an Person gemessen, Calvin womöglich noch beschränkter und unduldsamer als Luther, der solche Dinge wie den Scheiterhaufen des Servet immerhin nicht auf seinem Konto hat. Aber der historische Luther war in Genf so unmöglich wie der historische Calvin in Wittenberg. Die reiche Handelsstadt Genf hätte die bischöfliche Gewalt eines weltlichen Fürsten sowenig ertragen, wie in dem »alten Dorfe Wittenberg«, das nach Luthers Zeugnis in termino civilitatis, an der Grenze der Zivilisation lag, eine demokratische Kirchenverfassung möglich gewesen wäre. Am schärfsten trat der Gegensatz natürlich in der hauptsächlichsten Streitfrage zwischen Calvin und Luther hervor, in dem Abendmahlsstreite, den die aufklärerische Sekte der ideologischen Geschichtschreibung – ihre anspruchsvollste, aber keineswegs ihre tiefsinnigste Sekte! – als einen sinnlosen Streit um leere Worte aufzufassen geneigt ist. Luthers Einsetzungsworte ließen den Priester das Brot und den Wein in Fleisch und Blut Christi verwandeln; sie machten also aus dem Geistlichen den Schöpfer des Gottes und somit aus dem bischöflichen Landesherrn den Oberpapst von lauter kleinen Päpstlein. Aber jenes revolutionäre Bürgertum, dessen religiöser Wortführer Calvin war, dachte schon, was Lessing später sagte, daß nämlich die vielen kleinen Päpste unerträglicher seien als der eine große Papst, und so ließen sie es bei dem Abendmahle als einer bloßen Erinnerungsfeier an Jesu Opfertod bewenden.

      Mit andern Worten: Calvinismus und Luthertum waren die verschiedenen religiösen Widerspiegelungen verschiedener ökonomischer Zustände des Bürgertums. In jenem siegten seine ökonomisch schon entwickelten, in diesem blieben seine erst halbentwickelten Elemente stecken. In Deutschland war aber nicht nur durch den Widerstreit der ökonomischen Interessen zwischen den einzelnen Teilen des Landes die Entwicklung der bürgerlichen Klassen gehemmt worden, sondern die großen ökonomischen Umwälzungen des sechzehnten Jahrhunderts stürzten die deutschen Städte sogar von der schon erreichten Höhe. Die Seeherrschaft der Hansa, die das nördliche Deutschland überhaupt erst aus der mittelalterlichen Barbarei gerissen hatte, ging unaufhaltsam verloren. Die Konkurrenz der durch ausgedehnte Schiffahrt und bedeutenden Fischfang mächtigen Holländer, die ökonomische Erstarkung der skandinavischen Länder, deren Handel die Hansa mehr oder weniger monopolisiert hatte, die Beseitigung der hansischen Handelsprivilegien in England durch die Königin Elisabeth, diese und andere sich wechselseitig fördernden Umstände führten den Untergang des mächtigen Städtebundes herbei. Aus dem Verkehre mit dem europäischen Nordosten wurden die niederdeutschen Städte durch die Engländer und Holländer fast völlig verdrängt; vom Handel mit England blieb ihnen nur ein sehr kleiner Teil; im Handel mit Spanien und Portugal ließen die Holländer sie kaum aufkommen; vom Verkehr mit beiden Indien und mit der Levante waren sie völlig ausgeschlossen. Ebenso hatte der Handel der oberdeutschen Städte infolge der Eroberung Konstantinopels durch die Türken, die Umschiffung des Vorgebirgs der Guten Hoffnung durch die Portugiesen und den durch beide Tatsachen verursachten Niedergang des Handels der italienischen Städte schon gegen die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts seine Bedeutung großenteils verloren. Und je mehr das Anwachsen des Kapitalismus zur Ausdehnung seiner Märkte, das heißt zu den großen geographischen Entdeckungen des Reformationszeitalters führte, je schneller der Welthandel vom »Mittel- und Nordmeer« an die Gestade des Atlantischen Ozeans übersiedelte, um so mehr versiegten die Quellen des Wohlstandes für das nördliche wie für das südliche Deutschland, um so tiefer sanken die bürgerlichen Klassen des deutschen Volks.

      Der Niedergang der deutschen Städte war aber auch der Niedergang der deutschen Reformation. In den entscheidenden Tagen des Bauernkrieges vermochten sich die Städte nur zu einer halben und zweideutigen Haltung aufzuschwingen, und darnach hatten die Fürsten das Heft in der Hand. Sehr mit Recht hat Engels eine Parallele zwischen dem deutschen Bürgertum von 1525 und 1848 gezogen, beide Male unterlag es halb aus Mangel an revolutionärem Mut gegen den Feudalismus, halb aus Überfluß an reaktionärer Angst vor dem Proletariat. Wir möchten nur noch auf ein zeitgenössisches Zeugnis hinweisen, auf einen Brief Wilibald Pirckheimers, des berühmten Patriziers von Nürnberg, der wohl als der klassische Vertreter des deutschen Bürgertums im Reformationszeitalter betrachtet werden kann. Kurz vor seinem 1530 erfolgten Tode schrieb er, er sei anfänglich gut lutherisch gewesen, aber im Vergleiche mit den evangelischen Buben erscheine die römische Büberei noch fromm. Die habe nur mit Gleisnerei und List betrogen, während die jetzigen offen und ungescheut ein schändlich Leben führten. Der gemeine Mann sei durch dieses Evangelium also unterrichtet, daß er nicht anders gedenke, denn wie eine gemeine Teilung geschehen möge; und wo die große Strafe nicht wäre, würde sich bald eine gemeine Beute erheben, wie an vielen Orten auch schon geschehen sei. Das schreibe er jedoch nicht darum, daß er des Papstes und seiner Pfaffen und Mönche Wesen loben könnte oder möchte, vielmehr wisse er, daß es in viel Weg sträflich sei und einer Besserung bedürfe. Doch seien die Papisten zum mindesten unter ihnen selbst eins: Dagegen seien die, so sich evangelisch nennen, mit dem höchsten untereinander uneins und in Sekten zerteilt; die müßten ihren Lauf haben wie die schwärmenden Bauern, bis sie zuletzt gar verwüten. Schreiben Herrn Wilibald Pirckheimers an Joh. Tscherte, König Karls V. Bau- und Brückenmeister in Wien. In Murrs Journal zur Kunstgeschichte usw., 10, 36 ff. Man sieht: Das »Teilen« und die »Spaltungen« der Sozialdemokratie sind eine alte Geschichte, doch darf man deshalb den alten Pirckheimer nicht auf eine Stufe mit den kapitalistischen Soldschreibern von heute stellen. Er war ein sehr gebildeter Mann, und seine halb reuige Rückkehr zum Papsttum hatte doch auch noch einen tieferen Sinn als die gemeine Philisterangst vor dem »Teilen«. Es geschah nicht oder doch nicht nur durch jesuitische Gewalt und List, es war auch nicht »Reaktion« im landläufigen Sinne der protestantischen Geschichtsschreiber, wenn sich der kultiviertere und reichere Westen und Süden frühzeitig wieder der alten Kirche zuwandten, wenn Salzburg, Bamberg und Würzburg, Trier, Köln und Paderborn, selbst Fulda und das Eichsfeld mitten im Frieden wieder katholisch wurden. Nicht allein stand der verjüngte Katholizismus hoch über dem schnell erstarrten Luthertum, sondern der Bruch mit Rom bedeutete auch den Bruch mit den damals noch entwickeltsten Ländern Europas, mit Italien, Frankreich, Spanien. Von ihnen hingen die ökonomischen Interessen der oberdeutschen Städte ab, und wenn ihr Handel gerade durch den Verfall des italienischen Handels den Todesstoß empfangen hatte, so pflegt sich der Ertrinkende erst recht krampfhaft an die Planken des Schiffes zu klammern, mit dem er gescheitert ist.

      Dagegen blieb der Protestantismus im nördlichen und östlichen Deutschland vorherrschend. Diese Landesteile waren verhältnismäßig spät in den römisch-christlichen Kulturkreis getreten; sie hatten von Rom immer nur Übles, immer nur die raffinierteste und schamloseste Plünderung erfahren; ihre wirtschaftlichen Beziehungen liefen nicht nach dem südlichen und westlichen, sondern nach dem nördlichen und östlichen Europa hin. Jene Spaltung der ökonomischen Interessen, die das nördliche vom südlichen Deutschland schied, mußte sich auch in der religiösen Widerspiegelung dieser Interessen geltend machen. Aber der deutsche Protestantismus mußte auch ein ganz anderer werden wie der französische, holländische, schweizerische, wenn der ökonomische Schwerpunkt sich von den Märkten der Städte an die Höfe der Fürsten verschob. Zwar bestand an und für sich eine starke Interessengemeinschaft zwischen Bürger- und Fürstentum; wenn die kapitalistische Produktionsweise den nationalen Staat erzeugte, so war der nationale Staat zunächst nur möglich in der Form der absoluten Monarchie. Überall, wo ein einheitlicher, nationaler Wirtschaftsbetrieb entstand, waren die Monarchen sich ihres Ursprungs wohl bewußt: Sie beförderten die wirtschaftlichen Interessen des Landes, den Ackerbau und das Handwerk, den Handel und die Industrie. Gerade daran ging die Hansa zugrunde, daß die erstarkenden fürstlichen Gewalten im nördlichen und östlichen Europa die ökonomischen Interessen ihrer Gewerbe und Handel treibenden Klassen mit schroffer Rücksichtslosigkeit vertraten. Aber in Deutschland kam es eben nicht zu einem einheitlichen Nationalstaate, sondern nur zu einer großen Zahl von Teilstaaten und, wie Lassalle seinen Franz von Sickingen sagen läßt: Durch solche Landparzellen kann die Zugluft der Geschichte nicht streichen. Die deutschen Teilfürsten waren mehr große Grundbesitzer der feudalen als absolute Monarchen der kapitalistischen Zeit; sie sahen in den Städten nicht die Quellen ihrer Macht, sondern die ehrgeizigen und gefährlichen Nebenbuhler des Junkertums; in größerem Stile als die Stegreifritter der Landstraße, aber ganz aus dem gleichen Geiste heraus suchten sie die Hennen zu schlachten, welche die goldenen