Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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      Der General wurde aufmerksam Eine alte Erinnerung schien in ihm emporzutauchen.

      »Das Bein war ihm gekrümmt«, fuhr der Domherr fort.

      Der General wurde unruhig.

      »Man ließ es ihm zerbrechen, um ihn für die Armee zu konservieren.«

      Dem General trat der Schweiß auf die Stirn.

      »Der Musketier Hausmann war ein hübscher, großer Mensch, maß über sechs Schuh —«

      »Vetter Aschen«, sagte der General, »in welcher Absicht erzählen Sie mir die Geschichte?«

      »Hm, Vetter Steinau, um Sie und den König für den Mann zu interessieren. Von sechzehn Talern kann er nicht leben. Wenn aber der König ihm eine Pension von nur monatlich zwei Talern dazu gäbe, so wäre der Mann glücklich wie ein Gott in Griechenland. Die griechischen Götter hatten es bekanntlich gut in der klassischen Zeit. Für unsere Dorfschulmeister ist keine klassische Zeit heuer.«

      Der General stand in Nachdenken.

      »Nun, Vetter Steinau? Oder soll ich — der Mann ist hier — ihn selbst zu Ihnen schicken?«

      »Nein«, sagte der General.

      »Oder finden Sie es besser, dass er sich unmittelbar an den König wende?«

      »Vetter Aschen, Sie sind — Ich werde den König sprechen.«

      »Und der Schullehrer Hausmann wird die Pension bekommen?«

      »Ja!«

      »Ich danke Ihnen im Namen des Mannes, Vetter Steinau. Und nun gehen wir zu der Kranken.«

      Sie gingen in das Haus. Der General musste sich doch sammeln. Er suchte sein Zimmer auf.

      Der Domherr begab sich zu der Kranken.

      Gisbertine und die Frau Friedrichs waren bei dieser.

      Die Kranke lag still, mit geschlossenen Augen.

      »Sie liegt schon lange so«, flüsterte Karoline dem Domherrn zu. »Sie bewegt sich nicht, sie verlangt nichts, sie spricht kein Wort. Und doch schläft sie nicht. Es macht mich besorgt.«

      »War der Leibarzt kürzlich hier?« fragte der Domherr.

      »Vor einer Stunde. Er konnte nichts sagen. Der spätere Abend müsse die Entscheidung bringen, ob heftiges Fieber eintrete oder nicht. Er werde in einer Stunde wiederkommen.«

      »So wird er bald da sein. — Was macht Gisbertine?« fragte der Domherr dann leise. »Weiß sie, dass auch Gisbert sich schlagen muss?«

      »Nein.«

      »Sage es ihr auch ferner nicht.«

      »Onkel Florens, das Herz ist mir doch recht schwer.

      Hast Du keine Nachricht von den Duellanten?«

      »Vielleicht ist in diesem Augenblicke alles vorüber.«

      »Und wenn einer geblieben wäre? Gisbert oder Becker? Ich weiß nicht, was entsetzlicher wäre!«

      »Wo ist Henriette?« fragte der Domherr.

      »Sie besorgt etwas für die Kranke.«

      »Und wie steht es um ihren Mut?«

      »O, Onkel Florens, ich kann sie nicht ohne Rührung und ohne Erhebung ansehen. Sie ist still, fast wie die Kranke dort. Ihr Herz schlägt gewiss in banger Sorge, aber es zittert nicht. Ein wunderbar fester und sicherer Mut, ein edler Stolz stärkt und stählt es ihr. Sie wäre eine echte Soldatenfrau, denke ich mir. Dabei vergisst, übersieht sie nichts; sie ist die Aufmerksamkeit selbst, für die Kranke, für uns. Ich hätte die Kraft nicht.«

      »Du hättest sie auch, wenn es sein müsste, Karoline.«

      Der Leibarzt trat in das Zimmer.

      Er ging an das Bett der Kranken, lauschte ihrem Atem, legte leise seinen Finger an ihren Puls.

      Die Kranke schlug die Augen auf.

      Der Arzt untersuchte noch zwei Minuten still, ohne ein Wort zu sprechen.

      »Madame«, sagte er dann, »Sie sind gerettet. Die Krisis ist vorüber. Sie war lang und schwer.«

      Die Kranke lächelte ihm dankend zu mit einem klaren Blick ihrer Augen.

      Karoline fiel weinend Gisbertinen in die Arme.

      »Hm, Gisbertine«, sagte der Domherr, »auch Du weinst?«

      »Und ich habe vielleicht nie in meinem Leben glücklichere Tränen geweint, Onkel Florens.«

      »Ein gutes Herz hattest Du ja immer, trotz alledem.«

      »Ist es Dein Ernst, Onkel? Im und am Krankenbett lernt man sein Herz kennen. Und, Onkel Florens, ich erschrak in den letzten Tagen vor dem meinigen.«

      »Das beste Zeugnis, das man ihm geben kann.«

      »Wo ist Gisbert, Onkel?«

      »Wir sprechen nachher von ihm. Gehen wir jetzt zu unserer Kranken.«

      Sie gingen an das Bett der Kranken.

      Sie lag matt und schwach da, ohne einen Blutstropfen in dem schneeweißen Gesichte. Aber der Blick ihrer Augen war klar. Mit dem klaren Blick lächelte sie den Freundinnen zu, dem Domherrn, dem Arzte, allen so dankbar und so selig.

      »Sie wollen sterben, aber Sie müssen leben«, hatte am Morgen der Domherr zu ihr gesagt. Sie wollte auch leben und sie konnte es. Sie hatte ihr Vergehen gesühnt. Der Himmel, gegen den der Mensch gefrevelt hat, verzeiht; das verletzte Gesetz hat Verzeihung; der gekränkte, beleidigte Mensch hat sie; sie gehört zu dem Besten, was er hat. Der Sünder, der Verbrecher selbst sollte sie nicht haben?

      »Wo ist mein Mann?« fragte die Kranke.

      Sie sahen den Arzt an, ob sie es ihr sagen dürften.

      Er nickte.

      »Er erfüllt eine Ehrenpflicht«, antwortete Karoline auf die Frage der Kranken. »Mein Mann ist bei dem Duell eines Freundes als Sekundant, der Deinige als Zeuge tätig.«

      Sie erzählte der Kranken das Nähere.

      Gisbertine war aufmerksam geworden.

      »Und Gisbert ist nicht dabei?« fragte sie den Domherrn.

      Der Domherr hatte schnell eine Antwort.

      »Noch nicht.«

      »Was heißt das, Onkel Florens?«

      »Nach den Duellgesetzen darf einer, der selbst mit einem der Duellanten sich noch schlagen muss, bei dem Duell nicht zugegen sein.«

      »Gisbert müsste sich ebenfalls noch mit dein Grafen Thalhausen schlagen?«

      »Wenn Becker den Grafen nicht erschießt, ja.«

      »Was hatte er mit ihm?«

      »Wenig; wenn Du willst, nichts. Der Graf Thalhausen wollte sich mit einem Kellner nicht schlagen. Gisbert erklärte ihn darauf für einen feigen Menschen, und der Graf musste ihn auf Pistolen fordern.«

      Gisbertine hatte keine Frage, kein Wort weiter.

      Sie sah still durch das Fenster, an dem sie standen.

      »Du findest Gisberts Benehmen nicht in der Ordnung?« fragte der Domherr sie.

      Sie wandte sich zu ihm.

      »Sieh mich an, Onkel Florens.«

      In ihren Augen standen Tränen.

      »Ich sehe, dass Du weinst«, sagte der Domherr.

      »Ja, Onkel, und ich habe in diesem Augenblicke zu Gott gebetet, dass er mir das Herz des Ehrenmanns wieder in voller Liebe zuwenden und mir alles verzeihen möge, was ich diesem edlen Herzen zuleide getan habe.«

      »Und Gott wolle Dein Gebet erhören, Kind.«