Die Protestantin. Gina Mayer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gina Mayer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943121599
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ein dünnes Lächeln und schwieg.

      Johanne machte einen großen Schritt über ein paar Brennnesseln hinweg und trat an die zerfallene Frontmauer der alten Festung. Ihr war es plötzlich ganz egal, ob Käthe ihr folgte oder ob sie mitten in der Pfalzruine stehen blieb, sie war erschöpft von ihren nutzlosen Bemühungen, das Mädchen für irgendetwas zu interessieren.

      Durch eine schmale Maueröffnung blickte sie auf den Rhein hinunter. Nach einer Weile trat Käthe neben sie und starrte ebenfalls auf den Fluss. Johanne merkte, wie sie wütend wurde. Den halben Montag hatte sie sich nun abgemüht, und zum Dank zeigte ihr Käthe immer das gleiche gelangweilte Gesicht. Sie war nicht anders als die anderen Mädchen, sie hielt sich für etwas Besseres und sah auf Johanne herab.

      »Schön, nicht wahr?«, fragte sie ärgerlich, während sie sich Käthe zuwandte. »Oder gefällt es Ihnen nicht? Vermutlich ist es da, wo Sie herkommen, um einiges schöner und idyllischer, und Sie lachen insgeheim über unser erbärmliches Fleckchen Erde?«

      Käthe war jedoch weit davon entfernt, über irgendetwas zu lachen. Sie schlug die Hände vors Gesicht, taumelte ein paar Schritte zurück und ließ sich auf einen der antiken Steinbrocken sinken. Ihre Schultern hoben und senkten sich lautlos. Sie weinte.

      Johanne dachte an Fliedner, der ihr seine Schwester anvertraut hatte. Gleich beim ersten Mal hatte sie gründlich versagt. Sie musste Käthe trösten, und zwar schnell, sonst beklagte sie sich bei ihrem Bruder und dann ...

      »Ich wollte Sie ganz gewiss nicht kränken, Fräulein Fliedner. Bitte, verzeihen Sie mir.«

      Käthe hob abwehrend eine Hand und wollte etwas sagen, aber ein lauter Schluchzer hinderte sie daran. Johanne wühlte in ihrer Schürze und fand ein Taschentuch, das so schmutzig war, dass sie es schnell wieder zurücksteckte. Käthe stöhnte leise wie unter großen Schmerzen, dann richtete sie die vom Weinen verquollenen Augen auf Johanne.

      »Entschuldigung«, stieß sie mühsam hervor. »Es ist nur ... Der Anblick des Flusses hat mich überwältigt. Bitte, ich beschwöre Sie, vergeben Sie mir die dummen Tränen. Und erzählen Sie meinem Bruder nichts von diesem kindischen Gefühlsausbruch.«

      »Natürlich nicht«, sagte Johanne. »Aber weshalb sind Sie denn so außer sich?«

      »Ach, ich …« Käthe versuchte zu lächeln, gleichzeitig drängten neue Tränen aus ihren Augenwinkeln und rannen links und rechts an der geröteten Nase vorbei zum Kinn. »Ich bin wirklich ein dummes Ding.« Nun brachte sie ein eigenes kleines Taschentuch zum Vorschein und tupfte sich damit übers Gesicht. »Mein Bruder verurteilt Selbstmitleid aufs Schärfste und ist selbst weit von einer solchen Regung entfernt. Er ist so stark. Nur ich bin schwach und lächerlich.«

      »Aber was quält Sie denn so?« Ein heimlicher Liebhaber, dachte Johanne. Vielleicht ist es das.

      »Ich wollte nicht herkommen. Nicht in dieses fremde Kaiserswerth, in diese Stadt, in der ich niemanden kenne. Ich wollte die Mutter nicht allein lassen, die jetzt keinen mehr hat, der ihr hilft und mit ihr redet. Es zerreißt mir das Herz, wenn ich an sie denke.«

      »Ach herrje.« Johanne war ein bisschen enttäuscht, dass es keine romantische Liebesgeschichte war, die Käthe das Herz zerriss. »Aber warum haben Sie denn dann Ihre Frau Mutter nicht gleich mitgebracht?«

      »Das kümmerliche Salär reicht doch kaum für uns vier. Aber Theodor will Mutter nachholen, sobald wie möglich.«

      Johanne sah sie ratlos an. Heimweh. Käthe hatte Heimweh nach ihrer Mutter. Wie seltsam ihr das vorkam, wie fremd ihr das schien. Wie gerne hätte sie selbst alles stehen und liegen lassen und hätte Kaiserswerth verlassen und wäre in jedes erdenkliche ferne Land gezogen. Noch dazu mit einem Bruder wie Fliedner.

      »Theodor ist ein guter Bruder«, sagte Käthe hastig, »aber er hat zu viel Wichtiges im Sinn, als dass ich es wagen dürfte, mich mit meinen unbedeutenden Klagen und Kümmernissen an ihn zu wenden. Eine Mutter hingegen hat für solche Dinge immer ein offenes Ohr.«

      »Kümmernisse hat meine Mutter selbst genug!«, sagte Johanne. »Damit brauche ich ihr nicht zu kommen.«

      »Aber das ist ja furchtbar.« Käthes blassblaue Augen sahen sie erschrocken an. »An wen wenden Sie sich denn dann, wenn Ihnen das Herz schwer ist?«

      Johanne dachte an Nelli. »Zum Glück habe ich jemanden, dem ich alles erzählen kann. Denn es stimmt: Jeder Kummer wird um vieles leichter, wenn man ihn einem anderen anvertraut.«

      Käthe nickte andächtig. »Oh, der allmächtige Herrgott im Himmel«, flüsterte sie, »ich Kleingläubige, Sie haben ja so recht. Er ist immer für uns da – ob hier in Kaiserswerth oder am Ende der Welt, nicht wahr? Er ist unser bester Freund, wenn wir unglücklich oder verlassen sind.«

      Johanne räusperte sich verlegen. Ob sie das Missverständnis aufklären sollte? Am Ende fing Käthe dann wieder an zu weinen.

      »Ich danke Ihnen«, sagte Käthe inbrünstig, »dass Sie mir meine schändliche Mutlosigkeit so deutlich vor Augen geführt haben. Ja, ich habe Gott, mit dem ich jederzeit reden kann, wenn ich unglücklich und verlassen bin.«

      »Und mich«, platzte Johanne heraus. »Ich meine, wenn Sie mit einem Menschen reden möchten, dann bin ich … dann wäre ich …«

      Käthe nickte. »Ich danke Ihnen«, sagte sie noch einmal. Dann stand sie auf, ging zurück zur Mauer und schaute auf den Fluss, in die Richtung, aus der sie am Tag zuvor gekommen war. Ihr Gesicht war blass und ernst und fromm wie das einer Heiligen. Wie ähnlich sie ihrem Bruder sieht, dachte Johanne.

      Käthe lud sie noch auf eine Tasse Tee ins Pfarrhaus ein, wo Fliedner sie schon erwartete. Neugierig folgte Johanne den Geschwistern in eine große, spärlich eingerichtete Wohnstube. Ein Holzbüffet, ein windschiefer Wandschrank und ein Tisch mit fünf Stühlen waren das gesamte Mobiliar. An der Wand neben dem Tisch hing das Porträt einer älteren Frau. Milde und ein bisschen schüchtern blickte sie aus dem schlichten Goldrahmen auf Johanne und Fliedner herunter. Die Ähnlichkeit war unverkennbar, es musste die Mutter der Geschwister sein.

      Durch die Fenster konnte man den Chor der Kirche und den Pfarrgarten sehen. Das weitläufige Gelände mit dem kleinen Gartenhaus sah verwildert aus. »In der letzten Zeit wurde der Garten sträflich vernachlässigt.« Fliedner war Johannes Blick gefolgt. »Aber das wird ja jetzt sicherlich anders werden.«

      Käthe verschwand in der Küche, Johanne und Fliedner nahmen am Tisch Platz.

      »Es ist das erste Mal, dass Käthe unser Mutterhaus verlassen hat«, begann er, wobei sein Blick unwillkürlich das Gemälde an der Wand streifte. »Und ich wünsche mir, dass sie ihr Heimweh rasch vergisst. Um die kleinen Brüder mache ich mir keine Sorgen, sie werden schnell Freunde finden, aber Käthe neigt mitunter zur Melancholie.« Er sah Johanne an und schien ihre Bestätigung oder ihren Widerspruch zu erwarten, sie wusste nicht, was sie sagen sollte und spürte, dass sie rot wurde.

      Ein Rascheln an der Tür, Käthe kam mit dem Tee. Hatte sie Fliedners Worte gehört? Ihr Gesicht verriet keine Regung, schweigsam stellte sie die Tassen und die Kanne auf den Tisch, schenkte ein und ließ sich dann neben Johanne nieder. Der Pastor warf seiner Schwester einen schnellen Blick zu.

      »Es ist alles bestens«, sagte Käthe leise, als habe er nach ihrem Befinden gefragt. »Und ich werde mich schnellstens einleben, das verspreche ich dir.«

      Fliedner nickte. »Das ist gut so, Käthe, denn ich werde leider nur wenig Zeit haben, mich um dich und die Brüder zu kümmern.«

      Er rührte schweigend in seinem Tee, obwohl er keinen Zucker hineingetan hatte. Käthe nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und setzte sie dann mit leisem Klirren zurück auf den Unterteller. Eine unbehagliche Stille breitete sich aus und Johanne hatte mit einem Mal das Gefühl, dass die Geschwister darauf warteten, dass sie das Wort ergriff.

      »Wissen Sie eigentlich, dass man in der Stadt davon redet, dass unsere Gemeinde bankrott ist?«, fragte sie.

      Käthe richtete ihre wässrigen Augen auf sie, groß und erschrocken. Oh nein, dachte Johanne, es war die falsche Bemerkung.