Die Protestantin. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121599
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Blick war verständnislos, er wirkte fast ungeduldig. »Aber ich bin doch mitnichten allein, Johanne. Gott wird mit mir ziehen, Er wird mich begleiten, bei allem, was ich unternehme. Und wenn es Sein Wille ist, werde ich auch wohlbehalten wieder nach Hause gelangen.«

      »Ich werde für dich beten, lieber Bruder«, sagte Käthe.

      »Das werde ich auch tun«, fügte Johanne hastig hinzu. Wie fromm die beiden Geschwister waren, dachte sie beeindruckt und eingeschüchtert. Mit welcher Begeisterung und Liebe sie von ihrem Herrgott sprachen. Und wie fest ihr Glaube war. Auch sie betete jeden Tag zu Gott und flehte ihn an, dass Er ihr Vertrauen in ihn wachsen ließe. Aber nichts geschah. Ihr Glaube blieb, wie er war, klein und bescheiden, er wurde einfach nicht stärker. Ob sie etwas falsch machte? Sie hätte Fliedner gerne gefragt, aber sein Blick war auf die glitzernde Oberfläche des Flusses gerichtet, und er schien so in sich versunken, dass sie ihn nicht zu stören wagte.

      Nach Fliedners Abreise im Juni verschwand der letzte Rest Farbe aus Käthes Gesicht. Sie bemühte sich mit aller Kraft, die Arbeit ihres Bruders weiterzuführen, sie versammelte die Mädchen in ihrer Strickschule, machte Krankenbesuche und versuchte die größte Not in der Gemeinde zu lindern. Aber im Umgang mit den Leuten war sie zu schüchtern und unsicher, es gelang ihr nicht, sie von sich zu überzeugen.

      Die eben begonnene Gemeindearbeit kam mehr und mehr zum Erliegen. Ein bis zwei Mal im Monat übernahm ein Hilfspfarrer aus Ratingen den sonntäglichen Gottesdienst, und auch zu diesen Gelegenheiten blieb die Kirche halb leer.

      Johannes Mutter ging nur ein einziges Mal hin. »Ich bin ohnehin nur wegen Fliedner gegangen, weil er sich so um uns bemüht hat«, erklärte sie. »Aber dieser Pfaffe hat von unseren tagtäglichen Sorgen und Nöten doch keine Vorstellung.« Auch Heiner und Theodor blieben am Sonntagmorgen wieder im Bett.

      Käthe gab sich selbst die Schuld an dem mangelnden Interesse. »Kannst du mich nicht begleiten, wenn ich am Sonntag meine Runde zu den Kranken und Alten mache?«, fragte sie Johanne verzweifelt. »Du bist immer so herzerfrischend natürlich, mit dir wären die Besuche bestimmt viel einfacher.«

      Johanne stieß ein kurzes, spöttisches Lachen aus. »Du weißt nicht, wovon du sprichst, Käthe. Die meisten Leute würden mich nicht einmal in ihr Haus lassen. Ich bin die Tochter eines stadtbekannten Säufers, der noch nicht einmal aus Kaiserswerth stammt, vergiss das nicht.«

      Käthe schaute sie überrascht an. »Aber du gehst doch auch sonst in sämtlichen Häusern ein und aus. Deine Schreibarbeiten werden von allen gelobt. Die Witwe Pollinger drückte sich vor einigen Tagen höchst anerkennend über dich aus und auch …«

      »Meine Arbeit ist akzeptabel, das gebe ich zu«, unterbrach Johanne die Freundin. »Aber deshalb bin ich den Leuten noch lange nicht willkommen. Und glaube mir, wenn mir auch nur der kleinste Fehler bei einem meiner Schriftstücke unterliefe, dann wäre es sofort aus und vorbei, kein Einziger der Herrschaften würde Gnade walten lassen. Alle würden sie sagen, dass sie es von Anfang an nicht anders erwartet hatten.«

      »Du urteilst zu streng«, sagte Käthe sanft. »Lass es uns doch gemeinsam versuchen.«

      Aber Johanne ließ sich nicht umstimmen. Sie begleitete Käthe nur, wenn diese besonders weite Wege zurücklegen musste.

      Auf dem Heimweg aus Huckingen trafen sie Nelli, die sich auf der Clemensbrücke mit einem jungen Burschen unterhielt. Als sie Johanne sah, verabschiedete sie sich rasch und lief ihnen ein Stück entgegen.

      »Habt ihr bei diesem herrlichen Wetter einen Sonntagsspaziergang gemacht?«, fragte sie fröhlich. Sie trug das hellblaue Sommerkleid, das sie sich vor drei Jahren hatte schneidern lassen. Inzwischen war es verschlissen und ausgebleicht und spannte an vielen Stellen, aber in der Sommersonne leuchtete der Stoff, sodass es fast in den Augen schmerzte.

      »Käthe hat einen Kranken besucht«, erklärte Johanne. »Und ich habe sie dabei begleitet.«

      »Da ist der Gute bestimmt vor lauter Freude gleich wieder gesund geworden«, meinte Nelli mit unverhohlenem Spott in der Stimme.

      Käthe blinzelte nervös. »Ich muss zum Pfarrhaus. Die Brüder brauchen ihr Mittagessen.« Sie grüßte kurz und ging rasch weiter. Ihre schmale, dunkle Gestalt wirkte wie ein schwarzes Loch, das jemand in die fröhliche, sommerliche Umgebung hineingeschnitten hatte.

      Nelli sah Johanne vorwurfsvoll an. »Diese Frömmigkeit, das ist ja furchtbar«, meinte sie kopfschüttelnd. »Den halben Sonntag bist du auf den Beinen, um Leute zu besuchen, die du nicht einmal kennst. Und immer mit dieser blassen Person, die vor lauter Rechtschaffenheit kein Lächeln ins Gesicht bekommt. Pass nur auf, dass du am Ende nicht auch noch verlernst, wie man fröhlich ist.«

      Johanne lachte. »Aber Nelli, ich mach es doch, weil es mir Freude bereitet. Ich tadele dich ja auch nicht für dein Leben, also lass du mich auch gewähren.«

      »Ist schon gut. Wenn du nur nicht die Leichenbittermiene von Fräulein Fliedner annimmst. Man trifft euch beide ja nur noch zusammen.« Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Johanne, am nächsten Sonnabend ist Tanz in Angermund. Da kommst du mit. Wir müssen nicht einmal zu Fuß gehen, der junge Hamelius fährt nämlich mit der Kutsche hin und hat uns eingeladen.«

      »Uns?«, fragte Johanne. »Von mir konnte er doch noch gar nicht wissen. Er hat dich eingeladen, Nelli, weil er auf eine romantische Kutschfahrt aus ist.«

      »Ach, was du immer denkst. Es geht ja gar nicht nur um mich oder dich. Es werden auch andere dabei sein. Constanze Wachmeister und Gustav Weimar, der Sohn vom Schmied. Komm nur mit, das ist doch keine Sünde, wenn man am Sonnabend ein bisschen lacht und fröhlich ist.«

      Johanne zögerte. Sie war noch nie auf einem richtigen Tanz gewesen. Und mit ihrer Ungeschicklichkeit würde sie sich bestimmt lächerlich machen.

      Nelli schien ihre Gedanken zu erraten. »Wir können ja bis dahin noch ein bisschen üben, du und ich, ohne dass uns jemand sieht«, schlug sie vor.

      »Also gut«, sagte Johanne. »Ich komme mit.«

      Um sechs Uhr abends trafen sie sich auf der Clemensbrücke, Johanne, Nelli und zwei junge Leute aus Kaiserswerth, die Johanne nur vom Sehen kannte.

      Johanne hatte ihr blaues Sonntagskleid mit dem weißen Kragen angezogen, und als sie im Vorübergehen ihr Spiegelbild in der großen Fensterscheibe von Metzger Schlader gesehen hatte, war sie sehr zufrieden gewesen mit sich. Aber jetzt sah sie Nelli. Sie hatte ihre Locken zu Zöpfen geflochten und an den Seiten in Schneckenform zusammengesteckt. Eine weiße Tüllschleife auf dem Oberkopf verlieh ihrem Gesicht etwas Unschuldiges und zugleich Herausforderndes. Ihr Kleid war neu, schlicht und rot, mit eng geschnürtem Mieder und weitem Rock. Der mit weißer Spitze besetzte Halsausschnitt zeigte den Ansatz ihrer runden Brüste.

      »Freust du dich?«, fragte Nelli und lachte übermütig. Sie streckte sich und legte der so viel größeren Freundin den Arm um die Schulter. Johanne fühlte ihre weiche Haut an ihrem nackten Hals und roch den blumigen Duft, der von ihr ausging, und fühlte sich plötzlich ungelenk und steif und viel zu groß.

      Dann fuhr die Kutsche vor. Walter Hamelius, dem das Fahrzeug gehörte, kam aus Wittlaer, er war ein gut aussehender Bursche und Nelli hatte sich schon ein paar Mal von ihm ausführen lassen. Stolz grüßte er vom Kutschbock zu ihnen herunter.

      »Und?«, fragte er und streckte das Kreuz durch, um seine kräftigen Schultern noch breiter erscheinen zu lassen. »Wer möchte die Fahrt neben mir auf dem Kutschbock verbringen? Hier oben weht ein angenehm kühles Lüftchen, genau das Richtige nach einem so hitzigen Tag wie dem heutigen.« Sein Blick saugte sich förmlich an Nellis Körper fest.

      »Geh schon«, flüsterte ihr Johanne leise zu. »Ich setze mich mit den anderen nach hinten.«

      »Ach komm, dort oben auf dem Bock ist doch Platz für drei.« Kichernd zog Nelli die Freundin am Ärmel. »Nicht wahr, Walter, für Johanne reicht der Platz auch noch!«

      Er lachte etwas angestrengt. »Sicher, steigt auf. Umso näher müssen wir zusammenrücken, aber