Gesammelte historiografische Beiträge & politische Aufsätze von Franz Mehring. Franz Mehring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Mehring
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788027207824
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      Ein prophetisch Wort für Lassalle, ein prophetisch Wort auch für Ziegler! Denn sein Los war das »langsame Verglühen«, und wie traurig ist die einst so hell lodernde Flamme erloschen!

      Im Anfang September 1864 schrieb Ziegler an Ritter: »Der größte philosophische Kopf und unbestritten einer der größten Gelehrten, Lassalle, suchte bei mir Ruhe vor sich selbst ... Ich schreibe unter dem erschütternden Eindruck von seinem Tode. Ha! diese Mittelmäßigen jubeln, diese Juliane, die er gegeißelt; die Myrmidonen tanzen auf dem Grabe des Achilles ... Es ist aus, er ist tot, er war mir Bibliothek, Anreger, Tröster, es ist aus. Mich hat kein Mensch so geliebt wie dieser. Er war ein bildschöner, feuriger, genialer Mensch mit tausend Fehlern, ja Lastern, aber er war ein ganzer Mensch.« Und gleichzeitig schrieb Ziegler an Ruge: »Das allerschlimmste ist, daß in Deutschland das unseligste Manchestertum aufgeschossen ist. Jeder zurückgekommene Kaufmann, jeder verrottete Schiffbrüchige, jeder Kommis usw. schafft sich ein sogenanntes nationalökonomisches Kompendium an, lernt daraus einige Stichwörter, tritt in den nationalökonomischen Verein, macht die Wanderreisen mit, sucht eine Stellung bei irgendeiner Versicherungsanstalt, Bank, Eisenbahn zu erhaschen, nennt sich nun Volkswirt und präsentiert sich als solcher zur Kandidatur, wobei er predigt, daß in heutiger Zeit alle Politik dummes Zeug sei, daß mit der Pflege der materiellen Interessen die Freiheit von selbst käme, daß der Staat eine Schimäre wäre, daß es nur ein Handelsgebiet gäbe, das die Menschen realiter zusammenbände usw. Und so tritt er in die Kammer, wo eine freie Fraktion aus allen Parteien besteht, die oft den Ausschlag gibt und alle Parteidisziplin aufgelöst hat. Warum nicht? Soll es nicht eine volkswirtschaftliche Partei geben so gut wie eine katholische? Allem diesem Unwesen hat die Bildung der Progressistenpartei das Siegel aufgedrückt ... Nun sind alle Prinzipien so tief vergraben, es ist solche Verwirrung der Geister eingetreten, daß eine Entwirrung fürs erste unmöglich ist. Alles jagt nach materieller Gewalt, das heißt nach Reichtum. Zu kolossaler Höhe stapelt er sich auf, mit Leichtigkeit wird er errungen, und der Erfolg ist ein Amnestiedekret gegen jede Untersuchung.« Und so noch eine ganze Strecke weiter.

      Am häufigsten schüttete Ziegler sein Herz in den Briefen an Frau Lewald-Stahr aus, doch müssen hier wenige Proben genügen. Über die Matadore des Volkswirtschaftlichen Kongresses schreibt er ähnlich wie an Ruge: »Seit zehn Jahren warnen Waldeck und ich vor diesen sogenannten ›Volkswirten‹, die sich aus verlaufenen Kaufleuten, verunglückten Literaten, gewissenlosen Gründern von Aktiengesellschaften und schopenhauerschen Philosophen hauptsächlich rekrutieren. Sie sind die Pioniere der raubsüchtigen Bourgeoisie.« Dann im Januar 1865 über eine gerichtliche Verurteilung Jacobys: »Armer, idealer Jacoby! ... Glauben Sie mir, daß, müßte ich sechs Monate sitzen, die Freude unter meinen Freunden allgemein wäre, und ich fürchte, so bescheiden anschließend sich auch Jacoby benommen, auch nicht viel Trauer um ihn ist.« Und im Januar 1866 über den Obertribunalsbeschluß in Sachen der parlamentarischen Redefreiheit: »Sie sind der einzige Depositar meiner Schmerzen. Gestern abend war Parteiversammlung; ich laufe dahin, weil ich denke, die Versammlung erfüllt, erregt zu finden von dem Tribunalsbeschluß. Entweder diese Leute sind alte Römer, von einem Gleichmut, an den Roms Senat nicht heranreicht, oder sie sind Gott weiß was. Man verhandelte ruhig über die Interpellation Wachsmuth, über die Interpellation Bonin usw. und rettete, bei brennendem Hause, nicht die Bilder der Laren, sondern ein paar alte schmutzige Unterhosen.« Und im August 1866 nach der Adreßdebatte: »Als Jacoby heute alle Ehren und Siege als nichtig darstellte, weil sie nicht im Geiste der Freiheit gewonnen, rief mir N., der hinter mir sitzt, zu: Welch maßlose Eitelkeit! Und K., der vor mir saß, drehte sich zu mir mit den Worten: Er ruiniert sich für immer! Wie dieser kleine, gebrechliche Mann weitersprach, immer ruhig, gemessen und im Tone, als diktiere er sein Testament, lief es mir über die Haut. Denn er kam mir vor wie der Prophet auf den Trümmern von Jerusalem, der alles zusammengestürzt und nichtig sieht, nur nicht den ewigen Gott, den er Wahrheit und Freiheit nennt ... Wie heute die kurze Adreßdebatte schon andeutet, wird Geldbewilligung, Indemnität und alles andere kopfüber vorwärtsgehen, und die loyalen Purzelbäume will ich nicht mitmachen. Die königliche Gnade, vereint mit dem momentanen Beifall des Volkes, werden die Segel schwellen, bis das Schifflein wieder auf der Klippe der Reaktion sitzt.« Und an dieser scheiterte denn auch der »einzige Depositar seiner Schmerzen«. Am 3. November 1870 schreibt Ziegler an Fanny Stahr: »Ich kann es nicht zum Haß auf das französische Volk bringen. Es ist ja mitten in der Revolutionsarbeit, die es für uns alle vollbringt. Heruntergebracht durch eine Reihe nichtswürdiger Könige, jetzt zwanzig Jahre gedrückt durch einen Zuchthäusler, der sich mit einer Räuberbande verbunden, die man Militär nennt, verraten, verlassen von allen, kämpft das Volk noch mit unendlicher Bravour durch seine bewaffneten Bürger. Und das Volk nennen Sie verlumpt? Fänden Sie wohl in Deutschland hunderttausend solcher Lumpen, die sich, ohne höhere Order, auf eigene Hand schlagen?« In demselben Monat sollte Ziegler durch die Eugen Richter und Genossen zu einer Felonie an Jacoby verlockt werden; man wollte diesen bei den Landtagswahlen von 1870 für seine sozialpolitischen Ketzereien strafen und Ziegler in dem Berliner Wahlkreise wählen, den Jacoby bis dahin vertreten hatte. Allein in stolz-verächtlichen Worten lehnte Ziegler ab, an eine Stelle zu treten, wo »dieser große Bürger« nicht mehr genehm sei; ein freisinniger und protestantenvereinlicher Prediger übernahm dann die traurige Rolle. Ziegler aber wurde mehr und mehr ein stiller Mann; er hat nicht, wie Jacoby, seinen ausdrücklichen Übertritt zur sozialdemokratischen Partei vollzogen; er fühlte sich abgehetzt, alt, matt, müde bis in den Tod. Aber daß er nur noch in den arbeitenden Klassen die Rettung der Nation sah, wissen alle, die ihn in seinen letzten Lebensjahren gekannt haben, wissen namentlich auch die sozialdemokratischen Abgeordneten, die mit ihm im Reichstage saßen.

      Doch was hat dies mit der Lessing-Legende zu tun? Nicht weniger als alles. Denn es enthält ein gutes Stück ihrer Geschichte. Während die drei Männer, die das Lessing-Buch von Stahr aus der Taufe hoben, weil sie in den bürgerlichen Klassen noch lessingischen Geist erwecken zu können hofften, nach Erkenntnis ihres Irrtums sich den arbeitenden Klassen zuwandten, blieb das Buch selbst in den Händen der Bourgeoisie. Und wie hat sie damit gewüstet! Stahr selbst zwar, der ursprünglich ein Junghegelianer und eifriger Mitarbeiter der Hallischen Jahrbücher war, aber der gleich Ruge den Sozialismus haßte und diesen abgeschmackten Haß auch in Lessings freie Seele hineindichtete, wahrte wenigstens noch leidlich den äußeren Anstand, wie tief er auch persönlich in dem literarischen Koteriewesen der Bourgeoisie versank. Er ließ es dabei bewenden, daß er sich in der ersten Auflage Jacobys Mitarbeiterschaft gerühmt und zum Danke dafür Jacobys Namen auf das Widmungsblatt gesetzt hatte. Seine Witwe aber wütete mit loyaler Feder in dem Buche, und auf dem ersten Blatte lesen wir heute zum schnöden Gedächtnis des literarischen Byzantinismus: Seiner Durchlaucht dem Fürsten Bismarck gewidmet. Das Buch, das einst den Schatten Lessings beschwor, um die bürgerlichen Klassen zum politischen Kampf zu spornen, ist heute gut genug als geistige Stallfütterung für eine träge verkommende und jeden lessingischen Luftzug des Gedankens scheuende Bourgeoisie.

      Ehe wir indessen diese Entwicklung weiterverfolgen, ist es notwendig, jene zweite Gestalt der Lessing-Legende auf ihren sachlichen Gehalt zu prüfen.

      V. König Friedrich und Lessing

       Inhaltsverzeichnis

      Um den König Friedrich als einen Geistes- und Gesinnungsgenossen der bürgerlichen Klassiker und insbesondere Lessings erscheinen zu lassen, werden zunächst einige Sätze von ihm ins Treffen geführt, die als geflügelte Worte etwa so lauten. Erstens: Der Fürst ist der erste Diener des Staats. Zweitens: Ich will ein König der Armen sein. Drittens: Gazetten dürfen nicht genieret werden. Viertens: In meinen Staaten kann jeder nach seiner Fasson selig werden. Da nun diese Grundsätze einerseits mit der ganzen Regierung des Königs in mehr oder minder schreiendem Widerspruche stehen, andererseits von ihm kurz vor oder gleich nach seiner Thronbesteigung geäußert worden sind, also zu einer Zeit, wo sich der furchtbare Druck löste, unter dem ihn sein Vater von Kindesbeinen an gehalten hatte, so könnte man versucht sein, sie für Ausflüsse des berufenen Kronprinzenliberalismus zu halten. Und in der Tat hält sie Carlyle dafür, der bei allem Heroenkultus doch praktischer Engländer genug ist, um von jener »hübschen Sprache« Friedrichs zu sagen: »Sie erregte