Die Protestantin. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121599
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dem runden Hut mit der dreieckigen Krempe. Aber sie? Doch dann fiel ihr Blick auf Catharine. »Oh. Ich bin nicht die Mutter. Catharine ist meine Schwester.«

      »Sie gleicht Ihnen sehr. Und Catharine heißt sie?«

      »Ganz wie Ihre Schwester«, erklärte Johanne. »Und das mit gutem Grund.«

      Fliedner nickte kurz. »Nun, davon müssen Sie mir berichten. Aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen. Ich bin gerade erst angekommen. Ich sehe Sie am Sonntag zum Gottesdienst.«

      Auf dem Nachhauseweg schwebten Johannes Füße ein paar Zoll über dem Boden, nur der Holzwagen verhinderte, dass sie auf und davon flog.

      Fliedner war wieder zurück.

      Achtzehntausendsechshundertundfünfundvierzig Goldtaler hatten Fliedners Kollekte in den Niederlanden und England ergeben. Damit war die Zukunft der Gemeinde gesichert, denn die Zinsen der Sammlung würden auf lange Sicht die Kosten decken.

      Die Erleichterung war groß, doch Fliedner verbat sich jegliche Feierlichkeiten anlässlich seiner Rückkehr. Stattdessen nahm er seine Gemeindearbeit unverzüglich wieder auf, hielt Gottesdienste, besuchte Arme und Kranke, las und spielte mit der Jugend.

      Die Witwe Mühlenbeck war inzwischen aus der obersten Etage ausgezogen, jetzt gehörte das Pfarrhaus allein Fliedner und seiner kleinen Familie. Wie sehr sich ihr Alltag von dem ungeordneten Leben der Königs unterschied, dachte Johanne, die Käthe besuchte, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. In diesem Haus verlief der Tag in geregelten Bahnen, in immer gleichen Abläufen. So unterschiedlich die Pflichten auch waren, die die Geschwister übernahmen, ihre gemeinsamen Gebete, ihr fester Glaube bildeten den Rahmen, der alles umfasste und alles hielt.

      Johanne liebte es, wenn Fliedner von seiner Reise erzählte. Wie Berichte aus einer anderen Welt kamen ihr seine Schilderungen der niederländischen und englischen Gesellschaft vor. Das Leben in der Millionenstadt London, der Kutschverkehr auf den Straßen, die Auslagen in den Geschäften. Ein Festessen, bei dem er dem berühmten englischen Militärführer Herzog von Wellington gegenübergesessen hatte, der neun Jahre zuvor Napoleon bei Waterloo in Belgien besiegt hatte. »Und?«, wollte Johanne wissen. »Hat er unsere Sache mit einer großzügigen Spende unterstützt?«

      Fliedner schüttelte den Kopf. »Ich habe dem Herzog mein Kollektenbuch wohl zugesandt, aber er hat es ohne Gabe wieder zurückschicken lassen.«

      »Dann ist er kein großer Held, sondern nur ein erbärmlicher Geizkragen!«, rief Johanne empört.

      Der Pastor zuckte mit den Schultern. »Glücklicherweise gab es andere, die weit großzügiger waren als er. Industrielle wie der Fabrikherr Robert Owen haben ein Bewusstsein für die Belange der Armen, wie es hierzulande leider den meisten Kaufmännern fehlt. Gleichwohl muss man sehen, dass die Probleme in England um vieles drückender sind als hier. Ich habe auf den Straßen Londons ein Elend gesehen, das ich mein Leben lang nicht mehr vergessen werde.«

      »Da haben wir es ja in Kaiserswerth geradezu gut«, meinte Johanne.

      Fliedner rieb sich die Nasenwurzel. »Die industrielle Entwicklung wird auch vor uns nicht haltmachen. Aber wir können aus den englischen Erfahrungen lernen. Indem wir uns den Armen in tätiger Liebe zuwenden und uns zusammenschließen zu einem starken Bund der Nächstenliebe.« Er nickte mehrmals zur Bekräftigung seiner Worte. »Wir können so unendlich viel bewirken, wenn wir es nur richtig anfangen.«

      Sie nickte ebenfalls, obwohl sie nicht verstand, worauf er hinauswollte. Fliedner trat zum Fenster und schaute hinaus auf die Neue Straße. »Ich werde mich in den nächsten Monaten damit befassen, meine Eindrücke aus den Niederlanden und England aufzuschreiben. Würden Sie mir dabei zur Hand gehen? Meine Schrift ist flüchtig und nicht gut lesbar, aber ich habe gehört, dass Sie sehr ordentlich schreiben.«

      »Das tue ich mit der größten Freude!«, rief Johanne begeistert.

      Das Sonnenlicht malte kreisförmige Flecken auf die Tischdecke. Aus der geschwungenen Porzellankanne drang ein Geruch nach Zimt. Das Mädchen goss die bernsteinfarbene Flüssigkeit in die Tassen, knickste und verließ den Raum.

      »Was quält Sie?«, fragte Frau Händel.

      Johanne sah sie überrascht an.

      «Ich merke doch, dass Ihnen etwas auf der Seele liegt. Seit Wochen schon. Raus mit der Sprache. Was ist es?«

      Johanne rührte Kandis in ihren Tee. »Es ist Nelli. Sie … entgleitet mir. Wir kennen uns, seit ich damals nach Kaiserswerth gekommen bin. Aber jetzt sind wir so weit voneinander entfernt.«

      »Man sieht dich ja kaum noch in der letzten Zeit«, hatte sie am letzten Sonntag zu Nelli gesagt, als sie nach der Kirche auf die Straße getreten waren. Es war ein milder Septembertag und Nelli reckte ihr hübsches Gesicht in die Sonne, um die letzten warmen Strahlen einzufangen. »Lass uns doch ein paar Schritte zusammengehen. Die Luft ist so schön.«

      Nelli zögerte einen kleinen Moment lang. »Also gut, warum auch nicht.«

      Sie spazierten durch das Rheintor hinunter zum Fluss und dann am Ufer entlang.

      »Du hast gewiss auch eine Menge Arbeit, mit deinen Schreibarbeiten und der Kleinen«, sagte Nelli.

      »In Zukunft werde ich sogar noch mehr zu tun haben«, erzählte Johanne stolz. »Der Pastor hat mich nämlich gefragt, ob ich ihm nicht behilflich sein will bei seinen Aufzeichnungen über seine Kollektenreise …«

      »… und natürlich hast du mit Freuden eingewilligt«, fiel ihr Nelli ins Wort.

      Johanne schwieg, gekränkt über den spöttischen Ton. Nelli versetzte ihr einen leichten Stoß gegen die Schulter. »Ach komm, Johanne«, lachte sie. »Du weißt doch, dass ich es nicht so meine. Aber ich finde, es ist an der Zeit, dass du endlich den guten Felix erhörst. Besser als Fliedner ist er allemal. Oder möchtest du gerne als Pfarrersfrau enden?«

      Johanne blieb stehen. »Du bist die Richtige, so zu reden! Schau nur selbst zu, dass dich dein Verehrer heiratet, dann kannst du dir Gedanken um meinen Zukünftigen machen.«

      »Wie meinst du das?«

      »Dein Hamelius. Von dem rede ich. Oder meinst du etwa, dass mir eure Liebschaft nicht bekannt ist?«

      Nellis Schuhspitzen malten Wellenlinien auf den sandigen Boden. »Seit wann weißt du davon?«, fragte sie schließlich.

      »Schon lange. Und ich bin bestimmt nicht die Einzige. So wie ihr euch des Nachts in den Straßen herumtreibt und poussiert.«

      Nelli starrte auf ihre Schuhe und auf die Wellen im Sand und hob dann den Fuß und verwischte alles wieder. Und schwieg. Auf dem Rhein fuhr ein englischer Dampfer vorbei. Der hohe Kamin des lang gestreckten Frachtschiffes stieß eine elegant geschwungene Dampfwolke aus, die sich erst viele Meter hinter dem Frachter im blauen Himmel verlor.

      »Verzeih mir, Nelli«, sagte Johanne leise. »Aber du kannst doch, weiß Gott, jeden anderen haben! Warum hängst du dein Herz an diesen Luftikus?«

      »Ich will ihn eben.« Nellis Stimme klang belegt, aber dann räusperte sie sich, und als sie weitersprach, war ihr Ton wieder hell und unbekümmert. »Und er will mich auch. Es sind nur die Umstände, die ihn davon abhalten …«

      »Du bist ihm zu arm«, sagte Johanne. »Also spielt er lieber mit dir.«

      »Er soll nur aufpassen, dass er sich am Ende nicht selbst verspielt.«

      »Was meinst du damit?« Johanne versuchte Nelli in die Augen zu schauen, aber sie blickte über ihre Schulter hinweg zum Fluss. Das Frachtschiff war hinter einer Flussbiegung verschwunden. Die weiße Dampfwolke hing noch einen Moment lang über den Wellen, bevor auch sie sich verflüchtigte.

      »Es ist fast Mittag«, sagte Nelli. »Ich muss nach Hause.«

      »Sie ist verliebt«, sagte Frau Händel und seufzte verträumt. Vielleicht erinnerte sie Nelli an eine Romanze aus ihrer eigenen Vergangenheit. Vielleicht dachte sie an ihren Mann, den früh verstorbenen. »Sie erwarten, dass Ihnen Ihre Freundin ihr Herz ausschüttet«, sagte sie.