Die Protestantin. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121599
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      »Dem großen Ganzen geht es nicht besser als jedem Einzelnen. Ja, es stimmt, das Gemeindevermögen ist durch die widrigen Umstände aufgezehrt, auch die freiwilligen Spenden der Gemeindeglieder versiegen, denn auch die Wohlhabenderen unter uns haben zu kämpfen. Zu allem Überfluss haben wir etliche Schuldzinsen zu tragen.« Er drehte die Hände, sodass sie jetzt mit den Handflächen zur Zimmerdecke wiesen. »Doch mit Gottes Hilfe werden wir alles meistern.«

      »Der Herr wird uns gnädig sein, wie er es immer gewesen ist«, flüsterte Käthe.

      »Aber was gedenken Sie zu tun?«, fragte Johanne. In einer solchen Lage konnte man sich doch nicht allein auf Gottes Gnade verlassen. Sie hatte auch immer geglaubt, dass Er ihnen helfen würde, als sie damals nach Kaiserswerth gekommen waren. Am Anfang hatte Er ja auch seine Hand über sie gehalten, damals, als Vater und Laurenz noch Arbeit hatten in der Seidenfabrik.

      Wer fleißig ist und rechtschaffen, der macht seinen Weg. Das hatten sie damals geglaubt. Nur die Faulen, die Bösen, die Lasterhaften, die bestraft Gott, indem er sie ins Elend stößt. Aber es war nicht so, auch wenn Fliedner das nicht wahrhaben wollte.

      »Fürs Erste werde ich eine Lateinschule im Pfarrhaus einrichten, damit wir über die Runden kommen. Und darüber hinaus …« Er brach mitten im Satz ab und rührte wieder in seiner Tasse. »Ich werde auch mit den Kindern arbeiten. Ich werde mich um die Knaben kümmern, und wenn Käthe sich zurechtgefunden hat, wird sie dasselbe für die weibliche Jugend tun.« Er sah seine Schwester an. »Das Sticken und Stricken liegt dir doch so, Käthe, ich denke, du wirst die Mädchen in der Handarbeit unterweisen. Und Sie, Johanne, würden meine Schwester dabei bestimmt unterstützen, nicht wahr?«

      Johanne nickte wenig begeistert. Ausgerechnet Handarbeit. Das musste eine dieser Prüfungen sein, die Gott einem immer wieder auferlegte. Jedenfalls würde die Strick- und Häkelstunde die Gemeinde sicher nicht vor dem Ruin retten.

      Eine Hummel summte um Haaresbreite an Johannes Kopf vorbei. Sie sah ihr nach, wie sie nach oben flog, höher und höher, bis sie nur noch ein winziger Punkt im hellen Blau des Himmels war und schließlich ganz verschwand.

      Nelli seufzte. »Es ist so ein herrlicher Sonntag. Wenn ich nur nicht in den Alten Ochsen müsste.«

      Seit einigen Wochen half sie in einer Schänke an der Holländischen Straße aus. Die drückende Not der Familie erforderte es, aber Nelli hasste es, die betrunkenen Bauern und Handelsreisenden zu bedienen.

      Johanne seufzte ebenfalls. »Schade.« Mit schmalen Augen blickte sie über den glitzernden Rhein. Vorne am Ufer spielten ihre Brüder, die kleinen Gestalten wirkten dünn und zerbrechlich vor der Helligkeit des Flusses.

      Sie setzten ihre Hüte wieder auf und riefen die Jungen zu sich.

      »Schau mal, da kommt der Pastor.« Nelli zeigte auf den Weg. »Mit der ganzen Familie. Na, wenn das kein gesegneter Sonntag ist.«

      In der Frühlingssonne schienen die Fliedner-Geschwister noch blasser als sonst. Käthes dunkler Schutenhut warf einen breiten Schatten auf ihr Gesicht. Unter Fliedners Hut flammte sein hellrotes Haar auf.

      Seit über einem Jahr war er nun schon Pfarrer in Kaiserswerth. Unter seinem Einfluss waren die wenigen, weit verstreuten Gläubigen zu einer Gemeinde zusammengewachsen. Auch wenn viele nur deshalb zum Gottesdienst kamen, weil sie wussten, dass der Pastor sie sonst unweigerlich aufsuchen und zurechtweisen würde.

      Wieder und wieder ging Fliedner zu Johannes Vater und hielt ihm die schlimmen Folgen seiner Trunksucht vor Augen. König hörte sich Fliedners Worte an, nickte ernst und einsichtig und trank dann weiter. Dennoch oder gerade deshalb war Johannes Dankbarkeit grenzenlos. Er gibt uns nicht verloren, dachte sie.

      Während Fliedner mehrmals in der Woche mit den Jungen der Gemeinde turnte und spielte, hatte Käthe Fliedner kurz nach ihrer Ankunft ihren Strickkreis gegründet. Johanne hatte vergeblich versucht, sie davon abzubringen. Aber Käthe war nicht umzustimmen. Allerdings sah sie schon nach den ersten Treffen ein, dass Johanne ihr keine Hilfe war. Fassungslos betrachtete sie einen Strickstrumpf, den Johanne begonnen hatte und bei dem nach und nach ein Drittel der Maschen von der Nadel gerutscht waren. »Vielleicht ist es besser, wenn du mit den Mädchen singst und ihnen vorliest«, schlug sie vor und Johanne stimmte erleichtert zu.

      Als die beiden Fliedner-Jungen Johannes und Nellis Brüder erblickten, rannten sie auf sie zu.

      »Ist es nicht herrlich hier am Rhein?«, rief Johanne, als auch der Pastor und seine Schwester sie erreicht hatten.

      »Es ist traumhaft nach dem langen Winter«, meinte Käthe und lächelte. Auf ihrer blassen Nase saßen einige winzige rotbraune Sommersprossen.

      Nelli zupfte ein paar goldblonde Löckchen unter ihrem Hut hervor, sodass sie ihr kokett ins Gesicht fielen. »Leider müssen wir jetzt aufbrechen. Ich muss um vier Uhr meinen Dienst antreten. Kommst du, Johanne?«

      Fliedner sah Nelli durchdringend an. »Ihren Dienst müssen Sie antreten?«, fragte er scharf. »Was für ein Dienst ist das denn, heute am Sonntag?«

      Nelli zupfte immer noch an ihren Haaren herum. »Ich bediene in einer Schänke an der Holländischen Straße.«

      Als sie Fliedners missbilligenden Blick bemerkte, ließ sie die Hände sinken. »Sie können mir glauben, Herr Pastor, dass ich nicht zu meinem Vergnügen an diesen garstigen Ort gehe. Aber wovon sollen ich und meine Leute leben, wenn ich nicht die nötigen Groschen nach Hause bringe?«

      Fliedners Stimme wurde milder. »Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Fräulein Färber. Doch ist diese menschenunwürdige Knechterei an allen Tagen der Woche ein Unrecht, und darf auch nicht sein, wenn wir nicht wollen, dass unsere Gesellschaft am Ende ganz auseinanderbricht.«

      Nelli seufzte etwas unbehaglich. »Nun, ich muss mich verabschieden. Gott zum Gruße die Herrschaften!«

      Fliedner und Käthe nahmen auf der Bank Platz, auf der die beiden Mädchen gesessen hatten. Johanne zögerte einen Moment lang, dann ließ sie sich ebenfalls wieder nieder.

      »Käthe hat mir berichtet, dass Sie nach Duisburg gereist sind, um Kollekten für die Gemeinde zu sammeln«, sagte sie. »Hoffentlich waren Sie erfolgreich.«

      Fliedner runzelte die Stirn. »Die Brüder und Schwestern haben gegeben, was sie vermochten. Mit ihrer Hilfe konnten wir das Schlimmste von unserer Gemeinde abwenden. Obgleich ich sie tadeln musste, denn auch viele Fabrikanten lassen ihren Arbeitern keine Pause. Gott hat seine Freude an fleißigen Menschen, aber am heiligen Sonntag muss die Arbeit ruhen.«

      »Und das haben Sie den Herren einfach so ins Gesicht gesagt? Dann erstaunt es mich allerdings, dass Sie überhaupt Spenden mit nach Hause gebracht haben.«

      Fliedner stand auf und wischte sich den Staub von der Hose. Auf seinen Handrücken tanzten kleine rötliche Sommersprossen wie auf Käthes Nase. Ein willkürliches Durcheinander, das nicht zu ihm passte. »Christliche Demut hat nichts mit Unterwürfigkeit zu tun. Und wo Unrecht geschieht, da muss ich meine Stimme erheben, es ist meine Pflicht. Aber zum Glück gab es in Duisburg noch genügend ehrbare Bürger, die meine Einstellungen teilten.«

      »Dann ist unsere Gemeinde vom Unheil verschont?« Johanne erhob sich ebenfalls.

      »Nun, zumindest ist jetzt die drohende Pfändung des Pfarrhauses verhindert worden. Aber um die Gemeindearbeit ohne Sorge fortzuführen, sind noch etliche Anstrengungen von Nöten.«

      »Aber woher soll das Geld kommen?«

      »Das ist es eben, was mich in den nächsten Monaten umtreiben wird. Ich werde im Sommer auf Kollektenreise gehen. Bei unseren protestantischen Brüdern am Niederrhein, in Holland und England.«

      »Bis nach Holland und England?«, rief Johanne. »Das ist so weit … wer soll uns dort unterstützen, wenn es hierzulande schon keiner tut? Und wie wollen Sie sich dort überhaupt verständlich machen?

      »Nun, in beiden Ländern gibt es genügend wohlhabende Unternehmer und Menschen unseres Glaubens. Sie werden einen hilfsbedürftigen Bruder nicht abweisen. Im Übrigen mögen Sie beruhigt sein, ich spreche sowohl Niederländisch