Gesammelte historiografische Beiträge & politische Aufsätze von Franz Mehring. Franz Mehring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Mehring
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788027207824
Скачать книгу
ruhig und geduldig verweilen mag«. Endlich wird als Ursache dafür, daß Lessing »nie bei der Stange« blieb, angegeben seine »Unfähigkeit, eine umfassende Arbeit reinlich abzuschließen«. Ja, für die sauberen Herren, die mit ihren dicken Folianten voll Loyalität und Patriotismus niemals den richtigen Ab- und Anschluß verfehlen, war Lessing ein ganz unreinlicher Trödelhans. Erich Schmidt, Lessing, 1, 4, 10, 377. Herrn Schmidts Urteil über Lessings Vater ist um so ungerechter, als der Pastor primarius von Kamenz das einzige Mitglied der Familie ist, das eine gewisse Ähnlichkeit mit Gotthold Ephraim zeigt. Dagegen stellen die beschränkte Mutter, die verkümmerte Schwester und namentlich auch die Brüder, der trockene Schulfuchs Theophilus, der versauerte Bürokrat Gottlob Samuel und der unerträgliche Schwätzer Karl Gotthelf lauter Prachttypen des deutschen Philistertums dar. Ihre Briefe zeigen denn auch klärlich, daß die Familie für Lessing im kleinen dasselbe Kreuz war wie die Nation im großen.

      Mag nun aber auch gegenüber den heutigen Literarhistorikern Gervinus wie ein Riese dastehen, so ist seine Würdigung Lessings doch schon ein beträchtlicher Rückschritt hinter die Auffassung Heines. In Gervinus steckte ein gutes Stück Philister; er überhäufte Börne und Heine mit gehässigen Schmähungen, um sich selbst auf den Atta Troll der Gesinnung und Sittlichkeit hinauszuspielen. Gervinus, Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, 8, 180 ff. So trägt er in Lessing manches hinein, wovon dessen freie Seele nichts gewußt hat; der kriegerische Ton der Literaturbriefe, ihr eroberndes Ungestüm soll von den Einwirkungen des Siebenjährigen Krieges »nicht frei« sein! In diesem Zusammenhange wird denn auch Goethes »berühmte Stelle« angezogen und die »schlagartige Wirkung« jenes Krieges auf das geistige Leben in Deutschland gepriesen. Ja, in einem umfangreichen Kapitel schildert Gervinus »Preußens Teilnahme an der poetischen Literatur«, wobei Gleim und Ramler als Chorführer mit einem höchst seltsamen Gefolge fragwürdiger Gestalten aufmarschieren. Gleichwohl ist das bürgerliche Bewußtsein in Gervinus doch noch trotz aller philisterhaften und professoralen Verschnörkelung viel zu lebendig, als daß er nicht gelegentlich wieder mit den Geständnissen herausplatzen sollte, in Wahrheit habe Ramler von den Gaben der Muse nichts besessen, Gleim sei ein guter Mann gewesen, aber auch nicht mehr, und es sei ein Spott, zu sehen, wie der »ruhmreiche Schlesische Krieg« nichts Wichtigeres hervorgerufen habe als die sogenannte Bardendichtung, die Gervinus mit Recht bedeutungslos und hohl nennt. An diesem Zwiespalte, der schon durch seine Literaturgeschichte geht und ihn die Gestalt Lessings schließlich doch nur wie in einem Zwielicht erkennen läßt, ist Gervinus selbst untergegangen. Er hatte zuviel bürgerlichen Idealismus, um nach der großen Enttäuschung von 1848 wie sein Freund Mathy im Bank- und Börsenspiele sich zu trösten, und zuviel bürgerliches Selbstbewußtsein, um wie sein Freund Dahlmann auf die Manteuffelei das geflügelte Wort der »rettenden Tat« zu prägen; er sagte vielmehr der Monarchie um ihrer gehäuften Sünden willen ab und hoffte offen auf den »Medeenkessel der Revolution«, worin allein sich die Glieder Europas verjüngen könnten. So trafen ihn die Kriege von 1866 und 1870 allerdings mit »schlagartiger Wirkung«, und seine ohnmächtigen Proteste, wunderliche Mischungen von bürgerlicher Beschränktheit und Ehrbarkeit, machten ihn zum Spotte der Bismärckischen Troßbuben, die an dem sterbenden Manne eine mehr als grausame Rache für das nahmen, womit er sich an Börne und Heine vergangen hatte. Selbst ein so gebildeter Schriftsteller der Bourgeoisie wie Karl Hillebrand konnte nicht umhin, auf das frische Grab von Gervinus eine Ladung von Schmähungen abzufeuern: »Ein Schriftsteller ohne Stil, ein Gelehrter ohne Methode, ein Denker ohne Tiefe, ein Politiker ohne Voraussicht, ein Mensch ohne Zauber oder Macht der Persönlichkeit«, und so achtzig Seiten lang. Siehe Karl Hillebrand, Zeiten, Völker und Menschen, 2, 205 ff. Bezeichnend genug läßt Hillebrand diesem literarischen Schlachtfest einige Lobgesänge auf Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche in seinem Sammelwerke folgen. Um der Philosophie der spießbürgerlichen Rente und der Philosophie des ausbeuterischen Kapitalismus freie Bahn zu schaffen, mußte der letzte Rest des bürgerlichen Idealismus mit Knütteln totgeschlagen werden. – Wegele, Geschichte der deutschen Historiographie, 1069, spricht von einem »wunderlichen Motiv«, aus dem die Literaturgeschichte von Gervinus entstanden sei, Ranke, »Historische Zeitschrift«, 27, 13, in demselben Zusammenhange von einer »außerordentlichen Behauptung«. Den Satz von Gervinus, daß »der Geschichte im großen ein gesetzlicher Lauf geordnet« sei, nennt Ranke eine »trostlose Ansicht der menschlichen Dinge, durch die sich der Historiker in seinen Studien gelähmt und tief herabgedrückt fühlen« müsse. Natürlich! Nach Ranke und seiner Schule »machen« die Könige, die Diplomaten und die Generale die »Geschichte«. Das begeistert den Historiker und hebt ihn hoch. In jenem Gegensatze zwischen Gervinus und Ranke spiegelt sich ein wahrhaft »trostloser« Verfall der bürgerlichen Geschichtsschreibung.

      Als Gervinus über Lessing schrieb, gab es noch keine Lessing-Forschung im engeren Sinne des Worts. Karl Gotthelf Lessing war als Biograph ebenso liederlich und zerfahren wie als Herausgeber, und sein Schalten mit dem Erbe Gotthold Ephraims erschien bereits den Zeitgenossen so abstoßend, daß die »Xenien« ihre Geißel über den »lieblosen Bruder« schwangen. Die Biographie ist neuerdings in der Universalbibliothek von Reclam Nr. 2408 f. wieder von Otto F. Lachmann herausgegeben worden. Mit dankenswerten, aber leider nicht ausreichenden Kürzungen. Die Betrachtungen Karl Gotthelfs sind das hohlste Gerede von der Welt; und seine tatsächlichen Mitteilungen, die sich als eiserner Bestand aus einer Biographie in die andere zu schleppen pflegen, bedürfen nachgerade auch sehr einer kritischen Prüfung. An einem besonders wichtigen Punkte werden wir weiterhin noch seine Unzuverlässigkeit aufzeigen. Erst in den Jahren 1838 bis 1840 besorgte Lachmann seine wissenschaftliche Ausgabe von Lessings Werken, die auch oder vielmehr gerade von denen, welche sie in Einzelheiten zu verbessern und zu vermehren verstanden haben, stets als ein Meister- und Musterwerk gefeiert worden ist. Auf diesem Grunde erwuchs dann die erste wissenschaftliche Lessing-Biographie, deren erster Band mit einer Widmung an Lachmann 1850 von Danzel herausgegeben wurde. Sie steht in einem gewollten Gegensatze zu der historischen Auffassung von Gervinus. Danzel war ein deutscher Gelehrter der alten guten Art, anspruchslos, bescheiden, formlos, so arm, daß er sich als Privatdozent in Leipzig den Lebensunterhalt durch das Übersetzen französischer Schmöker erwerben mußte, und dabei von einem so eisernen Fleiße, daß er bei seinem im dreiunddreißigsten Lebensjahre an der Schwindsucht erfolgten Tode außer einer Reihe kleinerer Schriften zwei große literargeschichtliche Werke hinterließ, eins über »Gottsched und seine Zeit« und dann die Lessing-Biographie, deren zweiten Band auszuarbeiten ihm leider nicht mehr vergönnt war. Herr Erich Schmidt hat die Güte, aus seinen »glücklicheren Tagen« auf das »entbehrungsreiche Streben« Danzels »mit Wehmut« zurückzuschauen, und wir würden diese edelmütige Regung zu schätzen wissen, wenn wir anders sicher wären, daß Literarhistoriker, die in einer Lessing-Biographie, wie Danzel es getan hat, den Siebenjährigen Krieg bei seinem richtigen Namen eine dynastische Rauferei um eine Provinz nennen, heute »glücklichere Tage« im Sinne des Herrn Schmidt sehen würden. Doch dies nebenbei.

      Was Gervinus über Danzels »Mangel an historischem Sinn« sagt, hat eine gewisse Berechtigung. Sicherlich ist ein bestimmtes Geisteswerk bis auf seinen letzten Grund nur zu erklären aus den politischen und sozialen Zuständen, in denen sein Verfasser lebte. Vorausgesetzt, daß man die Fähigkeit und den Willen hat, diesen Zuständen auf den Grund zu gehen. Fehlt diese Voraussetzung oder ist sie in zu beschränktem Maße vorhanden, so wird aus der literarischen Geschichte mehr oder weniger eine literarische Legende, und dieser »historischen« Methode ist denn allerdings die philosophische Methode Danzels vorzuziehen, der ursprünglich Hegelianer war und auf metaphysisch-spekulativem Wege das Leben und Wirken Lessings als einen Teil der deutschen Geistesgeschichte zu verstehen suchte. Er gibt zwar nur bedingte Wahrheit, aber immer doch Wahrheit. Wenn er beispielsweise ausführt, daß Lessing einen eigenen Standpunkt mit Hilfe der englischen Literatur gewonnen habe, aber hinzufügt, es heiße die Sache auf den Kopf stellen, wenn man dabei »gemeiniglich vor allen Dingen« an Shakespeare denke, Shakespeare komme darin gerade zuallerletzt an die Reihe, so ist die Bemerkung unzweifelhaft richtig, und sie trägt unendlich viel mehr zur Erkenntnis von Lessings Geiste bei als das landläufige »nationale« Schlagwort, daß Lessing die französische Fremdherrschaft über den deutschen Geist vernichtet und an dem »stammverwandten« Genius Shakespeares die deutsche Literatur genährt habe. Aber erklären kann Danzel den Grund der von ihm erkannten Tatsache nicht, und so räsoniert er eine ziemliche Ecke ins Feld hinein über »normannische Ritterlichkeit und sächsische Kernhaftigkeit« sowie darüber,