Die Protestantin. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121599
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»Also soll sie die Finger von ihm lassen. Das muss ich ihr als ihre Freundin doch sagen!«

      Die Witwe betrachtete sie nachdenklich. »Ach Johanne, wie sehr erinnern Sie mich heute an mich selbst, als ich in Ihrem Alter war. Sie sind so streng zu anderen. Und noch strenger zu sich selbst. Ich befürchte, es wird auch Sie sehr viel Zeit kosten, Ihr Lebensglück zu finden.«

      »Aber Ihnen ist es doch so gut ergangen. Als Sie mit Ihrem Mann vermählt wurden, war das nicht … Ihr Lebensglück?«

      Frau Händel lachte. Trank einen Schluck Tee und stellte die Tasse dann mit leisem Klirren auf den Unterteller. »Nein, das war es ganz und gar nicht. Ich habe meine frühe Heirat bitter bereut. So leidenschaftlich Händel um mich geworben hat, so grausam und herrisch hat er mich nach der Hochzeit behandelt. Ich war eine Gefangene der Ehe … bis dass der Tod sie endlich schied. Um die Wahrheit zu sagen, Johanne: Ich danke Gott jeden Tag dafür, dass er Händel so früh zu sich gerufen hat.«

      »Frau Händel!« Johanne war fassungslos.

      »Glauben Sie mir, Johanne, wenn es möglich wäre, würde ich Ihnen raten, so schnell als möglich Witwe zu werden. Es gibt nichts, was diesen Stand übertrifft. Vorausgesetzt natürlich, dass man frei von finanzieller Sorge ist.«

      »Aber, das ist …« Johanne fand keine Worte.

      »Gottlos?« Die von knotigen Adern durchzogenen Hände der alten Frau strichen fast zärtlich über ihren schwarzen Rock. Dann faltete sie die Hände im Schoß. Johanne roch den zarten Vanillegeruch ihres Gesichtspuders. »Nun, es entspricht der Wahrheit, warum soll ich es dann nicht aussprechen. Überlegen Sie doch selbst, Johanne: Als Ehefrau sind Sie Ihrem Mann untertan, so verlangt es das Gesetz. Als ledige Jungfer sind Sie abhängig von Ihrer Familie. Doch als reiche Witwe können Sie tun und lassen, was Sie wollen. Gibt es etwas Besseres als die Freiheit?«

      »Aber nicht jeder Mann ist verderbt und nicht jede Ehe ist schlecht.«

      »Da haben Sie recht. Und wenn meine Ehe gar so niederdrückend war, dann gebe ich daran beileibe nicht nur Händel die Schuld. Ich habe sicherlich auch meinen Teil dazu beigetragen. Nein, Johanne, die Ehe muss nicht notwendigerweise ins Unglück führen. Aber sie macht auch nicht immer glücklich.« Als sie Johannes betroffenes Gesicht sah, legte sie ihr die Hand auf den Arm. »So, jetzt aber genug mit dem dummen Geschwätz. Sie werden nicht umhin kommen, Ihre eigenen Erfahrungen zu machen, und das ist gut so. Genießen Sie Ihre Liebe, egal was daraus wird. Es werden sich immer wieder neue Wege auftun. Für Sie und auch für Ihre Freundin Nelli.«

      »Bringst du schon wieder einen neuen Stapel?« Käthe trat einen Schritt zur Seite, damit Johanne in den dunklen Korridor des Pfarrhauses treten konnte. »Langsam muss das Werk doch endlich einmal beendet sein.«

      Johanne lachte. Ihr warmer Atem bildete eine weiße Wolke in der kalten Winterluft, die mit ihr ins Haus gedrungen war. In den vergangenen Monaten hatte sie eine Menge Zeit mit Fliedners Reiseaufzeichnungen verbracht. Mitunter hatte sie große Mühe, seine flüchtige Handschrift, die vielen Abkürzungen und Korrekturen zu entziffern. Jeden Donnerstag brachte sie ihm die fertigen Abschriften.

      Käthe klopfte an die Tür von Fliedners Studierzimmer, öffnete die Tür und ließ Johanne eintreten. »Soll ich euch noch einen Tee kochen?«

      Johanne, die völlig durchgefroren war, hätte das Angebot gerne angenommen. Aber Fliedner schüttelte geistesabwesend den Kopf. »Lass uns nur ruhig allein, Käthchen«, murmelte er, ohne den Kopf von dem Brief zu heben, an dem er gerade schrieb, und forderte Johanne mit einer schnellen Geste auf, Platz zu nehmen.

      Verstohlen rieb sie ihre kalten Füße aneinander, während sie darauf wartete, dass er sein Schriftstück beendete. Hauchte in ihre Hände und spürte, wie das Blut in die Finger floss, heiß und schmerzhaft. Sie ließ ihre Blicke durch den Raum wandern. Auf dem Fensterbrett stand ein Glas mit einem blühenden Kirschzweig, der kam sicher von Käthchen. Ansonsten war das Zimmer geprägt von Fliedners Persönlichkeit. Die Holzregale bogen sich fast unter der Last der Bücher. Johanne dachte an Frau Händels Bücherschrank. Die beiden Bibliotheken unterschieden sich bestimmt gründlich voneinander. Einen Novalis oder Klopstock würde sie in Fliedners Regal vergeblich suchen. Johanne erhob sich. Ihre Füße fühlten sich an wie Eisblöcke, als sie vor die Regale trat.

      Spener, Francke, Neander, Fichte. Wie sie vermutet hatte, kannte sie keinen der Autoren, es schienen alles theologische und philosophische Fachwerke zu sein. Daneben hatte der Pastor viele Gebets- und Gesangbücher gesammelt. Außer deutschen Namen las Johanne die Namen etlicher englischer Autoren, und als sie sich gerade abwenden wollte, fand sie doch noch ein Fach mit weltlicher Literatur. Theodor Körner, Ernst Moritz Arndt, Mathias Claudius und ein schmales Bändchen mit Gedichten von Novalis.

      Wie ordentlich hier alles war. Auf dem Tisch die Blätter mit den Reiseaufzeichnungen. Links seine Texte, rechts ihre Abschrift. Tintenfass, Streusanddose, ein Holzkasten mit Federhaltern und Federn, daneben ein Kerzenhalter. Johanne stellte sich vor, wie Fliedner abends bei Kerzenschein schrieb. Ruhig und friedlich war es hier im Raum, ganz anders als bei ihnen zu Hause in der ewig schmutzigen, lauten Küche. Was hätte sie um ein solches Zimmer gegeben.

      Sie seufzte. Fliedner sah von seinem Brief auf und nickte ihr zu. »Ich bin gleich fertig«, sagte er. »Nur noch ein paar letzte Worte.«

      Und setzte schon seine Unterschrift unter das Schriftstück. »Entschuldigung. Aber es war mir ein großes Anliegen, diesen Brief zu vollenden.«

      »Darf ich fragen, worum es geht?«, erkundigte sich Johanne.

      Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände im Nacken. »Als ich im letzten Jahr in Amsterdam war, hatte ich ein schlimmes Erlebnis«, begann er zu erzählen. »Es war auf dem Marktplatz der Stadt, dort hatte man Sträflinge zur Schau gestellt. Jeder trug ein Brett vor der Brust, auf dem sein Verbrechen bezeichnet war. Einige Sträflinge wurden vor den Augen des gaffenden Pöbels bis an die Hüften entkleidet und an einen Balken gefesselt, sodass sie sich nicht mehr bewegen konnten. Dann peitschte sie ein Henkersknecht mit Ruten aus. Wenn sein Marterwerkzeug nicht mehr genügend zog, nahm er ein neues. Die Umstehenden zählten die Streiche, roh und gefühllos.«

      Laurenz. Als Johanne ihn das letzte Mal gesehen hatte, waren seine Hände gefesselt gewesen. Zwei Gendarmen hielten ihn fest, einer links, der andere rechts. So zogen sie ihn aus der Wohnung. Ihre Blicke waren sich noch begegnet, voller Scham hatte er die Augen abgewendet. Kleve, wo er einsaß, war nicht weit von der holländischen Grenze entfernt, vielleicht wurde er dort von grausamen Wärtern ähnlich misshandelt und bloßgestellt wie diese armen Amsterdamer Sträflinge.

      Sie stellte ihn sich vor, ihren großen, stolzen Bruder, in der Rolle des ausgestellten Verbrechers, der vor aller Augen ausgepeitscht wurde. Und hatte plötzlich Tränen in den Augen und wollte sie zurückhalten, aber es ging nicht.

      Fliedner hatte sich in Rage geredet und erzählte von Frauen und Kindern, die sich an den Schreien der Verbrecher ergötzten, und wie die Übeltäter schließlich mit einem glühenden Eisen gebrandmarkt wurden. Bis er ihr nasses Gesicht und die verquollenen Augen bemerkte. Und endlich innehielt.

      »Ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte er betroffen. »Verzeihen Sie mir, die entsetzlichen Schilderungen sind für ein zartes Gemüt gewiss zu aufwühlend.« Er stand auf, trat neben sie und legte behutsam seine Hand auf ihr kaltes Haar. Sie hob ihr Gesicht und sah ihn an. Er zog seine Hand wieder zurück. Johanne schluckte die Tränen hinunter.

      »Ich bin ja gar nicht so empfindlich«, sagte sie. »Es ist nur, mein ältester Bruder Laurenz sitzt seit mehr als zwei Jahren im Zuchthaus in Kleve ein.« Sie stockte, sah ihn an, wartete auf seine Reaktion. Sein Gesicht war unbeweglich.

      »Es ist zu schrecklich«, sagte Johanne.

      »Das wusste ich nicht«, sagte Fliedner leise.

      »Das weiß kaum einer. Das ist ja auch nichts, worauf man stolz ist.«

      »Weshalb sitzt Ihr Bruder ein?« Er nahm jetzt wieder am Schreibtisch Platz.

      Sie erzählte ihm die ganze traurige Geschichte. Wie ihr Bruder nach seiner monatelangen