Es ist richtig: Der Nebel ideologischer Auffassung liegt auch noch über Heines Darstellung, wie es für seine Zeit ja auch gar nicht anders sein konnte, aber er wird überall von dichterischen Seherblicken wie von leuchtenden Sonnenstrahlen zerteilt. Und so feiert Heine in Lessing nicht sowohl den Dichter, den Gelehrten, den Kritiker, als den Charakter, den Mann, den Bahnbrecher und den Vorkämpfer der bürgerlichen Klassen. Die Kunst war für Lessing eine Tribüne, worauf er zum Volke sprach. Seine Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit, die große Art seines Seins stießen unversöhnlich zusammen mit der Philisterhaftigkeit, mit der lächelnden Schlechtigkeit und der prunkenden Gemeinheit seiner Umgebung; er stand in schauriger Einsamkeit unter seinen Zeitgenossen, von denen ihn einige liebten, aber keiner verstand; sein Ekel an der Wirklichkeit der deutschen Dinge trieb ihn ins Schauspielhaus oder gar ins Spielhaus. Sein ganzes Leben war Kampf, und alle seine Schriften haben eine soziale Bedeutung. In solchen Sätzen schimmert die Bedeutung von Lessings Lebenswerke nicht als einer ästhetischen oder künstlerischen, einer philosophischen oder theologischen, sondern einer sozialen Tat hervor, und eben dies erklärt die echte Wärme des Tones, womit Heine vor allen andern Trägern unserer klassischen Literatur gerade von Lessing spricht.
Einer oberflächlichen Betrachtung mag diese Wärme freilich als »pathetisch« erscheinen. Es ist ja keine Frage: Als Dichter steht Lessing hinter Goethe und Schiller, als Kunstforscher hinter Winckelmann, als Philosoph hinter Kant, als Psycholog hinter Herder, als Philolog hinter Reiske oder Ruhnken zurück. Auch bezeichnet es mehr das Schwert als den Mann, mehr die Form als das Wesen seines Geistes, wenn Macaulay ihn den »ersten Kritiker Europas« nennt. Denn die Kritik war nur das Werkzeug, womit Lessing in den weitesten Bereichen des deutschen Geisteslebens aufräumte. Was er zur tatsächlichen Geltung bringen wollte, das war jenes bürgerliche Selbstbewußtsein, welches er in ungleich höherem Grade besaß als seine Mitlebenden und namentlich auch seine Mitstrebenden, ja in weit höherem Grade, als es die bürgerlichen Klassen nach ihm in hundert Jahren irgend zu erreichen gewußt haben. Er hat als ein einzelner den trägen Widerstand der ökonomisch und politisch gebundenen Masse nicht überwunden, nicht überwinden können; von seinen Jünglingsjahren an warf er sich ruhelos umher, bald hinter den Kulissen, bald als »Zeitungsschreiber bei einem Buchführer«, bald im Kriegslager, bald im Buchladen und dann wieder hinter den Kulissen, ohne sich eine bürgerlich unabhängige Stellung gründen zu können. Bis ihn dann endlich, als er eben den deutschen Staub von seinen Füßen zu schütteln und als ein hungernder Derwisch in die Ferne zu schweifen gedachte, das Unglück einer geliebten Frau in den hölzernen Käfig trieb, den ihm ein ehrgeiziger Duodezdespot in seiner Bibliothek geöffnet hatte. Und das Martyrium seines letzten Lebensjahrzehnts – wie sticht es, erhebend zugleich und erschütternd, von der dämmernden Behaglichkeit ab, in der an einem anderen Duodezhöflein Herder vergrämelte und Goethe verphilisterte! Lessing hatte den deutschen Philister ganz und gar ausgezogen; das gibt ihm die einzige Stellung in unserer klassischen Literatur, und insofern war er der verwegenste Revolutionär, den die bürgerliche Welt in Deutschland hervorgebracht hat bis auf die Börne und Heine, die Marx und Engels, die auch erst im Auslande das werden konnten, was sie geworden sind.
Und so erklärt es sich leicht, daß ein wenigstens in den allgemeinsten Zügen zutreffendes Bild seines Wesens in den einzigen großen Versuch fiel, den die bürgerliche Wissenschaft gemacht hat, um den ideellen Gehalt der klassischen Literatur in die politischen Kämpfe ihrer Klasse aufzunehmen: in die »Geschichte der deutschen Dichtung« von Gervinus, deren erster Band ein Jahr nach jenen Aufsätzen von Heine erschien. Gervinus wollte den Zusammenhang der klassischen Dichtung mit dem gesellschaftlichen und staatlichen Leben nachweisen; er suchte zu schildern, wie unsere großen Dichterwerke »aus der Zeit, aus deren Ideen, Bestrebungen und Schicksalen« entstanden seien, und er beabsichtigte damit, »den übungsbedürftigen und schafflustigen Geist des Volkes aus den Regionen der Ideen und Ideale auf das praktische, politische Gebiet überzuführen«. Und wenn ihm oft – es muß hier dahingestellt bleiben, ob mit Recht oder Unrecht – der Vorwurf gemacht worden ist, daß er den Lorbeerkranz Goethes und Schillers allzu einseitig zerzaust habe, so ist er in richtigem Instinkte seinem Lessing mit geringerem Verständnisse, aber kaum mit geringerer Liebe zugetan als Heine. Lessing ist ihm »der eigentliche Beschwörer des jungen Geistes, der Deutschland erneute«; Lessing stellt »in allen Teilen« den revolutionären Charakter der klassischen Literatur dar, und wie treffend wird der Kampf seines Lebens noch von Gervinus geschildert in den Worten: »Wenn man seinem unsteten Leben folgt, so schlösse man leicht auf einen unruhigen Menschen, dem es nirgends wohl war als auf der Straße, aber sieht man näher zu, so war das Ganze seiner menschlichen Charakterbildung notwendig in dieser Eigenheit bedingt, und durch alle seine Kreuz- und Querzüge schlingt sich ein roter Faden hindurch. Es ist die ewige Widersetzlichkeit gegen den faulen Schlendrian der deutschen Kleinmeisterei und die Armseligkeit des deutschen Gelehrtenlebens, das fortwährende Ringen eines freien Geistes gegen die vielfachen Hemmnisse der herkömmlichen Verhältnisse und Bildung.« Es sei gestattet, gleich danebenzustellen, was Herr Erich Schmidt über das gleiche Problem zu sagen hat. Zunächst orakelt er von Lessings »dämonischer(!) Rastlosigkeit«. Dann behauptet