Gesammelte historiografische Beiträge & politische Aufsätze von Franz Mehring. Franz Mehring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Mehring
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788027207824
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einer sei es auch etwas heiseren Trompete klingen mochte. Stahr gab einer schon verbreiteten Stimmung einen in seiner Weise beredten Ausdruck. Die erwachende Kampflust der bürgerlichen Klassen lenkte ihre Blicke unwillkürlich zurück auf ihren ersten und kühnsten Vorkämpfer; ein gar nicht bedeutender Literat fand dazumal das gute Wort: Auf Lessing zurückgehen heißt fortschreiten. Man darf vor allem den Unterschied zwischen dem damaligen und dem heutigen Bürgertum nicht übersehen. Der Volkswirtschaftliche Kongreß mit seiner weder Haut noch Fleisch noch Knochen verschonenden Manchesterei hatte sich eben erst aufgetan. Noch war der bürgerliche Idealismus nicht erloschen, noch gab es eine philosophische Bildung, noch war der Gegensatz zu den arbeitenden Klassen mehr verschleiert. Waldeck, Ziegler, Jacoby, Rodbertus, v. Kirchmann, ja damals auch noch Schulze-Delitzsch hatten ein größeres oder geringeres Verständnis für soziale Fragen; sie haßten den Militär- und Polizeistaat unbedingt und nicht bloß mit dem zärtlichen Schmollen des heutigen Freisinns, das sofort in weitherzige Nachsicht übergeht, sobald dieser Staat seine Krallen ausschließlich gegen die arbeitenden Klassen kehrt. Unter dem nachwirkenden Einflusse der klassischen Philosophie hatten jene Männer einen überaus hohen Begriff vom Staat, aber es war einzig der demokratische Staat, von dem sie die Lösung umfassender Kulturaufgaben erwarteten. Sie erkannten oder empfanden wenigstens, daß die Bewegung von 1848 an der schwächlichen Haltung der bürgerlichen Klassen gescheitert war, aber sie hofften, daß diesen Klassen durch die zehnjährige Pferdekur der Manteuffelei das Rückgrat genügend gesteift worden sei für einen zweiten Gang mit dem Absolutismus und dem Feudalismus.

      Wir wissen heute, daß der zweite Gang noch kläglicher ausfallen sollte, als der erste Gang ausgefallen war. Wir wissen heute, wie bald jene Männer durch die persönlich tief unter ihnen stehenden und in der Tat überaus mittelmäßigen Größen des Volkswirtschaftlichen Kongresses überrannt wurden, einfach weil hinter diesen die Wucht der kapitalistischen Interessen stand, hinter jenen aber nur ein schwacher Hauch, die Abendröte der bürgerlichen Bildung. Indessen wie wenig diese Schattierung für den großen Gang der Dinge bedeuten mochte, sosehr gehört sie wie beiläufig in eine Biographie Lassalles, so namentlich in die Geschichte der Lessing-Legende. Ein Blick auf den Mann, in dem sie sich am eigentümlichsten und kräftigsten ausprägt, erklärt leicht den Grund dieses Zusammenhanges.

      Franz Ziegler war ein ausgezeichneter Organisator, vielleicht das größte Verwaltungstalent, das der preußische Staat zu seiner Zeit besaß. Dabei ein Mann von tiefer und vielseitiger Bildung, ein gewiegter Kenner der klassischen Literatur, auch selbst ein Dichter, dessen Novellen nur deshalb einer frühzeitigen Vergessenheit verfallen sind, weil zu ihrem Genuß und Verständnis eine der »gebildeten« Bourgeoisie längst abhanden gekommene literarische Feinschmeckerei gehört. Lassalle sagte seinem Freunde eine Alkibiadesnatur nach, die ihn gehindert habe, sich selbst auszunützen, und ähnlich urteilte Guido Weiß, daß Ziegler das Leben in Süß und Sauer durchzukosten verstanden habe. Aristokrat nicht von Geburt – denn er war als das dreizehnte Kind eines märkischen Hungerpastors geboren –, aber seiner Bildung und seinen Neigungen nach, ein Liebling Friedrich Wilhelms IV., ein stets begehrter und hochwillkommener Gast in den Offizierkasinos der Garde und auf den Landsitzen des brandenburgischen Adels, wurde Ziegler zum Demokraten durch die soziale Frage.

      In noch jungen Jahren war er zum Oberbürgermeister der alten Kur- und Hauptstadt Brandenburg gewählt worden, deren durch Cliquen- und Nepotenwirtschaft völlig zerrüttete Verhältnisse es wiederherzustellen galt. Es war immerhin eine große Verwaltung; zur Stadt gehörten sieben Rittergüter, neun Kämmereidörfer, sechzehntausend Morgen Forst, ein Grundbesitz, dessen Wert damals bereits in die Millionen stieg. Ziegler beseitigte mit durchgreifender Energie die vorhandenen Mißbräuche, und zuerst dadurch erregte er den Haß der eng versippten Geschlechter, die das städtische Vermögen auszubeuten gewohnt waren. Aber dieser Haß wurde unversöhnlich, als Ziegler seine Fürsorge dem städtischen Proletariat zuwandte. Wie das so kam, hat er selbst einmal einem Arbeiterverein erzählt. Nach einem guten Diner ging er im städtischen Forste spazieren, als er eine Frau beim Holzdiebstahle traf. Längst erbittert über die liederliche Forstverwaltung, verhaftete er die Diebin, um sie dem nächsten Förster zu übergeben. Die Frau bat sehr, sie gehen zu lassen; Ziegler schlug es ab. Sie bat dann, wenigstens ihren Jungen aus dem nahen Graben holen zu dürfen. Auch das schlug Ziegler ab; der Junge könne allein nach der Stadt finden; er sähe ja ihre Türme. Ach, sagte die Frau, das ist es ja eben, er sieht nicht. Nun wurde der blinde Knabe herbeigeholt, und von Mitleid ergriffen, geleitete Ziegler die Frau mit dem Jungen und dem gestohlenen Holzbündel durch die Tore der Stadt in ihre Wohnung. Hier fand er, daß die Frau noch einen Sohn hatte, der im sechzehnten Jahre stand und Tuchschererlehrling war. Als solcher verdiente er wöchentlich 25 Silbergroschen (2,50 Mark), und von diesem Lohne lebte die ganze Familie. Kartoffelsuppe mit Lorbeerblättern, die der Frau geschenkt wurden, und etwas ranzige Butter bildeten die gewöhnliche Nahrung. Ein Freisinniger von heute würde sich mit der wohlwollenden Mahnung entfernt haben, daß der Tuchschererlehrling ein »Kapitälchen sparen« müsse; Ziegler aber fragte sich: »Was hast denn du getan für die Menschheit gegenüber dieser am Hungertuche nagenden Familie?« Nach seiner praktischen Art griff er sofort zu, um der Not des städtischen Proletariats zu steuern, baute ein Kranken-, ein Waisenhaus, erhöhte die Fonds der Armenkasse um das Dreifache. Aber er war viel zu einsichtig, um in einer verbesserten Armenpflege mehr als ein dürftiges Palliativmittel zu sehen; er führte als einzige Gemeindesteuer die progressive Einkommensteuer ein, ließ alle Einkommen unter hundert Talern frei, von da begann die Steuer mit 1 Prozent vom Einkommen und stieg progressiv bis zum Satze von 4 Prozent. Und hätte es in seiner Macht gelegen, so würde er auch das allgemeine Stimmrecht als Gemeindewahlsystem eingeführt haben; er vertrat es schon in den vierziger Jahren gerade um seines proletarischen Charakters willen; war ihm doch die Demokratie nur »eine Magd im Dienste der sozialen Frage«. Es kennzeichnet den Mann, daß er, kurz vor Toresschluß noch in die Nationalversammlung von 1848 gewählt, seinen Platz neben Jacoby und Waldeck nahm, obgleich der Staatsstreich kaum eine Frage von wenigen Tagen war. Die darnach hereinbrechende Reaktion bot dann der Bourgeoisie der Stadt Brandenburg die längst ersehnte Gelegenheit, ihren wütenden Haß an Ziegler zu kühlen. Er hatte einige Drucksachen der. Nationalversammlung über die Steuerverweigerungsfrage an seine Wahlmänner geschickt und| sollte dadurch Hochverrat begangen haben. In einem Gerichtsverfahren, das ein wahrer Hohn auf die klarsten Vorschriften des Gesetzes war, wurde er durch sorgsam ausgewählte, nicht sowohl von politischem als sozialem Haß erfüllte Geschworene für schuldig erkannt und vom Gerichtshofe »wegen intendierten Aufruhrs zu sechs Monaten Festung, Verlust der Nationalkokarde und Entsetzung vom Amte des Oberbürgermeisters« verurteilt. Der Verlust der preußischen Kokarde, der heute einen fast spaßhaften Klang hat, war damals eine schimpfliche Ehrenstrafe und hinderte den Verurteilten lange Jahre, sich wieder eine bürgerliche Existenz zu gründen. F. F. Weichsel, Der Zieglersche Prozeß, gibt eine urkundliche Darstellung des schändlichen Verfahrens.

      Nicht im Gegensatze zu den sozialen Anschauungen Zieglers, sondern im Einklange mit ihnen stand sein Begriff vom Staate. Der Staat war ihm, wie Lassalle sich einmal ausdrückte, das »Vestafeuer der Zivilisation«; nur daß für Ziegler der Staat immer ein bestimmter Staat war, der Staat der Intelligenz, der Staat Friedrichs, der historische preußische Staat. In diesem Punkte teilte er die Ansicht seines Alters- und Studiengenossen Ruge, bekannte auch er: »Absolute Monarchie und absoluter Staat sollte man nie verwechseln; letzterer ist vielmehr die Wahrheit und das Ziel der ersteren«, und: »Preußen ist gegenwärtig der Staat, auf den alles ankommt.« Ruge, Sämtliche Werke, 2, 20 und 50. Nicht sowohl aus der Französischen Revolution, die der Bourgeoisie zur Herrschaft verholfen hatte, als aus dem aufgeklärten Despotismus Friedrichs leitete Ziegler seine Ideale her. Stein und Hardenberg waren seine Muster, ja selbst das Allgemeine Landrecht war ihm eine Art geistiger Amme, nicht zwar in seinen feudalen Elementen, die Ziegler vielmehr mit grimmiger Energie bekämpft hat, aber doch in seinen absolutistisch-zentralistischen Tendenzen, in denen auch Tocqueville eine Annäherung an den Sozialismus entdecken wollte. Tocqueville, L'ancien régime et la révolution, 341. Und weil ohne das Heer ein »wahrhaft souveräner und welthistorischer Staat« nicht denkbar war, so ist Ziegler in entscheidenden Augenblicken stets für das Heer eingetreten. So bekämpfte er in der Nationalversammlung von 1848 den Antrag, das Heer vom Eide an den König zu entbinden, mit dem geflügelten Worte: »Die Disziplin ist die Mutter der Siege«; so rief er im Frühling von 1866 seinen Wählern in Breslau das noch bekanntere