Die Protestantin. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121599
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Leben zu entkommen, wäre dahin. »Oh guter Gott, nimm sie nicht von uns!«, murmelte sie.

      Käthe, die ihre selbstsüchtigen Gedanken nicht lesen konnte, warf ihr einen mitleidigen Blick zu und beschleunigte ihre Schritte.

      Johanne merkte, wie sie neuen Mut schöpfte. Käthe würde für Mutter beten und Gott würde sie erhören, denn Käthe war gut und fromm und rechtschaffen, und ihr Flehen hatte mit Sicherheit mehr Einfluss auf Ihn als Johannes Gestammel, das wertlos war und voller Eigennutz.

      Keine Schmerzensschreie, nur noch ein kraftloses Röcheln. Die Mutter lag zusammengekrümmt auf dem Bett und nahm weder Johanne noch Käthe war. Stierte mit glasigen Augen an die Decke, als wäre sie schon tot.

      »Ich habe das Fräulein Fliedner …«, begann Johanne. Aber Käthe schüttelte den Kopf, ging zum Bett und beugte sich über Frau König.

      »Haben Sie keine Angst«, sagte sie leise.

      Und es wirkte. Frau Königs Hände lösten sich von der Bettdecke. Sie sah Käthe an.

      »Es will einfach nicht heraus«, krächzte sie.

      Käthe warf Johanne einen schnellen Blick zu. »Geh, setz Wasser auf. Und such alles zusammen, was du an sauberen Tüchern und Decken finden kannst. Wenn du nichts findest, dann wecke die Nachbarn. Beeil dich.«

      Als Johanne die Laken ins Schlafzimmer brachte, hatte Käthe die Mutter in eine sitzende Position gebracht. Frau Königs Kopf hing auf ihre Brust, ihr Atem rasselte. Das Laken zwischen ihren Beinen war dunkelrot vor Blut.

      »Nicht so schnell«, wies Käthe sie leise an. »Aus und ein, aus und ein, aus und ein.« Die ruhigen Befehle zeigten Wirkung. Frau König atmete tief und langsam. Käthe hielt ihre Hand, ihre Brust hob und senkte sich im Einklang mit Frau Königs Atmen. Aber dann fuhr ein Dämon in die Mutter, wütete in ihrem Leib, riss sie fast auseinander. Ihre Augen verdrehten sich, sie heulte wie ein Tier. »Ich will verdammt sein!«, heulte sie. »Warum hat der Dreckskerl mir das angetan?«

      Käthe legte ihren Arm um ihre Schultern, hielt sie aufrecht. Hielt sie.

      »Bald haben Sie es geschafft«, sagte sie, vielleicht sagte sie auch etwas ganz anderes. Ihre Worte verloren sich in den Schreien.

      Erst als die Wehe abklang, bemerkte Käthe Johanne. »Was stehst du herum? Leg die Tücher aufs Bett und sieh nach dem Wasser. Es soll heiß sein, aber nicht kochend. Und schließ die Tür hinter dir!«

      In der Küche zog Johanne den Topf mit dem brodelnden Wasser vom Herd und ließ sich auf einen der Stühle sinken. Im Schlafzimmer begann Frau König wieder zu heulen. Käthes ruhige Stimme ging in dem Schreien unter. Dann wurde es still, bis eine neue Wehe einsetzte. Und immer so weiter und weiter, nur dass die Ruhepausen immer kürzer wurden und das Gebrüll immer matter. Bis nur noch ein Röcheln aus dem Nebenraum drang.

      Drei Mal wurde das Wasser kalt, jedes Mal erhitzte Johanne den Topf von Neuem. Im Schlafzimmer war jetzt alles still. Zögernd, widerwillig, öffnete Johanne die Tür einen Spaltbreit. Ihre Mutter lag mit gespreizten Beinen auf dem blutroten Lager, der Kopf ruhte auf der Brust. Käthe saß neben ihr, mit gesenktem Kopf. Sie schien leise zu beten.

      Eine Totenwache, dachte Johanne. Aber noch war es nicht vorüber, noch war Leben in der Mutter. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei. Und kein Laut drang heraus. Käthe ergriff ihre Hand, beugte sich über sie, flüsterte. Johanne konnte ihre Worte nicht verstehen.

      Dann hob Frau König den Oberkörper, die Augen traten fast aus den Höhlen. Käthe beugte sich zwischen ihre Beine, stemmte die Knie auseinander. Johanne biss sich auf die Faust, wollte nicht schreien und schrie doch, im selben Moment, in dem auch Käthe aufschrie. Und dann drang ein neues Geräusch in den Raum. Das dünne Quäken eines Neugeborenen.

      »Johanne«, hörte sie Käthes erleichterte Stimme. »Komm herüber zu uns und begrüße deine kleine Schwester.«

      Käthe und Johanne badeten das kleine, runzlig rote Wesen in lauwarmem Wasser und wickelten es dann in ein Laken. »Wie winzig sie ist«, flüsterte Johanne.

      Käthe nahm den Säugling und wollte ihn Frau König geben. Aber die schlief, das Kinn ruhte auf der Brust, der Mund war halb geöffnet.

      »Wir lassen sie erst einmal sein«, flüsterte Käthe. »Nimm du die Kleine und halte sie gut fest.«

      Während Käthe die verschmutzten Laken entfernte und das Bett frisch bezog, hielt Johanne ihre neugeborene Schwester. Sie betrachtete die winzigen Hände, die sich um den Rand der Decke schlossen. Die ovalen Fingernägel. Runde, zarte Wangen. Ein feiner, fast unsichtbarer Haarflaum bedeckte die Haut. Ein zarter Duft ging von ihr aus, den Johanne noch nie in ihrem Leben gerochen hatte.

      »Ich werde auf dich achtgeben«, flüsterte sie ihrer Schwester so leise zu, dass nicht einmal Käthe es hören konnte. »Ich werde immer für dich da sein.«

      An die missbilligenden Blicke der Kaiserswerther Frauen hatte Johanne sich längst gewöhnt. Kleine Kinder, die noch nicht laufen konnten, gehörten der gängigen Ansicht nach nicht auf die Straße. Aber Johanne scherte sich nicht um die Meinung anderer. Sie packte ihre kleine Schwester in ein Holzwägelchen und zog sie hinter sich her. Ein paar dicke Kissen sorgten dafür, dass das acht Monate alte Mädchen einigermaßen aufrecht saß.

      Zu Hause konnte sie Catharine nicht lassen. Die Mutter zeigte kein Interesse an der jüngsten Tochter. Am Anfang hatte Johanne sie immer wieder daran erinnern müssen, dem Kind die Brust zu geben. Frau König schien das Geschrei des hungrigen Säuglings gar nicht zu hören. Nach ein paar Wochen versiegte die Muttermilch und Johanne übernahm die Ernährung der Schwester.

      Von Anfang an betrachtete Catharine Johanne und nicht Frau König als ihre wahre Mutter. Sie gluckste vor Freude, wenn Johanne sie hochnahm, und weinte, wenn sie sie zu Hause zurückließ, um Frau Händel vorzulesen oder Schreibarbeiten abzuliefern. Was nicht verwunderlich war, denn die Mutter legte sie einfach nur in einen Weidenkorb, schob sie in die düsterste Ecke des Zimmers und vergaß sie dort.

      Johanne erledigte ihre Einkäufe auf dem Markt, legte Kohl, Kartoffeln und Rüben zu Catharine in den Wagen, nur die Eier packte sie vorsichtshalber in ihre Tasche. Dann schlug sie den Weg in die Neue Straße ein. Vielleicht war Käthe zu Hause und hatte Nachricht von Fliedner. Vierzehn Monate war er nun schon unterwegs.

      Der Karren holperte über die Feldstraße. Catharine hielt das Schaukeln und Poltern für einen tollen Spaß. Vor Begeisterung quietschend versuchte sie sich im Wägelchen aufzurichten und wäre dabei fast auf die Straße gefallen.

      Johanne hielt an und setzte sie wieder hin. Und ging rückwärts weiter, damit sie die Kleine im Auge behalten konnte. Hin und wieder ein schneller Blick über die Schulter, ob der Weg frei war. Bis Catharine die Kartoffeln entdeckte, die im Wagen herumrollten, danach griff und sie glucksend auf die Straße warf. Wieder hielt Johanne an, setzte das Kind zurecht, ermahnte sie, sammelte die Kartoffeln ein, ging weiter. Dabei achtete sie nicht mehr auf den Weg und prallte rückwärts gegen ein Hindernis. Sah Catharine zur Seite rutschen und dann fiel sie selbst.

      »Haben Sie sich verletzt?« Eine besorgte Männerstimme. Über ihr tauchte ein schwarzer Hut mit einer merkwürdigen dreieckigen Krempe auf, ein Fremder streckte ihr seine Hand hin. Sommersprossen auf dem Handrücken.

      »Es war äußerst nachlässig von mir, mein Reisegepäck auf der Straße stehen zu lassen«, sagte er, während Johanne sich über Catharine beugte und sie aufrichtete.

      »Das war es.« Sie wischte sich den Staub vom Rock. Und sah den Fremden zum ersten Mal richtig an.

      Es war Fliedner. Der sie nun ebenfalls erkannte.

      »Johanne.« Die vertrauten hellen Augen wanderten über ihr Gesicht, sie merkte, dass sie mit offenem Mund vor ihm stand und klappte ihn erschrocken zu.

      »Sie sind zurückgekommen«, sagte sie. »Ich … wir haben Sie sehr vermisst, hier in Kaiserswerth.«

      »Auch ich habe alle sehr vermisst«, erklärte Fliedner.