Gesammelte historiografische Beiträge & politische Aufsätze von Franz Mehring. Franz Mehring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Mehring
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788027207824
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vorkommen mag als ein »runder Paragraph« aus der eleganten und nationalen Feder des Herrn Erich Schmidt.

      In dem Lichte der wissenschaftlichen Erkenntnis, das der materialistischen Geschichtsauffassung von Marx und Engels entfließt, ist nun sofort zu erkennen, weshalb Lessing als der erste bürgerliche Schriftsteller in Deutschland sich einen selbständigen Standpunkt durch die Hilfe der englischen, und zwar der zeitgenössischen englischen Literatur erworben hat. Denn die bürgerlichen Klassen in Deutschland besaßen noch kein Leben, worauf eine literarische Darstellung fußen konnte, was Lessing, wenn er es bei reiferem Alter nicht schon von selbst erkannte, jedenfalls bei einem Blick in seine eigene Jugendpoesie erkennen mußte. Er mußte sich also an ausländische Muster anlehnen, und da bot sich ihm in verhältnismäßig reichster Entwicklung das Leben und die Literatur der bürgerlichen Klassen in England. Er schöpfte demgemäß für sein erstes selbständiges Dichtwerk, die Miß Sara Sampson, die Motive halb aus einem bürgerlichen Roman von Richardson und halb aus einem bürgerlichen Drama von Lillo; an Shakespeare kam er aber gerade zuallerletzt, nicht aus einer ästhetischen Geschmacksverirrung, sondern weil Shakespeare – aus Gründen, die sich wiederum erklären aus dessen sozialer Stellung als Schauspieler und Schauspieldichter in einer Zeit, wo das Theater von den bürgerlichen Klassen heftig verfolgt wurde – mit den Vertretern dieser Klassen verzweifelt wenig Federlesens macht. Ein soziales Moment also erklärt Lessings Anlehnung an bestimmte englische Muster, und eben dieses Moment erklärt auch seine Stellung zur französischen Literatur. Es ist fast unbegreiflich, wie Lessing immer wieder zum Typus eines Franzosenhassers gemacht werden kann gegenüber der Tatsache, daß er selbst dem Franzosen Diderot den stärksten Einfluß auf die Bildung seines Geschmacks eingeräumt hat. Er haßte und vernichtete kritisch das Muster der französischen Poesie, aber nicht weil es französisch war, sondern insoweit er darin ein falsches, höfisches, entartetes und den Geschmack des deutschen Bürgertums verseuchendes Muster sah; der bürgerlichen Literatur der Franzosen, die ihm darin allein eine Quelle zweiter Hand war, daß sie sich auch erst aus dem englischen Einfluß ableitete, stand er deshalb nicht weniger wahlverwandt gegenüber. Am klarsten tritt dies Verhältnis hervor, wo sich in einer Person das vereinte, was Lessing an der französischen Literatur bekämpfte und liebte. So scharf er die höfische Dichtung Voltaires zerfleischte und sosehr er geneigt war, der Person Voltaires eher zuviel als zuwenig zu tun, so willig ist er diesem großen Schriftsteller überall da gefolgt, wo Voltaire den bürgerlichen Klassen vorankämpfte.

      Überhaupt ist Lessings ganzer nationaler Standpunkt nur aus seiner sozialen Stellung zu verstehen. Wenn Treitschke erklärt, daß Lessing auf einem Gebiete »jene ärmeren Geister« – nämlich: die beiden berühmten Männer Gleim und Ramler – »um ihren Reichtum beneiden konnte: sie waren reicher um die große Empfindung der Vaterlandsliebe«, so ist das falsch. Denn Lessing hat, so namentlich in der Hamburgischen Dramaturgie, über die deutsche Zerrissenheit mit einer Tiefe und Wärme der Empfindung gesprochen, welche Gleim und Ramler, die in dem Anreimen ihres angestammten Teilfürsten ihre höchste Beseligung fanden, nicht einmal zu ahnen vermochten. Und wenn Herr Erich Schmidt »das Heil der deutschen Dichtung und des gesamten geistigen Lebens an die Fahne des aufsteigenden preußischen Staats geheftet« sein und demgemäß Lessing von Sachsen nach Preußen übersiedeln läßt, so ist das wiederum falsch. Denn von einer derartigen »Liebe des Vaterlandes« hatte Lessing, der weder Sachse noch Preuße sein wollte, »keinen Begriff«, und sie schien ihm »aufs höchste eine heroische Schwachheit«, die er recht gern entbehrte. Mit einem Worte: Lessing empfand auch in dieser Frage als der rechte Vorkämpfer der bürgerlichen Klassen, deren elende Zustände sich mit der deutschen Zerrissenheit gegenseitig bedingten und denen erst die nationale Einheit eine große Zukunft verhieß.

      Um nun aber, auf die Lessing-Biographie von Danzel zurückzukommen, so wird die Erläuterung dieses einen Gesichtspunktes schon zur Genüge zeigen, was es mit ihrem »Mangel an historischem Sinn« auf sich hat. Er ist gewiß vorhanden, doch fragt es sich, ob er bei der besonderen Ausbildung des »historischen Sinnes« in der seitherigen Lessing-Forschung nicht in einen Vorzug umgeschlagen ist. Bei der Erläuterung der urkundlichen Tatsachen gerät Danzel oft auf spekulative Irrwege, aber die Tatsachen selbst hat er sorgfältig gesammelt und gesichtet, und er teilt sie so unbefangen und voraussetzungslos, so ohne allen preußischen oder sächsischen oder lippe-detmoldischer Patriotismus mit, daß sein Buch als wissenschaftliches Quellwerk in der Lessing-Literatur noch nicht wieder erreicht, geschweige denn übertroffen worden ist. An Goethes »berühmter Stelle« wagt Danzel zwar nicht schweigend vorüberzugehen, aber er fertigt sie doch mit einer halb ironischen Verbeugung ab und huldigt sonst von sich aus in keiner Weise der »historischen« Auffassung, daß die deutsche Kultur und Literatur ohne den Siebenjährigen Krieg noch bei Gottsched und Bodmer stünde. Sehr zu bedauern ist nur, daß der zweite Band, den Guhrauer nach den Vorarbeiten Danzels abgefaßt hat, nicht auf der Höhe des ersten steht. Er ist nicht allein viel flüchtiger zusammengestellt, was sich vielleicht daraus erklärt, daß Guhrauer gleichfalls über der Arbeit starb, sondern er macht auch der Lessing-Legende manches bedenkliche Zugeständnis.

      IV. Das Lessing-Buch von Stahr

       Inhaltsverzeichnis

      Bücher haben ihre Schicksale – und es trifft sich wohl, daß sie bedeutender werden durch die von ihnen erlebte, als durch die von ihnen erzählte Geschichte. Dies gilt namentlich von der Lessing-Biographie, die Adolf Stahr im Herbste des Jahres 1858 veröffentlichte. Als literarische Leistung hat sie keinen besonderen Wert; sie steht mit beiden Füßen auf dem Boden der Forschungen von Danzel und Guhrauer, und es ist schwer abzusehen, womit Stahr die »nahezu« zwanzig Jahre ausgefüllt hat, die er an die »Vorarbeiten« gewandt haben will. Aber während das Werk von Danzel-Guhrauer ein Menschenalter brauchte, um eine zweite Auflage zu erleben, die beiläufig jetzt nach weiteren zehn Jahren nur noch im Ramsch vertrieben wird, hat das Buch von Stahr nicht weniger als neun Auflagen erlebt. Auf seiner Darstellung beruht vornehmlich das Lessing-Bild, das dem »gebildeten« Deutschen vorschwebt. Vor allem aber hat es drei sehr fürnehme Paten, keine geringeren als Johann Jacoby, Ferdinand Lassalle und Franz Ziegler. Jacoby hat aus seiner Feder ein ganzes Kapitel beigesteuert (Lessing als Philosoph); Lassalle hat das Buch von Stahr in einem umfangreichen Aufsatze sehr anerkennend besprochen, und wenn Ziegler sich unseres Wissens öffentlich nicht darüber ausgelassen hat, so ergibt sich doch aus seinen Reden und Schriften, namentlich aber auch aus seinem Briefwechsel, daß er gewissermaßen das geistige Verbindungsglied zwischen dem Lessing-Buche von Stahr und dem Lessing-Aufsatze von Lassalle darstellt.

      Es ist sehr leicht, über das Buch von Stahr von oben herab abzusprechen, wie es den neueren Lessing-Forschern (Groß, Boxberger, v. Maltzahn, Erich Schmidt usw.) durchweg beliebt. Ein wenig schwieriger ist es, seinen historischen Ort zu bestimmen. Mag man immerhin die neun Auflagen seiner geschickten »Dünnflüssigkeit« zuschreiben, wie Herr Erich Schmidt tut – und er kennt ja den Magen seiner Bourgeoisie –, so ist damit doch noch gar nichts gesagt über das unzweifelhaft hohe Interesse, das Männer wie Jacoby, Lassalle und Ziegler der Arbeit Stahrs geschenkt haben. Und nun gar über Lassalles Lessing-Aufsatz als über eine »Tirade« wegzugleiten, die »nur wegen des Verfassers genannt« sei, ist einfach eine Hochnäsigkeit des Herrn Schmidt, die hoffentlich nicht einmal seinen Studenten imponiert. Gerade wenn man die Lessing-Legende kritisch auflösen will, muß man sich mit den Schwächen des Lessing-Buchs von Stahr und auch des Lessing-Aufsatzes von Lassalle viel gründlicher und viel schärfer auseinandersetzen, als die Schmidt und Genossen tun, aber für diese Auseinandersetzung ist es unerläßlich, zunächst die relative Bedeutung des Buches von Stahr klarzustellen. Freilich ist das Verfahren der neueren Lessing-Forscher gar sehr begreiflich, denn eben jene Schwächen wollen sie erhalten und steigern, während ihnen diese relative Bedeutung ein Dorn im Auge ist.

      Um es kurz zu sagen: Das Buch von Stahr erschien zugleich mit dem Beginne der Neuen Ära und wurde ein Banner für die zu neuem Kampfe sich rüstenden bürgerlichen Klassen. War es wirklich ein Zufall, daß Stahr just damals mit seinen »Vorarbeiten« am Rande war, so hat er jedenfalls doch auch mit einem gar nicht unebenen Instinkte begriffen, was die Glocke in jenem Augenblicke geschlagen hatte. Sein Buch ist durchweg in einem agitatorischen und deklamatorischen Tone geschrieben, der etwas