Fritz Wunderlich. Werner Pfister. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Werner Pfister
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783795786120
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in Tanzkapellen; auf solche Nebenverdienste konnte kaum eine Familie verzichten. Musiziert wurde in der Familie Malz oft und gern, wobei vor allem die Stimmen der drei Töchter auffielen. Daß daraus einmal Ernst, nämlich der vielzitierte Ernst des Lebens werden sollte, erfuhren sie nur zu schnell. Jede Tochter mußte in der Schule ein Instrument spielen lernen. Die beiden älteren, Anna und Fanny, entschieden sich für die Violine, Marie, die Jüngste, wählte die Flöte. Mit vierzehn Jahren verließen sie die Schule, und damit war auch die Kinder- und Jugendzeit vorbei. Nun hieß es seinen Lebensunterhalt selber verdienen. Anna wurde an eine Damenkapelle vermittelt, die in renommierten Kaffeehäusern aufspielte, und sogleich ging es auf die Reise, durch halb Europa: von Frankreich bis nach Polen, von der Ostsee bis hinunter nach Zypern. Wochenlang spielte die Kapelle jeweils am selben Ort und von der Umgebung hermetisch abgeschirmt, auf daß den jungen Mädchen nicht etwa der Sinn nach anderem erwache.

      Dennoch, im letzten Kriegsjahr lernte Anna Malz auf Zypern den jungen Militärkapellmeister Wunderlich kennen. Gleich nach dem Krieg versuchte das frischvermählte Paar, in Mühlhausen, der Thüringer Heimat Wunderlichs, Fuß zu fassen. Beide waren sie ausgebildete Musiker; was also lag näher, als eine private Musikschule zu gründen? Anna erwarb sich eine staatliche Lehrbefähigung, doch vorläufig verdienten die beiden ihren Lebensunterhalt nach wie vor als Musikanten. Schon im ersten Nachkriegsjahr, am 19. Juli 1919, wurde ihnen in Landsberg an der Warthe, heute Polen zugehörig, die Tochter Marianne geboren. Mit der Verwirklichung ihrer beruflichen Pläne wollte es in den folgenden Jahren aber nicht so richtig klappen; zudem schien sich Anna in der Thüringer Heimat ihres Gatten und in dessen näherer verwandtschaftlicher Umgebung nie so richtig einzuleben und einzurichten. Jedenfalls griffen beide sofort zu, als sie über eine Zeitungsannonce erfuhren, daß in Kusel eine Gastwirtschaft mit angegliedertem Kinobetrieb zu pachten sei. So konnten sie ihrem angestammten Beruf treu bleiben, konnten musizieren, zum Tanz und zur Unterhaltung aufspielen, mußten aber nicht mehr auf Reisen gehen. 1929 siedelte die Familie nach Kusel über. Der Vater, laut Personenbeschreibung im Reisepaß, war von schlanker Gestalt, mit schmalem Gesicht, grauen Augen und mittelblonden Haaren. Und von Beruf Kapellmeister. Besonderes Kennzeichen: Augengläser. Auf dem Paßfoto trägt er einen Zwicker und einen feingestutzten Schnurrbart. Anna Wunderlich, Kapellmeisterin, wird im Paß ihres Gatten als Frau von mittlerer Gestalt beschrieben, mit ovalem Gesicht, braunen Augen und dunklem Haar. Das Paßfoto zeigt sie als Künstlerin, stehend und mit der Geige in der linken Hand. Ihre neue Adresse: Trierer Straße Nr. 27, die Gastwirtschaft »Emrichs Braustübl« samt angegliedertem Central-Kino sowie einer Wohnung im oberen Stockwerk.

      Schon im Jahre 1920 war im Saal von »Emrichs Braustübl« ein erstes Kino eröffnet worden; doch bereits nach zwei Jahren wurde der Betrieb wieder eingestellt. Erst 1928 versuchte ein neuer Pächter sein Glück, doch er bekam bald Ärger mit der Baupolizei. Der Saal habe keinen rechten Notausgang und entspreche überdies auch nicht den Bestimmungen des Feuerschutzes. Statt ihn nun vorschriftsgemäß umzugestalten, ließ der Pächter Kino und Gastwirtschaft per Zeitungsannonce zur Pacht ausschreiben. Es heißt, daß er Wunderlich beim Pachtabschluß kein Wort von diesen baupolizeilichen Einwänden verraten habe. Jedenfalls beschwerte sich Wunderlich, kaum daß er als neuer Pächter in Kusel eingezogen war. Er sei betrogen worden. Kein verheißungsvoller Start für die Familie Wunderlich, soviel steht fest.

      In den zwanziger Jahren erlebten Film und Kino, eben erst den Kinderschuhzeiten des Kurzfilms entwachsen, eine erste große Blüte. Das Publikum ergötzte sich an den frühen Streifen von Charlie Chaplin, interessierte sich für Wochenschauen und die neuen, abendfüllenden Kulturfilme. Stummfilme waren es, und die dazugehörigen Geräusche und Klangbilder wurden entweder von speziellen Schallplatten über eine Lautsprecheranlage übertragen, oder einige Instrumentalisten, manchmal gar zu einem veritablen, kleinen Orchester versammelt, steuerten nach genau vorgegebenem Arrangement die Filmmusik live bei. Als herausragendes Ereignis galt in Kusel die Erstaufführung des amerikanischen Fliegerfilms Wings, an Weihnachten 1929: »Man wird nicht nur sehen, sondern auch hören«, versprach die Filmreklame vielsagend, und tatsächlich konnten die begeisterten Zuschauer den Motorenlärm der Aeroplane sowie den Geschützdonner »naturgetreu« hören. »Da konnte man den Krieg erleben, wie er wirklich war«, resümierte anderntags die Zeitung in Kusel, was auch als Hinweis dafür gelten mag, daß viele der Kinobesucher den Ersten Weltkrieg nicht hautnah miterlebt hatten.[5] Vorläufig aber sah in Kusel der Kinoalltag noch anders aus: Stummfilme wurden vorgeführt, und Vater und Mutter Wunderlich steuerten die Musik bei, zusammen mit einer Pianistin, die speziell hinzuengagiert worden war. Und über das Wochenende, wenn der Besucherandrang in »Emrichs Braustübl« besonders groß war, spielte das Trio auch zum Tanz auf.

      Es war absehbar, daß die Stadtbehörden ihre Einwände gegen die baulichen Unzulänglichkeiten des Kinosaales wiederholt geltend machen würden. Einige Zeit hatten sie zwar noch ein Nachsehen, doch im Februar 1931 wurde Ernst gemacht und das Central-Kino verfügungsrechtlich geschlossen. Vorübergehend, wie es amtlicherseits hieß. Doch der Kinobetrieb wurde nie mehr aufgenommen; Wunderlich verfügte nicht über die nötigen Mittel, um die verlangten baulichen Veränderungen vornehmen zu lassen. Man steckte mitten in der Wirtschaftskrise, zudem hatte sich die Familie ja erst kurz zuvor vergrößert – um das kleine Fritzchen, Friedrich Karl Otto. »Wenn ich nicht ab und zu meinen Reisepaß aufschlagen und darin nachlesen würde, daß ich Friedrich heiße, wüßte ich’s gar nicht«, hat Fritz Wunderlich viele Jahre später in einem Rundfunkinterview bekannt. »Denn seit meiner frühesten Kindheit hat mich jeder Fritz genannt. Und so hat sich’s halt eingebürgert, und ich nenne mich stets Fritz… Ich bin ein Spätankömmling, meine Schwester ist elf Jahre älter als ich; und wahrscheinlich aus Freude darüber, daß ich noch gekommen bin, haben mir meine Eltern lauter Kaisernamen gegeben.«[6]

      Fritz also nannte ihn jedermann, mit einer einzigen Ausnahme. Wenn die Mutter böse auf ihren Jüngsten war und aufgebracht, rief sie ihn barsch Friedrich. Da wußte man genau, der Kleine hat irgend etwas angestellt und es könnte Prügel abgeben. Denn lebenslustig und voller Tatendrang war der Dreikäsehoch, und nicht immer zum Vergnügen der Familie. »Ich glaube, sein erster Atemzug enthielt schon all das energische Wollen, alles, aber auch wirklich alles, was es auf der Welt gibt, zu ergründen«, schrieb rückblickend seine Schwester Marianne.[7] Sie wußte das aus eigenem Erleben, denn die Sorge um den Kleinen war meistens ihr aufgetragen. Oft eine nervenaufreibende Pflicht, weil der kleine Fritz den ganzen Tag auf Trab war, stets auf Erkundungen aus, in der Wohnung, aber auch in der Gastwirtschaft. Dort stand ein Billardtisch, und der hatte es dem Kleinen besonders angetan. Die rollenden Kugeln, die gespannte Atmosphäre rund um diesen Spieltisch – da war Fritzchen nicht wegzukriegen. Schnell einmal begriff er, wo genau man seinen Groschen einzuwerfen habe, um dann mit diesen Kugeln spielen zu können. Drei oder vier Jahre alt mochte er gewesen sein, und er reichte mit der Nasenspitze kaum zum Ausschank hinauf. Aber er wußte genau, in welcher Schublade die Eltern das Geld verwahrten, zog sie in unbewachten Momenten dann auch auf und stibitzte seinen Groschen fürs Billard. Dann schob er einen Stuhl an den Billardtisch, warf den Groschen in den dafür vorgesehenen Schlitz, kletterte anschließend auf den Stuhl, fischte sich einen der Billardstöcke und stieß nun die Kugeln herum, erst spielerisch und ohne erkennbares Ziel, später dann zielsicher und mit einiger Fertigkeit. Eine respektable Anstrengung zweifellos, und sie verlangte auch Fritzchens totale Aufmerksamkeit, so daß er es nicht merkte, wenn auf dem Stuhl regelmäßig ein kleines Pfützchen entstand. Klar, daß ihm die Mutter dann jedes weitere Hantieren am Billardtisch verbot und, als Vorsichtsmaßnahme, die Geldschublade am Ausschank abschloß. Das mußte der Knirps zwar hinnehmen, aber nicht kommentarlos: Er wartete einen günstigen Moment ab, den Morgen oder den frühen Nachmittag, erschien wiederum in der nun leeren Gastwirtschaft, suchte sich irgendwelches Papier zusammen und verstopfte damit die Billardlöcher. Wollten die Gäste abends dann Billard spielen, so mußten sie den Tisch regelmäßig zuerst auf den Kopf stellen, um die Löcher freizukriegen.

      Auch zu Hause in der elterlichen Wohnung war man vor Fritzchen nie sicher. In keinem Moment wußte man, zu welchen Operationen ihn sein kindlicher Entdeckerdrang verleiten würde. Der Teddybär seiner Schwester, der so aufregend brummen konnte, mußte seine Eingeweide lassen, weil Fritz dem Geheimnis dieser Bärenstimme auf die Spur kommen wollte. Und auch


<p>5</p>

Ernst Schworm: Kusel, 424.

<p>6</p>

In: Das war Fritz Wunderlich.

<p>7</p>

Marianne Decker: Fritz Wunderlich, Mein Bruder und ich.