Die Protestantin. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121599
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Hab ich Sie unabsichtlich gekränkt? Bitte, sagen Sie mir, was passiert ist!«

      Johanne spürte, wie das Rauschen in ihren Ohren nachließ. Wie ihr Herz wieder ruhiger schlug. Und stieß die Luft aus. Die Erleichterung. Kein Antrag. Gott sei Dank. Sie lächelte und begegnete gleichzeitig Felix’ erstauntem Blick.

      »Es ist nichts«, sagte sie hastig. »Glauben Sie mir, es ist alles gut. Zwischen Ihnen und mir, meine ich. Es war nur …«

      Sie unterbrach sich und wurde nun doch wieder nervös. Und begann zu schwitzen, ihre Handflächen waren ganz nass. »Ich meine …«, stotterte sie, »… wenn Sie den Eindruck gewonnen hätten, dass ich … und Sie ...« Sie starrte auf die Weiden am Horizont, aber die halfen ihr auch nicht weiter.

      Felix schüttelte den Kopf. Nichts verstand er, sie redete ja auch nichts als wirres Zeug.

      »Also, es ist so … ich möchte Sie ... keinesfalls heiraten«, platzte sie heraus. Und konnte es selbst nicht fassen, was sie da gesagt hatte.

      Felix konnte es auch nicht fassen. Sein Gesicht, so ratlos, so verletzt. Ihres dagegen wurde jetzt glühend heiß, wahrscheinlich leuchtete es in der Dunkelheit.

      Aber die Worte ließen sich nicht mehr zurücknehmen und auch nicht korrigieren. Es war zu spät. Aus, dachte Johanne, jetzt ist alles aus. Unsere schöne Freundschaft, unsere Kutschfahrten, vielleicht sogar die Nachmittage bei Frau Händel. Sie wird mich nicht mehr haben wollen, wenn sie hört, wie dumm und taktlos ich bin.

      Es war Felix, der das Schweigen brach. »Nun, wenn Sie die Sache schon so frei heraus ansprechen«, sagte er. »Ich für meinen Teil würde Sie mit dem größten Vergnügen heiraten. Aber da Sie mir schon vorher einen Korb gegeben haben, muss ich zumindest nicht mehr nach den richtigen Worten suchen, um Ihnen einen Antrag zu machen.«

      Johanne schlug die Hände vors Gesicht. »Es tut mir so leid«, sagte sie mit dumpfer Stimme. »Ich weiß überhaupt nicht, was in mich gefahren ist, so zu sprechen.«

      Felix lachte leise. »Nun sehen Sie mich um Himmels willen an, Johanne. Wenn Sie mich nicht heiraten wollen, dann muss ich wohl oder übel damit leben. Aber ich könnte es nicht ertragen, wenn Sie mich niemals wieder ansehen.«

      Sie ließ die Hände sinken. In der Dunkelheit des Winterabends konnte sie Felix ohnehin nur schemenhaft erkennen.

      »Sie sind sehr großzügig«, flüsterte sie.

      »Das bin ich. Aber dafür müssen Sie mir etwas versprechen«, sagte Felix und klang mit einem Mal ernst. »Denken Sie noch einmal über Ihre Antwort nach. Ich werde Ihre Entscheidung akzeptieren, egal wie sie ausfällt. Aber ich möchte, dass Sie mir noch ein wenig Zeit schenken.«

      Die Mutter war stiller geworden in den letzten Monaten. Ihre unvermittelten Wutausbrüche trafen Johanne und ihre Brüder nur noch selten. Oft saß sie stundenlang in dem alten Lehnstuhl am Fenster und starrte hinaus auf den Hinterhof.

      Es ist das Alter, dachte Johanne. Das macht sie müde und gelassen.

      Sie erledigte am Küchentisch eine Schreibarbeit, während der Vater neben ihr einen Teller Mehlwassersuppe löffelte. Frau König hackte Grünkohl, aber jetzt legte sie das Messer weg.

      »Was ist aus den vier Talern im Zwiebeltopf geworden?«, fragte sie ihren Mann. »Hast du sie etwa genommen?«

      König beugte sich tiefer über seinen Teller. »Was sucht das Geld auch im Zwiebeltopf?«, knurrte er halblaut. »Wahrscheinlich haben es die Ratten weggefressen.«

      »Die harten Taler? Die schmecken nur einer Sorte Ratten. Die das Geld versäuft, obwohl wir es so dringend brauchen.« Die Mutter reckte sich und atmete schwer. »Die Wohnung wird man uns noch wegnehmen, und dann landen wir auf der Straße wie Pack, aber dich wird das nicht kümmern, wirst dich einfach weiter besaufen, was scheren dich Weib und Kinder.«

      Der Vater wischte sich mit dem Hemdsärmel über den Mund und erhob sich. Einen Moment stand er leicht schwankend da.

      »Ja, mach du dich nur davon!« Frau König ergriff das Messer und deutete damit aufgebracht in Richtung Tür. »Geh in die Kaschemme zu deinen Saufkumpanen, deren Gesellschaft ist dir doch angenehmer als die unsere!«

      »Da magst du wohl recht haben.« Er schlurfte zum Ausgang, den Rücken gekrümmt, die Schultern nach unten gezogen. Zog seinen zerlumpten Mantel vom Haken und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche.

      Als er aus der Tür war, ließ Frau König die Arme wieder sinken. Ging zum Regal, holte ächzend einen Teller herunter. Und blieb dann keuchend stehen, als hätte sie eine ungeheure Anstrengung vollbracht.

      »Ein Jammertal«, stöhnte sie. »Und keiner, der einen daraus erlöst. Es wird alles nur immer schlimmer mit der Zeit.«

      »Ach Mutter«, sagte Johanne. »Sieh doch auch das Gute und nicht immer nur das Schlimme. Geht es uns nicht so viel besser als im letzten Winter?«

      »Du meinst es gut, Johanne, aber deine paar Groschen werden unsere Haut auch nicht retten können. Wie viel einfacher wäre es, wenn dein Vater mit seiner elenden Trunksucht nicht wäre. Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn er ...« Aber den Rest des Satzes sprach Frau König nicht aus, den wagte sie nicht auszusprechen.

      Das brauchte sie auch nicht, Johanne wusste auch so Bescheid. Sie stand auf, schob die Blätter zusammen und packte Feder und Tintenfass ein.

      »Ja, mach du dich auch noch davon.« Frau König stemmte die Hände in die massigen Hüften. »Geht nur alle und lasst mich allein, es ist besser so.«

      Als sie schon fast an der Türe war, drehte Johanne sich noch einmal um und kam zurück in die Küche. Und war nun nicht mehr ruhig, sondern zitterte vor Wut. »Du trägst auch deine Mitschuld an Vaters Trunksucht«, sagte sie. »Was musst du ihn auch immer quälen? Sieh dich doch um, wie es hier aussieht. Und wie du selbst aussiehst!«

      Die Mutter starrte sie an. Ihr bleiches Gesicht vor der rußgeschwärzten Küchenwand. »So, stellst du dich auf seine Seite und gegen mich?« Sie holte Luft, und ihr Atem machte ein seltsames kratzendes Geräusch in ihrer Kehle, als sei ihre Luftröhre zu eng. »Warte nur ab, Johanne, du wirst die Männer auch noch kennenlernen und am eigenen Leib erfahren, was es heißt, eine Frau zu sein.«

      Ein kalter Wind fegte durch die Kuhstraße. Johanne ließ sich treiben. Trat in die lehmigen Pfützen auf dem Pflaster, die sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte, Schuhe und Strümpfe waren längst durchnässt.

      Sie war es so leid. Die Klagen, das Jammern.

      Wieso ließ sich ihre Mutter so gehen? Warum putzte sie nicht die Wohnung, anstatt über den Dreck zu schimpfen? Warum hörte ihr Vater nicht auf zu trinken?

      Das Unheil war nicht plötzlich über ihre Familie gekommen, sondern nach und nach. Ein Schlag nach dem anderen. Die Schule fiel aus, weil der Lehrer krank war oder keine Lust mehr hatte, keiner kannte den wahren Grund. Heiner und Theodor blieben wochenlang zu Hause. Dann verlor der Vater seine Stellung in der Seidenfabrik und dann Laurenz. Von Duisburg bis Düsseldorf, von Krefeld bis nach Elberfeld suchten sie nach Arbeit. Fanden keine.

      Johanne dachte an die Nacht vor zwei Jahren. Sie hatten alle am Küchentisch gesessen, als ihr Vater nach Hause gekommen war, sein Gesicht ganz grau. Sie wussten sofort, dass es wieder vergeblich gewesen war. Die Mutter stand auf, nahm ihren Teller und stellte ihn in den Spülstein. Sagte nichts und sagte doch alles. Da drehte der Vater sich um und ging. Erst am frühen Morgen kam er wieder heim, nicht mehr traurig und bedrückt, sondern laut und fröhlich singend. Johanne schreckte aus dem Schlaf hoch, voller Freude. Er sang. Alles war gut.

      Nichts war gut. Vergangenen Monat hatte auch noch die Tuchfabrik in Huckingen ihre Tore geschlossen. Hunderte von jungen, arbeitswilligen Männern saßen auf der Straße. Jeder Fabrikant konnte aus dem Vollen schöpfen, und wenn seine Arbeiter nicht nach seiner Pfeife tanzten, wenn einer aufbegehrte, dann kam er weg, dann kamen neue, die für einen Bruchteil des Lohnes arbeiteten.

      Eine neue Windbö stieß Johanne in den Rücken. Sie sind zum Scheitern verurteilt, dachte sie. Und ich bin es auch,