Die Protestantin. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121599
Скачать книгу
Er bemerkte ihr Unbehagen aber nicht, vermutlich wäre es ihm nicht einmal aufgefallen, wenn sie während der Fahrt vom Bock gefallen wäre, so angeregt scherzte und lachte er mit Nelli.

      Auf dem Angermunder Dorfplatz war schon eine Menge junger Leute versammelt. Gerade begann eine Musikantentruppe zu spielen, und sofort bildeten sich Paare, die miteinander zum Tanzboden zogen. Walter hängte den Pferden Futtersäcke um und dann ging er mit Nelli weg. Sie warf Johanne noch einen schnellen Blick zu, die tapfer zurücklächelte.

      Wenn es nur schon vorbei wäre.

      Sie stand am Rand der Tanzfläche und versuchte so auszusehen, als amüsierte sie sich prächtig. Sie zählte dabei die Minuten. Bis sie von einem jungen Mann zum Tanz aufgefordert wurde. Sein Gesicht und sein dunkles, lockiges Haar erschienen ihr vertraut, aber sie erinnerte sich nicht an seinen Namen.

      »Sie sind Johanne König aus Kaiserswerth«, sagte er, während sie mit Erleichterung feststellte, dass er ein Stück größer war als sie.

      »Und Sie? Kennen wir uns?«

      »Felix Winter«, stellte er sich vor. »Ich komme aus Kalkum.« Bei den ersten Schritten war sie nervös, aber schon nach wenigen Drehungen verlor sich ihre Anspannung, ihre Füße nahmen den Takt der Musik auf und bewegten sich dazu und ihr ganzer Körper folgte, ohne dass sie darüber nachdachte.

      »Sie tanzen gut.« Felix Winters braune Augen waren von winzigen goldgelben Sprenkeln durchzogen. »Dabei habe ich Sie noch nie auf irgendeinem Fest gesehen.«

      Sie lächelte und zuckte mit den Schultern. Woher kannte sie ihn bloß? Sie kam manchmal nach Kalkum, weil sie auch dort Schreibarbeiten erledigte, aber damit verband sie ihn nicht.

      »Er mag dich, das merkt man sofort«, flüsterte ihr Nelli zu, als sie sich für einen kurzen Moment an der Tanzfläche trafen.

      »Ach, was du immer gleich denkst«, wehrte Johanne ab. »Kennst du ihn?«, fragte sie dann.

      »Ja natürlich, aus der Kirche. Er ist evangelisch, wie für dich gemacht.« Nelli wollte noch etwas hinzufügen, aber da kam auch schon Walter Hamelius und zog sie mit sich.

      Sie tanzt immerzu nur mit ihm, dachte Johanne und erinnerte sich plötzlich an einen Spaziergang, den sie und Nelli im Frühling gemacht hatten. Es war einer der ersten warmen Tage gewesen, sie waren am Schwarzbach entlanggegangen und hatten über dies und das geredet und auf einmal war Nelli stehen geblieben.

      »Ich muss schnell einen finden, der mich aus diesem Elend befreit«, sagte sie und Johanne verstand zuerst überhaupt nicht, was sie meinte, die hellgrün austreibenden Bäume am Bachufer und das flirrende Frühlingslicht passten so überhaupt nicht zu den düsteren Worten.

      »Aus welchem Elend?«

      »Aus diesem Dreck, der Armut, aus der Sklaverei im Ochsen.« Nellis Augen glänzten. »Verstehst du nicht? Ich will einen Ehemann, der genug Geld hat, mich zu ernähren. Und vielleicht sogar noch ein bisschen mehr als das.«

      Heirat. Einen Ehemann. In letzter Zeit sprachen alle davon. Ihre Altersgenossinnen verlobten sich, eine nach der anderen. Viele waren sogar schon verheiratet. Emmi, mit der sie sich immer gestritten hatte, war seit Januar mit einem Bauern aus Kalkum vermählt. Sogar die dicke Ilse vom Schuster Franken hatte vor Kurzem ihre Hochzeit gefeiert. Vielleicht war es bei Nelli ja auch bald so weit. Der Gedanke gefiel Johanne nicht.

      »Hast du denn schon einen Bestimmten im Auge?«

      »Vielleicht.« Nelli hob ihre Hand und betrachtete versonnen ihren Ringfinger, als trüge sie schon einen Ehering.

      »Wer ist es, Nelli?«, fragte Johanne, halb neugierig, halb unbehaglich. »Wir sind doch Freundinnen. Sag mir, wer es ist.«

      »So weit ist es längst noch nicht. Aber ich halte dich auf dem Laufenden. Wenn du mir erzählst, wie es bei dir mit der Liebe aussieht.«

      »Bei mir ist nichts«, sagte Johanne und betrachtete die Weiden am Bachufer, deren Blätter glänzten, als wären sie aus Glas. Von den jungen Burschen, die sie kannte, interessierte sie keiner. Und auch in Zukunft würde sie keiner interessieren.

      Und Nelli, die sie mit einem halb spöttischen, halb mitleidigen Lächeln ansah. Ein Lächeln, das Johanne ärgerte. Du weißt nichts über mich, hatte sie damals gedacht.

      Nelli suchte also einen Mann. Ob es dieser Walter war? Der junge Hamelius war der älteste Sohn eines reichen Großbauern. Einen, der genug Geld hat, mich zu ernähren. Und vielleicht sogar noch ein bisschen mehr als das.

      Aber ob er sie nehmen würde? Nelli war zwar hübsch und bestimmt nicht dumm, aber ihre Leute waren bitterarm und noch dazu Protestanten. Hamelius kam dagegen aus einer angesehenen katholischen Familie, die von einer solchen Verbindung bestimmt nicht begeistert wäre.

      Johanne fühlte sich wie gerädert, als sie sich am nächsten Morgen aus dem Bett quälte, um zum Gottesdienst zu gehen. Und der neue Pastor predigte so entsetzlich einschläfernd. Hoffentlich trifft Fliedner bald auf großzügige Spender und kommt zurück, dachte sie gähnend. Aber sie bezweifelte es. Käthe hatte ihr vor ein paar Tagen einen Brief des Bruders vorgelesen, voller Enthusiasmus berichtete er von seinen Eindrücken aus den Niederlanden. Wie vielen interessanten Personen er auf seiner Reise schon begegnet war. Nein, dachte Johanne, so schnell bekommt er nicht genug.

      Als sie sich in der Küche eine Scheibe Brot abschnitt, kam ihre Mutter aus dem Schlafzimmer. »Begleitest du mich in die Kirche?«, fragte Johanne überrascht.

      Frau König starrte selbstvergessen zum Fenster. Die Sonne war gerade aufgegangen, ihre Strahlen verwandelten die schmutzigen Scheiben in eine weiß glänzende, undurchsichtige Fläche.

      Wie füllig sie in den letzten Wochen geworden war. Frau König war nie schlank gewesen, aber jetzt waren ihre Oberarme massig, ihre Brüste zeichneten sich groß und rund unter dem verschlissenen Nachthemd ab. Man sah ihr an, dass es dank Johanne bei Königs endlich wieder mehr zu essen gab.

      »Ach Kind«, seufzte sie, während sie das Netz öffnete, das ihre Haare nachts zusammenhielt. Dünne Strähnen fielen auf ihre Schultern. Das braune Haar war von weißen Streifen durchzogen, als habe sich die Farbe an einigen Stellen herausgewaschen. »Es hat doch alles keinen Sinn. Die ganze Beterei, was nützt sie denn, wenn alles nur immer schlimmer wird? Gott im Himmel hat uns hier unten längst vergessen, da hat der Alte schon recht.«

      Bestürzt sah Johanne ihre Mutter an. »So darfst du doch nicht reden, Mutter!«

      Frau König lächelte bitter. »So darf ich nicht reden? Aber wo ist denn dein Gott gewesen, als unser Laurenz ihn brauchte? Wo ist er, wenn dein Vater wieder unser ganzes Geld versäuft?«

      »Aber Mutter, das ist doch mitnichten Gott zuzurechnen, wenn Vater der Trunksucht verfällt. Und Laurenz … Zu unserem Unglück haben wir alle kräftig beigetragen, aber wenn wir uns bessern, dann wird der Allmächtige uns auch helfen.«

      »Das glaubst du?« Frau König sah ihre Tochter mitleidig an, und unter ihrem Blick begann Johannes Zuversicht zu schrumpfen. »Ich war auch einmal so gutgläubig, aber wenn’s im Leben immer nur Hiebe hagelt, verliert man den Glauben an die göttliche Gerechtigkeit. Vielleicht hast du ja das Glück und findest einen Mann, der dich rausholt aus diesem Dreckloch, aber ich werde mein Lebtag diesem Elend nicht entfliehen. Im Gegenteil, es wird noch ärger werden. Dein Vater bekommt niemals mehr Arbeit und dein Bruder noch weniger, wenn er erst einmal wieder draußen ist.«

      »Die Zeiten werden auch wieder besser«, sagte Johanne leise. »Komm doch mit zur Kirche.«

      Frau König wand ihr dünnes Haar zu einem harten, kleinen Knoten. Aus einer Schublade im Küchenschrank holte sie ein paar Haarnadeln, mit denen sie die Frisur feststeckte. »Geh du nur deiner Wege. Ich bleibe lieber hier.«

      Nach der Kirche wechselte sie ein paar Worte mit Käthe Fliedner, als Felix Winter zu ihnen trat.

      »So sehen wir uns also endlich wieder«, scherzte er.

      »Ich hätte nicht erwartet, dass Sie heute Morgen den Weg zur Kirche machen, wo es gestern doch so spät