Die Protestantin. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121599
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Nelli mit ihrem Walter ergehen würde? Die Vorzeichen standen jedenfalls denkbar schlecht.

      Jetzt begann die Orgel zu spielen. Neugierig wandte Johanne sich um. Die Tür ging auf, weißes Tageslicht drang in die Kirche und in dem strahlenden Rechteck erschien das Brautpaar. Nellis Hochzeitskleid war aus schwarzem Taft und schmiegte sich um ihren Oberkörper und fiel dann in üppiger Weite auf den Boden. Schwarze Spitze bedeckte den großzügigen Ausschnitt, transparentes Gewebe, das mehr durchblicken ließ, als es verhüllte. Die Ärmel bauschten sich bis über die Ellenbogen und endeten in engen Manschetten. Die Locken hatte sie hochgesteckt, ein weißer Schleier fiel auf ihre Schultern.

      Walter Hamelius nahm seinen Zylinder ab, drehte und wendete ihn in den Händen, den Blick starr nach vorn gerichtet. Nelli lächelte traurig.

      Möge Gott der Allmächtige dich beschützen, betete Johanne.

      »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle«, las Johanne. Ihr Blick wanderte über die gesenkten Köpfe der Mädchen, die ihre Stühle im Halbkreis um sie herumgestellt hatten und strickten. Seit Käthe abgereist war, führte sie die Strickstunde allein weiter, aber sie machte es anders als früher, sie ließ die Mädchen arbeiten und las ihnen dabei aus der Heiligen Schrift vor. Einige hatten laut gemault, als sie ihnen ihren Entschluss mitgeteilt hatte. Bisher hatten sie sich während des Handarbeitens immer unterhalten können, und jetzt sollten sie zuhören. Aber Johanne war eine gute Vorleserin, und die Geschichten, die sie auswählte, waren so geheimnisvoll und anrührend, dass sich bald keine mehr beklagte. Sie las von Jakob, der Rahel liebte und Lea bekam, von Bileam und seinem klugen Esel, von Simson, dem Starken, dem die Liebe zu Delila alle Kraft raubte. Sie las das Hohelied der Liebe.

      Während sie las, dachte Johanne an die Liebe, die sie erfüllte und die sie sich so lange nicht eingestanden hatte. Keine Nächstenliebe, keine Gottesliebe, sondern die Liebe zu einem Mann. Und dennoch erschien ihr das Gefühl so rein. So heilig. Wie auf ein Stichwort sah sie Fliedner in den Raum treten.

      »Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht, so wäre mir´s nichts nütze.«

      Sie blätterte um und war glücklich, dass er dort stand und ihr zuhörte.

      Fliedner beachtete Johanne nicht, als sie mit einem Stapel Abschriften unter dem Arm in sein Arbeitszimmer trat. Sie legte die Blätter auf den Schreibtisch und war schon fast wieder an der Tür, als er aufblickte. »Johanne. Ich habe Sie gar nicht bemerkt.«

      »Ich wollte Sie nicht unterbrechen in Ihren Überlegungen.«

      »Meine Überlegungen«, wiederholte er und klang dabei fast bitter. »Meine Überlegungen darüber, ob mein Tun im Arresthaus einen Sinn hat.«

      Sie lächelte überrascht. »Ich verstehe nicht. Ganz bestimmt ist Ihr Einsatz für die Strafgefangenen von höchster Bedeutung. Sie sagen doch selbst, in welch kindlicher Dankbarkeit die meisten Ihre Bemühungen annehmen.«

      Fliedners Antrag auf freiwillige Internierung im Düsseldorfer Arresthaus war abgelehnt worden. Stattdessen hatte er aber die Genehmigung erhalten, das Gefängnis jeden zweiten Sonntag im Monat zu besuchen.

      Seit Oktober wanderte er deshalb vierzehntäglich in die Strafanstalt und verbrachte dort den ganzen Nachmittag und den Abend. Er kümmerte sich mit großer Anteilnahme um jeden einzelnen Sträfling und erzählte Johanne oft von den persönlichen Schicksalen, von plötzlichen Besserungen und unglücklichen Rückschlägen.

      »Was nützen all mein Predigen und meine Ermahnungen«, erwiderte Fliedner, »wenn die Zustände dermaßen im Argen sind. Sie sperren halbe Kinder, die sich des Mundraubs schuldig gemacht haben, oder verirrte junge Männer wie Ihren armen Bruder mit den schlimmsten Übeltätern zusammen, auf dass die Unschuld sich am Laster weiterbilde. Alles ist wild und wüst durcheinander, selbst die Geschlechter sind nur unzureichend getrennt. Unsere Gefängnisse sind eine wahre Hochschule des Verbrechens. Sie müssen sich verändern, und zwar im großen Stil.«

      Johanne dachte an Laurenz, der in wenigen Wochen entlassen werden würde. Wie er sich wohl in dieser Hochschule des Verbrechens entwickelt hatte? Vielleicht war er ja inzwischen zu einem durch und durch verkommenen Menschen geworden? Und wenn er es nicht war, so würde er es bestimmt werden, denn was erwartete ihn in der Freiheit? Niemand würde ihm eine Arbeit, eine zweite Chance geben. »Ach, Sie tun so viel Gutes, Herr Pastor«, sagte sie mutlos.

      »Aber im Grunde halten auch Sie meine Anstrengungen für sinnlos?«, forschte Fliedner, der sie genau beobachtet hatte.

      »Aber nein, keineswegs. Es ist nur: Was nützt das menschlichste Zuchthaus, wenn die geläuterten Strafgefangenen am Ende draußen ohne irgendwelche Aussichten dastehen? Sie finden keine Anstellung, keine Wohnung. Also landen sie am Ende wieder im gleichen Trott.«

      »Sie sprechen von Ihrem Bruder. Er kommt in Kürze frei, wenn ich mich nicht irre?«

      »Im Dezember.«

      »Dann müssen wir uns jetzt schon nach einer Anstellung für ihn umtun.« In seiner Stimme lag weder Zweifel noch Zögern, er sprach energisch und laut. »Ich werde mich umhören, ob sich nicht irgendwo etwas für ihn bietet, damit er Fuß fasst und nicht gleich wieder in den Sumpf des Verbrechens gerät.«

      Er schwieg und sah sie lange an, und sie merkte, wie ihr warm wurde dabei. »Sie haben recht, Johanne«, meinte er schließlich. »Gerade die Betreuung nach der Entlassung ist eine entscheidende Verantwortung. Wie viel gilt es auch hier zu bedenken und zu unternehmen!«

      »Wenn ich Sie doch nur dabei unterstützen könnte!«, brach es aus Johanne heraus. »Ach wäre ich ein Mann, wie wollte ich mich dafür einsetzen, dass sich alles zum Guten wendet.«

      »Aber denken Sie am Ende, dass nur die Männer etwas ausrichten können? Die Arbeit mit den Armen, Schwachen und Gefallenen war doch schon seit jeher ein Privileg der Frauen. Ihr Geschlecht ist es, das hier am meisten bewirkt hat. Denken Sie nur an die große Elisabeth Fry in England. Bei der Reformierung der Zuchthäuser ist sie mein Vorbild.«

      »Ja, in England mag das angehen, aber hier in den deutschen Landen wäre ein solches Wirken für eine Frau undenkbar.«

      »Auch hier wie überall lässt sich mit Gottes Hilfe Unendliches erreichen. Und das gilt gerade für die Frau, denn ihrem Wesen entspricht das Dienende, Helfende so viel eher als dem des Mannes. Ich rede beileibe nicht von denen, die ihre weiblichen Tugenden und ihre gottgegebenen Grenzen vergessen und die es in allen Dingen und mit Gewalt dem Manne gleichtun wollen. Nein, Johanne, denn gerade frauliche Sanftmut, Nachgiebigkeit und Dienstfertigkeit ist das Wasser, das den Stein höhlt, die Macht, die alles verändert.«

      Während er redete, kam er auf sie zu, blieb dann wenige Schritte von ihr entfernt stehen und hob seine rechte Hand, als wolle er sie segnen. Sie hatte plötzlich den Eindruck, dass er längst nicht mehr über die Neuordnung der Gefängnisse und die Gefangenenfürsorge sprach, sondern über etwas ganz anderes. Über etwas, das sie betraf und ihn und das, was sie miteinander verband.

      Vier Monate war der kleine Walter nun schon alt. Ende Dezember hatte Nelli ihn zur Welt gebracht, jetzt lag er in seiner Wiege in der Wohnstube des Hameliusschen Gutshofes und ertrug geduldig Catharines Patschhändchen. »Walter Brei«, sagte sie streng und versuchte, ihm einen Löffel in den Mund zu stecken, als wäre er eine Puppe.

      »Du tust ihm weh«, sagte Johanne und nahm ihr den Löffel weg.

      »Lauf ein bisschen nach draußen und hilf Frieda beim Hühnerfüttern«, schlug Nelli vor. »Sie freut sich bestimmt darüber.«

      Lächelnd beobachtete sie, wie sie zur Tür stolperte. »Ich freue mich schon darauf, wenn mein kleiner Walter auf seinen Beinchen steht und herumläuft. Ach, ich bin so froh, dass ich ihn habe.«

      »Hast du dich denn inzwischen hier eingelebt?«, fragte Johanne.

      Nelli zuckte mit den Schultern und starrte durchs Fenster auf den sonnigen Innenhof, während Johanne