Die Protestantin. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121599
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hatten alle gewusst, dass es nicht mit rechten Dingen zugehen konnte, dass irgendetwas nicht stimmte. Es gab keine Arbeit, nicht in Kaiserswerth und in der Umgebung auch nicht. Aber sie sprachen es nicht an und machten die Augen zu und redeten nicht darüber. Sie nahmen das Geld und gaben es aus, wider ihr besseres Wissen. Bis die Gendarmen in die Wohnung polterten und ihn mitnahmen.

      »Wegen Tabakschmuggels hat man ihm drei Jahre gegeben«, murmelte Fliedner, als sie ihren Bericht beendet hatte. »Und die ärgsten Mörder und Totschläger kommen mit kaum schlimmeren Strafen davon.«

      »Zumindest wird er nicht öffentlich zur Schau gestellt und gebrandmarkt«, sagte Johanne bitter. »Obwohl es auch hierzulande genügend Leute gibt, die dafür plädieren. Vielleicht haben sie sogar recht. Immerhin wird ein Verbrecher, der so grausam bestraft wurde, seine Straftat gewiss nicht wiederholen.«

      Fliedner schüttelte heftig den Kopf. »Ich bin nicht dieser Ansicht, Johanne. Ein solch unmenschlicher Strafvollzug erreicht genau das Gegenteil. Gerade rohe Menschen werden so nur noch verstockter und verhärteter. Statt sie auf den Weg der Besserung zu bringen, schneidet man ihnen die Rückkehr zur menschlichen Gesellschaft ab.«

      Sie zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls muss Laurenz froh sein, dass er in einem deutschen Zuchthaus einsitzt und nicht in Amsterdam. So habe ich es freilich noch nie betrachtet.«

      »Aber nein«, widersprach er wieder. »Wenn wir auch noch nicht ganz so bestialische Zustände haben wie in den Niederlanden, so sind wir doch nicht viel besser.«

      »Es wird eben überall auf der Welt das Gleiche sein«, meinte sie resigniert.

      Fliedner ordnete geistesabwesend die Schreibfedern in seinem Federkasten. »Ich habe das Frauengefängnis von Newgate besichtigt, das einen ganz und gar anderen Eindruck bot. Im Gegensatz zu den holländischen Verhältnissen herrschten hier Ordnung und Sauberkeit, Moral und Erbauung. Hierzulande dagegen hat der Staat die Gefängnisse vergessen und die Kirche nicht minder. Das muss sich ändern. Das wird sich ändern.«

      »Aber wie?«

      »Erst einmal werde ich mir einen Eindruck verschaffen.« Fliedner strich mit der Hand über den Brief, den er vorhin beendet hatte. »Mit diesem Schreiben beantrage ich die Erlaubnis, mich für einige Wochen mit den Gefangenen einschließen lassen zu dürfen.«

      »Allmächtiger!« Johanne riss die Augen auf. »Das ist doch viel zu gefährlich. Die Verbrecher werden Sie in Stücke reißen«

      »Nicht doch. Dort sind auch Menschen wie Ihr Bruder.« Er stand auf und wirkte auf einmal sehr erschöpft. »Ach Johanne. Es gibt so unendlich viel zu tun! So viele Schwache und Verirrte, die unserer Hilfe bedürfen. Und wir können so vieles erreichen, wir müssen es nur richtig angehen.«

      Johanne sah ihn an. Ein warmes Gefühl durchdrang ihren Körper und jagte die letzte Kälte aus ihren Gliedern. Wir hatte Fliedner gesagt.

      Bei ihrem nächsten Besuch im Pfarrhaus öffnete ihr einer der Jungen die Tür. Etwas ratlos führte er Johanne in die Küche, wo seine große Schwester saß und weinte, auf dem Schoß einen Brief, der stellenweise völlig aufgeweicht war.

      »Was ist geschehen, Käthe?«, fragte Johanne erschrocken und hockte sich neben die Freundin.

      »Die Mutter …«, stieß Käthe mühsam hervor.

      »Tot?«, flüsterte Johanne.

      »Nein, nein, um Himmels willen.« Käthe tupfte sich mit einem durchweichten Taschentuch übers Gesicht. »Sie möchte, dass ich zu ihr nach Wiesbaden komme, wo sie eine Pension zu eröffnen gedenkt. Ende März soll ich abreisen.«

      »Aber das geht doch nicht! Fliedner braucht dich. Und die ganze Gemeinde auch!«

      »Lorchen soll an meiner Stelle hierher kommen«,

      Lorchen war ihre jüngste Schwester, das einzige der Fliedner-Kinder, das noch bei der Mutter lebte. »Sie soll auch lernen, wie man einen Haushalt führt, sagt Mutter. Und ich bin ihr in der Pension die größere Hilfe.«

      »Und was sagt der Pastor dazu? Und deine Brüder, die werden dich doch nicht einfach ziehen lassen?«, meinte Johanne bestürzt.

      »Karl soll mit nach Wiesbaden«, meinte Käthe. »Unser ältester Bruder Ludwig wird ihn unterrichten. Georg soll hier bleiben, bis er aufs Gymnasium geht. Und Theodor wird sich bestimmt nicht widersetzen. Mutter braucht mich, und ihr Wohlbefinden stellt er stets über das eigene. Du liebe Güte, Lorchen ist so jung und in allem so unerfahren, wie soll sie ihn nur genügend unterstützen?«

      Sie begann wieder zu schluchzen.

      »Oh Käthe!« Erst jetzt begann Johanne zu verstehen. Käthe würde Kaiserswerth verlassen, würde sie verlassen. »Was soll ich nur ohne dich anfangen?« Sie nahm die schmalen Hände der Freundin und hielt sie fest. Wenn Käthe nicht mehr hier wäre, gäbe es auch für sie keinen Grund mehr, so häufig im Pfarrhaus zu erscheinen.

      Sie hörte die Haustüre gehen. Käthe hob den Kopf und zog ihre Hände aus Johannes Griff und wischte sich mit den Handrücken über die Augen. Dann faltete sie den Brief zusammen und schob ihn zurück in den Umschlag. »Ich bin ein dummes Ding. Weißt du noch, wie ich damals vor Heimweh geweint habe, als ich gerade aus Idstein hier angekommen war? Oh, wann werde ich es endlich lernen, Gottes Entscheidungen anzunehmen und ihnen in Demut zu folgen. Hält Er nicht immer seine Hand über mich, wo immer ich auch hingehe?«

      Zwei Wochen später kam Lore an und kurz darauf begleiteten sie Käthe zu dem Kahn, der sie nach Wiesbaden bringen sollte. Ein heftiger Wind peitschte die graugrünen Wellen des Flusses. Eine Dohle flog darüber hinweg, dicht über der Wasseroberfläche. Es sah aus, als versuchte sie höher zu steigen, aber ihr fehlte die Kraft dazu.

      An der Anlegestelle fiel Käthe Johanne in die Arme. »Hilf Lorchen. Und hilf Fliedner, ich bitte dich darum«, flüsterte sie ihr zu.

      »Ich will alles tun, was ich kann«, wisperte Johanne zurück.

      »Tu mehr«, sagte Käthe und schaute ihr fest in die Augen. »Wenn er dich fragt, dann willige ein. Ihr seid füreinander bestimmt, dessen bin ich mir ganz sicher.«

      Was sagte Käthe da? Aber bevor Johanne sie fragen konnte, war Fliedner neben sie getreten, um sich ebenfalls zu verabschieden. Sie sah zu, wie sich die Geschwister umarmten. Wie Käthe den Nachen bestieg, ein letzter Gruß zu ihren Brüdern, ein Nicken, das galt Johanne. Dann legte das Schiff ab.

      Erst als es fast hinter der Flussbiegung verschwunden war, hob Johanne die Hand und begann zu winken.

      Käthes Abschiedsworte gingen ihr nicht aus dem Sinn. Konnte das sein, war das möglich? Dass Fliedner darüber nachdachte, ihr einen Antrag zu machen? Aber worauf wartete er dann? Johanne hätte alles darum gegeben, nur noch einmal mit Käthe darüber reden zu können. Aber in ihren vielen Briefen erwähnte die Freundin das Thema nicht, und Johanne selbst wagte nicht, es anzusprechen.

      Käthe gegenüber wagte sie es nicht, aber schließlich vertraute sie sich der alten Frau Händel an.

      »Was meinen Sie dazu?«, fragte sie, nachdem sie die ganze Sache endlich stotternd und staksend herausgebracht hatte. »Könnte Fliedner wirklich eine ernsthafte Verbindung im Sinne haben?«

      »Nun, wie ich ihn einschätze, plant er keine heimliche Affäre«, sagte die alte Dame trocken. »Aber das ist nicht die Frage.«

      Natürlich war das die Frage, dachte Johanne. Die einzig wirklich wichtige Frage, die sie nicht mehr losließ.

      »Es geht doch nicht darum, ob Fliedner Sie zur Frau nehmen will. Sondern darum, ob Sie ihn wollen.«

      Ob ich ihn will, dachte Johanne. Ihre Brust zog sich zusammen, in ihren Ohren rauschte das Blut, ein Tosen und Toben, bei dem sie keinen klaren Gedanken fassen konnte.

      »Lieben Sie ihn, Johanne?«, fragte Frau Händel.

      Da löste sich der Druck von ihrer Brust und alles war still.

      »Ja«,