Gesammelte historiografische Beiträge & politische Aufsätze von Franz Mehring. Franz Mehring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Mehring
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788027207824
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von mehr oder minder geistreichen Ansichten, Meinungen und Mutmaßungen ist, überhaupt erst möglich sein. Einstweilen muß eine Rettung Lessings in jenem bescheidenen Sinne genügen, den er selbst mit den Worten verband: »Ich kann mir keine angenehmere Beschäftigung machen, als die Namen berühmter Männer zu mustern, ihr Recht auf die Ewigkeit zu untersuchen, unverdiente Flecken ihnen abzuwischen, die falschen Verkleisterungen ihrer Schwächen aufzulösen, kurz, alles das im moralischen Verstande zu tun, was derjenige, dem die Aufsicht über einen Bildersaal anvertrauet ist, physisch verrichtet.« Immerhin: Da eine Rettung Lessings auch in diesem beschränkten Sinne nicht möglich ist ohne eine Reihe von Abschweifungen in das literarische und soziale, militärische und politische Leben des achtzehnten Jahrhunderts, so gelingt es vielleicht doch, in der kritischen Auflösung des bourgeoisen Lessing-Zerrbildes die allgemeinen Grundzüge des wahren Lessing-Bildes wenigstens durchscheinen zu lassen.

      II. Der Keim der Lessing-Legende

       Inhaltsverzeichnis

      Der erste Keim der Lessing-Legende findet sich in Goethes »Sprüchen in Prosa«. Es sind ihrer etwas über tausend; Abfälle aus der Gedankenwerkstatt des alternden und des alten Dichters, Eigenes und Angeeignetes, Ethisches, Kunst, Natur, dem Stoffe nach so verschieden wie dem Werte nach. Manches Tiefsinnige und Weltweite; selbst schon ein Anflug von ökonomischer Dialektik, wie im Spruch 305: »Innungszwang und Gewerbsfreiheit, Festhalten und Zersplittern des Grundbodens, es ist immer derselbe Konflikt, der zuletzt wieder einen neuen erzeugt. Der größte Verstand des Regierenden wäre daher, diesen Kampf so zu mäßigen, daß er ohne Untergang der einen Seite sich ins Gleiche stellte; dies ist aber den Menschen nicht gegeben, und Gott scheint es auch nicht zu wollen.« Dann wieder in Spruch 466 das Bekenntnis einer schönen Seele: »So wie der Weihrauch einer Kohle Leben erfrischet, so erfrischet das Gebet die Hoffnungen des Herzens«, oder in Spruch 638 der orphisch dunkle Satz: »In Rücksicht aufs Praktische ist der unerbittliche Verstand Vernunft, weil, vis-à-vis des Verstandes, es der Vernunft Höchstes ist, den Verstand unerbittlich zu machen.« Mitten darin aber als Keim der Lessing-Legende der Spruch 514: »Daß Friedrich der Große aber gar nichts von ihnen wissen wollte, daß verdroß die Deutschen doch, und sie taten das möglichste, als Etwas vor ihm zu erscheinen.« Wonach denn unsere klassische Literatur nichts anderes wäre als eine Empörung des beschränkten Untertanenverstandes gegen schlechte Behandlung durch den König von Preußen. Goethes Werke, 19, 112; Ausgabe von Hempel. Es könnte zweifelhaft erscheinen, ob Goethes Spruch Eigenes oder Angeeignetes wäre, denn Justi schreibt in seiner Biographie Winckelmanns, 2, 301, vom Friedrich des Jahres 1765: »Er blieb, sagte man damals, seiner eigenen Nation fremd und hatte an der Veredlung derselben, welche sein Zeitalter ebenso ehrwürdig machte, wie das Zeitalter Ludwigs XIV. gewesen, keinen anderen Anteil, als daß er Deutschland zur Eifersucht reizte, sich durch eigene Erhebung an seiner Verachtung zu rächen.« Allein obgleich bei Justi selbst dieser Satz in Anführungszeichen steht, kann er nicht wohl »damals«, das heißt 1765, von irgendwem in Deutschland geäußert worden sein. Es scheint vielmehr, daß Justi oder seine Quelle den Gedanken von Goethe umschrieben hat, nur daß Goethe diese Betrachtung nicht »damals«, sondern mehr als vierzig Jahre später anstellte.

      Breiter ausgeführt findet sich derselbe Gedanke im siebenten Buche von »Dichtung und Wahrheit«. Die »berühmte Stelle« ist unzählige Male nachgedruckt worden, aber da ihre erschöpfende Kritik die genaue Kenntnis ihres Wortlauts zur Voraussetzung hat, so muß sie hier noch einmal wiedergegeben werden. Goethe schildert den Zustand der deutschen Literatur, wie er ihn im Herbste von 1765 bei seiner Übersiedlung auf die Hochschule von Leipzig als sechzehnjähriger Jüngling vorfand, und schließt diese nach seinem sechzigsten Lebensjahre geschriebene Übersicht wie folgt:

      »Der erste wahre und höhere eigentliche Lebensgehalt kam durch Friedrich den Großen und die Taten des Siebenjährigen Kriegs in die deutsche Poesie. Jede Nationaldichtung muß schal sein oder schal werden, die nicht auf dem Menschlich-Ersten ruht, auf den Ereignissen der Völker und ihrer Hirten, wenn beide für einen Mann stehen. Könige sind darzustellen in Krieg und Gefahr, wo sie eben dadurch als die Ersten erscheinen, weil sie das Schicksal des Allerletzten bestimmen und teilen und dadurch viel interessanter werden als die Götter selbst, die, wenn sie Schicksale bestimmt haben, sich der Teilnahme derselben entziehen. In diesem Sinne muß jede Nation, wenn sie für irgend etwas gelten will, eine Epopöe besitzen, wozu nicht gerade die Form des epischen Gedichts notwendig ist.

      Die Kriegslieder, von Gleim angestimmt, behaupten deswegen einen so hohen Rang unter den deutschen Gedichten, weil sie mit und in der Tat entsprungen sind, und noch überdies, weil an ihnen die glückliche Form, als hätte sie ein Mitstreitender in den höchsten Augenblicken hervorgebracht, uns die vollkommenste Wirksamkeit empfinden läßt.

      Ramler singt auf eine andere, höchst würdige Weise die Taten seines Königs. Alle seine Gedichte sind gehaltvoll, beschäftigen uns mit großen, herzerhebenden Gegenständen und behaupten schon dadurch einen unzerstörlichen Wert.

      Denn der innere Gehalt des bearbeiteten Gegenstandes ist der Anfang und das Ende der Kunst. Man wird zwar nicht leugnen, daß das Genie, das ausgebildete Kunsttalent durch Behandlung aus allem alles machen und den widerspenstigsten Stoff bezwingen könne. Genau besehen entsteht aber alsdann immer mehr ein Kunststück als ein Kunstwerk, welches auf einem würdigen Gegenstande ruhen soll, damit uns zuletzt die Behandlung durch Geschick, Mühe und Fleiß die Würde des Stoffes nur desto glücklicher und herrlicher entgegenbringe.

      Die Preußen und mit ihnen das protestantische Deutschland gewannen also für ihre Literatur einen Schatz, welcher der Gegenpartei fehlte und dessen Mangel sie durch keine nachherige Bemühung hat ersetzen können. An dem großen Begriff, den die preußischen Schriftsteller von ihrem König hegen durften, bauten sie sich erst heran, und um desto eifriger, als derjenige, in dessen Namen sie alles taten, ein für allemal nichts von ihnen wissen wollte. Schon früher war durch die französische Kolonie, nachher durch die Vorliebe des Königs für die Bildung dieser Nation und für ihre Finanzanstalten eine Masse französischer Kultur nach Preußen gekommen, welche den Deutschen höchst förderlich ward, indem sie dadurch zu Widerspruch und Widerstreben aufgestachelt wurden; ebenso war die Abneigung Friedrichs gegen das Deutsche für die Bildung des Literarwesens ein Glück. Man tat alles, um sich von dem König bemerken zu machen, nicht etwa um von ihm geachtet, sondern nur beachtet zu werden; aber man tat's auf deutsche Weise, nach innerer Überzeugung, man tat, was man für recht erkannte, und wünschte und wollte, daß der König dieses deutsche Rechte anerkennen und schätzen solle. Dies geschah nicht und konnte nicht geschehen; denn wie kann man von einem König, der geistig leben und genießen will, verlangen, daß er seine Jahre verliere, um das, was er für barbarisch hält, nur allzuspät entwickelt und genießbar zu sehen? In Handwerks- und Fabriksachen mochte er wohl sich, besonders aber seinem Volke statt fremder, vortrefflicher Waren sehr mäßige Surrogate aufdrängen; aber hier geht alles geschwinder zur Vollkommenheit, und es braucht kein Menschenleben, um solche Dinge zur Reife zu bringen.

      Eines Werks aber, der wahrsten Ausgeburt des Siebenjährigen Krieges, von vollkommenem norddeutschen Nationalgehalt muß ich hier vor allen ehrenvoll erwähnen: Es ist die erste aus dem bedeutenden Leben gegriffene Theaterproduktion von spezifisch temporärem Gehalt, die deswegen auch eine nie zu berechnende Wirkung tat: Minna von Barnhelm. Lessing, der im Gegensatze von Klopstock und Gleim die persönliche Würde gern wegwarf, weil er sich zutraute, sie jeden Augenblick wieder ergreifen und aufnehmen zu können, gefiel sich in einem zerstreuten Wirtshaus- und Weltleben, da er gegen sein mächtig arbeitendes Innere stets ein gewaltiges Gegengewicht brauchte, und so hatte er sich auch in das Gefolge des Generals Tauentzien begeben. Man erkennt leicht, wie genanntes Stück zwischen Krieg und Frieden, Haß und Neigung erzeugt ist. Diese Produktion war es, die den Blick in eine höhere, bedeutendere Welt aus der literarischen und bürgerlichen, in welcher sich die Dichtkunst bisher bewegt hatte, glücklich eröffnete.

      Die gehässige Spannung, in welcher Preußen und Sachsen sich während dieses Krieges gegeneinander befanden, konnte durch die Beendigung desselben nicht aufgehoben werden. Der Sachse fühlte nun erst recht schmerzlich die Wunden, die ihm der überstolz gewordene Preuße geschlagen