Die Protestantin. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121599
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Käthe wäre außer sich, wenn sie Johannes Auftritt in der Küche miterlebt hätte. Oder gar Fliedner.

      Fliedner. Plötzlich sah sie ihn vor sich, seine hellen Augen, die so tief in sie hineinschauten. Geh zurück, sagte er. Bitte sie um Verzeihung.

      Durch ihre nassen Schuhe zog die Kälte in ihren Körper. Bitte sie um Verzeihung. Ihr wisst nichts, dachte Johanne. Ihre Mutter würde sie gewiss nicht in die Arme schließen, wie der Vater in der Bibel seinen verlorenen Sohn. Sie konnte nicht nach Hause.

      Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Wenn es nur nicht so kalt gewesen wäre. Plötzlich erklangen Schritte. Sie kamen die Kuhstraße herunter, genau auf sie zu. Ein Nachbar, vielleicht sogar ihr Vater, der zurückkam. Johanne trat in eine Toreinfahrt und drückte sich tief in den Schatten der Mauer. Sie wollte auf keinen Fall erkannt werden.

      Die zwei Menschen, die ihr entgegenkamen, nahmen sie in ihrem dunklen Torbogen gar nicht zur Kenntnis. Sie gingen auch nicht vorüber. Wenige Schritte von Johanne entfernt blieben sie stehen. Und klammerten sich aneinander, obwohl der Wind heulte oder gerade weil der Wind heulte. Küssten sich, lautlos, leidenschaftlich, unendlich lange. Johanne schloss die Augen und sah Felix Winters Gesicht vor sich. Denken Sie noch einmal über Ihre Antwort nach. Nein, dachte Johanne. Das war die Antwort, das bleibt sie auch.

      Aus dem Schattengebilde vor ihr drang ein Seufzen.

      »Nelli«, flüsterte eine Männerstimme. »Liebste Nelli.«

      Johanne riss die Augen wieder auf. Reckte den Hals. Vergeblich. Es war zu dunkel.

      Endlich löste sich der Schatten in zwei Figuren auf, die Arm in Arm weitergingen. Das Mädchen war so groß wie Nelli und setzte die Fußspitzen beim Gehen ein wenig nach außen. Wie Nelli. Aber es war nicht Nelli, es konnte nicht Nelli sein. Johanne löste sich aus dem Schatten des Tores und folgte dem Paar.

      Am unteren Ende der Kuhstraße fiel aus einigen Fenstern Licht auf die Straße. Es fiel auch auf Nellis blaues Umschlagtuch und ihren grauen Mantel. Sofort ließen sich die beiden los. Wie bloße Bekannte gingen sie jetzt nebeneinander her.

      Vor Färbers Haus blieben sie stehen. Johanne hörte Nelli noch leise kichern, dann verschwand sie in der Tür. Der Mann sah ihr noch einen Moment lang nach, drehte sich dann um und ging zurück. In letzter Sekunde konnte sich Johanne in einem Hauseingang verbergen.

      Ein Lichtschein fiel auf sein Gesicht, auf die Favoris, das glattrasierte Kinn. Das selbstgefällige Lächeln. Dann verschluckte ihn die Dunkelheit wieder. Walter Hamelius.

      Oh Nelli, dachte Johanne. Hoffentlich weißt du, was du tust.

      Auf dem Heimweg prallte Johanne fast mit zwei Buben zusammen, die die Straße entlangrannten. »Theodor! Heiner!«, rief sie überrascht. »Was macht ihr beiden denn noch hier draußen? Weiß die Mutter, dass ihr euch hier herumtreibt?«

      »Die Mutter hat uns ja hinausgeschickt«, erklärte Heiner. »Wir sollen zur Frau Weißmüller gehen und dort bleiben, bis sie uns wieder holt, hat sie gesagt. Weil es ihr erbärmlich schlecht geht, und wir sie nicht stören sollen.«

      »Und deshalb schickt sie euch in der Dunkelheit weg?« Als ob die Nachbarn nicht schon schlecht genug von ihnen redeten. »Ihr beiden kommt jetzt mit mir zurück. Es ist gleich halb acht, die Frau Weißmüller könnt ihr doch um diese Uhrzeit nicht mehr stören.«

      »Nein, Johanne!«, sagte Theodor ängstlich. »Die Mutter hat gesagt, dass wir unter keinen Umständen eher nach Hause kommen dürfen, als bis sie nach uns schickt. Sonst gibt es Prügel, hat sie gesagt.«

      »Also geht in Gottes Namen zur Weißmüller. Ich sehe zu Hause nach dem Rechten, dann komme ich euch holen.«

      In der Küche war alles finster, nur der schwache Schein des fast verloschenen Herdfeuers erhellte den Raum. Eine Ratte hockte an der Wand unter dem Fenster und glotzte Johanne aus kleinen glänzenden Knopfaugen an. Als Johanne in die Hände klatschte, verschwand sie hinter den Herd. Nicht allzu schnell. In diesem Haus drohte ihr keine Gefahr.

      Die Mutter schien schon zu Bett gegangen zu sein. Warum hatte sie Heiner und Theodor weggeschickt? Johanne zündete eine Lampe an, als sie das Stöhnen hörte. Es kam aus dem Schlafzimmer. Es geht ihr erbärmlich schlecht. Und das totenbleiche Gesicht der Mutter, ihr Ächzen, als sie den Teller vom Regal geholt hatte.

      »Mutter?«

      Wieder dieses Stöhnen. Jetzt war es ganz deutlich zu hören.

      Johanne ging zum Schlafzimmer, wollte die Tür öffnen und ließ fast die Lampe fallen, als sie den Schrei hörte. Ein schrilles Wehklagen, das in ein verzweifeltes Wimmern überging, es klang, als würde jemand von einem wilden Tier zerfleischt.

      Mit zwei Sprüngen war sie im Zimmer. Sah die zerwühlten Decken, das blutverschmierte Laken. Die Mutter, die sich wie rasend hin und her wälzte.

      »Was ist geschehen? Wer ist das gewesen?« Johanne stellte die Öllampe zur Seite, riss die Bettdecke weg. Auch das weiße Nachthemd der Mutter war blutdurchtränkt. Sie heulte vor Schmerz, ihre Hände griffen in der Luft ins Leere, als suchte sie nach der Bettdecke, um sie wieder über sich ziehen.

      Dann war es wieder vorbei, genauso plötzlich, wie es begonnen hatte. Frau König öffnete die Augen und rang nach Luft. »Wer das gewesen ist? Dein Vater ist das gewesen!«

      Der Vater hatte die Mutter so zugerichtet? »Ist er hier?«

      Frau König begann wieder schneller zu atmen und warf keuchend den Kopf in den Nacken. »Ich hab dir doch gesagt, dass du rein gar nichts über die Männer weißt! Das Kind kommt! Geh, mach nicht so ein Gesicht. Lauf zur Hebamme und sag ihr, sie soll sich beeilen, eh es mich auseinanderreißt.«

      Das Echo der Schläge hallte über den ganzen Stiftsplatz. Johanne hörte nicht auf, gegen die Tür zu hämmern. Mach auf, mach endlich auf!

      Irgendwann öffnete sich ein Fenster neben der Tür, ein müdes Frauengesicht starrte sie an. »Wenn du zur Jakobine willst, die ist nicht zu Hause. Vor zwei Stunden haben sie aus Wittlaer nach ihr geschickt, vor Morgen wird sie nicht zurück sein.«

      »Aber ich brauche sie.« Vor Schreck brachte Johanne nur ein tonloses Krächzen heraus. »Meine Mutter stirbt.«

      Die Frau zuckte mit den Schultern. »Ich kann nichts machen, bin bloß die Nachbarin und kann keine Kinder holen. Und zum Doktor Huppertz brauchst du erst gar nicht zu laufen, der besucht seine Leute in Lohausen.« Ihre Miene wurde milder, als sie Johannes entsetztes Gesicht sah. »Geh, lauf nach Hause und hilf deiner Mutter, bist doch selbst schon groß. Du bist damals doch auch auf die Welt gekommen. Sie wird’s auch ein weiteres Mal schaffen.«

      Johanne hörte ihre letzten Worte gar nicht mehr. Sie rannte über den finsteren Platz, und ihre Gedanken rannten ebenfalls, rannten im Kreis, ohne Ziel und Sinn. Keine Hebamme, kein Arzt. Die Mutter, blutverschmiert, wie sie sich auf dem Bett hin und her warf. Und niemand, der ihr helfen konnte. Der Allmächtige ist immer für dich da, hörte Johanne Käthe sagen.

      Käthe!

      Käthe war ruhig und besonnen. Sie hatte so viel Erfahrung mit Kranken. Sie würde wissen, was zu tun war.

      Johanne schürzte ihren Rock und rannte durch die dunkle Kirchgasse, quer über den Marktplatz und die Mühlengasse hoch, bis ihre Lunge von der kalten Nachtluft brannte. Fast hätte sie die Klingelschnur am Pfarrhaus abgerissen, so heftig zerrte sie an dem dünnen Seil.

      Und wartete wieder, wartete lange, bis Käthe endlich öffnete. Mit einem flackernden Windlicht stand sie im Hausflur und schaute Johanne erschrocken an.

      »Allmächtiger, Johanne, ist ein Unglück geschehen?«

      »Hilfe!«, keuchte Johanne. »Käthe, bitte! Meine Mutter …, das Kind, es kommt!«

      Käthe reagierte sofort. Sie zog ein Schultertuch vom Haken, schlüpfte in Schuhe und Überschuhe, setzte die Schute auf und verließ das Haus. »Ich wusste gar nicht, dass deine Mutter in der Hoffnung ist«, meinte sie, während sie neben ihrer Freundin hereilte.

      Johanne versuchte