Die lebendige Erinnerung an den Sänger hat sich zum Bild verdinglicht, der Begriff Fritz Wunderlich ist zum Inbegriff geworden. Zum Inbegriff des Mozart-Gesanges vor allem. Er war der Tamino, war der Belmonte seiner Zeit – und ist es geblieben, auch für unsere Zeit. Ein Mozart-Prinz, der im Vertrauen auf die unerschütterliche Strahlkraft seiner Stimme allen Schrecknissen und Prüfungen in Schikaneders Zauberflöten-Märchenwelt sieghaft gewachsen war, der mit seinem unvergleichlich sehnsuchtsvoll intonierten ersten »Konstanze«-Ruf die unzähligen Verwicklungen in der Entführung aus dem Serail in Gang setzte und zu einem selbstverständlichen Abenteuer eigener Standhaftigkeit machte, wiederum auf den sieghaft reinen Glanz seiner Stimme vertrauend. Wenn je einer den Beweis erbracht hat, daß Mozart für seine Tenorgestalten keinerlei Schatten duldet, keinerlei Zwiespältigkeit oder Anfälligkeit – keiner hat ihn überzeugender erbracht als Fritz Wunderlich. Seine Mozart-Gestalten waren Helden ohne alles Zwielichtige, sein strahlend klarer Mozart-Gesang war gleichsam die natürliche Form mozartischen Heldenlebens. Nachprüfbar nicht zuletzt an der Figur des Don Ottavio, die Wunderlich von ihrem Mauerblümchendasein erlöst hat: auch hier ein Mannsbild auf der Bühne, zum ersten Mal vielleicht ein echter Widerpart zu Don Giovanni, ebenso gewichtig, ebenso bedeutsam.
Wunderlich, der Mozart-Tenor: Dieses Bild ist bekannt. Kein falsches Bild und vom Lauf der Zeit auch nicht wesentlich verfälscht. Das zeigen Live-Mitschnitte von damals, von den Salzburger Festspielen oder der Wiener Staatsoper, heute in der legalen Grauzone des Schallplattenmarktes erst öffentlich gemacht und jedermann als kostbares Dokument zur Verfügung stehend. Dennoch, das Bild vom Mozart-Tenor hat sich vor vieles andere gestellt, das auch – und ebenso wesentlich – Wunderlichs Kunst und Karriere ausmachte. Allein ein Überblick über die Werke aus dem 20. Jahrhundert, die Wunderlich gesungen hat, zeitgenössische Musik nach herkömmlicher Wortwahl, kann einen das Staunen lehren.Werner Egk, Carl Orff, Leoš Janáček, dazu Pfitzner, Richard Strauss, Mahler und Alban Berg, Strawinsky, Günter Raphael, Hermann Reutter oder Luigi Dallapiccola – diese Komponistenreihe würde genügen, um Wunderlich, wiederum nach herkömmlichem Jargon, als Spezialisten für zeitgenössische Musik zu ehren.
Überhaupt greift die Rede vom Opernsänger zu kurz. Konzertsänger war er ebenso intensiv und ebenso tieflotend; daß Mozart und Bach die beiden Eckpfeiler seiner musikalischen Welt seien, hat Fritz Wunderlich nicht nur dahergeredet. Regelmäßig sagte er lukrative Operntermine ab, um Jahr für Jahr Bachs Passionen zu singen. Auf einen bündigen Nenner gebracht: Der künstlerische Kontakt mit Karl Richter war ihm ebenso wichtig wie derjenige mit Herbert von Karajan, Rafael Kubeliks unorthodoxe Oratorienaufführungen bedeuteten ihm genausoviel wie Karl Böhms ausgezirkelte Operndirigate. Und zuletzt, so schien es, hatten die Dirigenten allesamt das Nachsehen, weil sie den begehrten Opern-und Oratoriensänger mit dem Liedersänger Wunderlich teilen mußten – ein Verlust für die Opernbühne und ein Verlust mehr noch für die Konzertgänger, zumal Wunderlich in den letzten Jahren seine Konzertverpflichtungen stark einschränkte.
Und dennoch, was für ein Gewinn: der Liedersänger Fritz Wunderlich! Nirgends läßt sich seine eminente Gesangskunst besser ablesen als beim Liedgesang. Die Worte müßten dem Sänger wie Kaviar im Munde zergehen, meinte einst die Gesangspädagogin Franziska Martienssen-Lohmann. Kaum einer hatte sich dieses kulinarische Ideal so zu eigen gemacht wie Fritz Wunderlich. Singen und Sagen waren bei ihm eines, vokaler Gestus und Textdeutung bedingten sich stets unmittelbar. Dazu die strahlende Leichtigkeit seiner metallglänzenden und dennoch weicher Schattierungen fähigen Stimme, elegant geführt bis in die extrem hohen Lagen – sie schien das Geheimnis des absoluten Gesangs in sich zu bergen. Faßbar wurde es für den Zuhörer als unbekümmerte Naivität, freilich im lautersten Wortsinne gemeint, ein Singen gleichsam ohne Kunst, ohne Allüre und ohne Manierismen. Und sicher ohne Künstelei. Kein Ringen wurde hörbar, weder um stimmliche Perfektion noch um tieflotende Grade des interpretatorischen Ausdruckes. All das war da, stand dem Sänger zu Gebot, ohne daß er es in der einen oder anderen Weise hätte herbeizwingen müssen. Daß dahinter unermeßlich viel Arbeit stand, harte Arbeit, Konzentration und eine Intensität bis zur existentiellen Gefährdung durch Selbstverausgabung – wer hätte es schon gemerkt? Vielleicht seine Kollegen, Brigitte Fassbaender etwa: »Fritz Wunderlich – der hat immer so gesungen, als ob es das letzte Mal wäre. Das möchte ich auch…«[1]
Ruhm ist die Summe der Mißverständnisse – auch diese Erfahrung blieb Fritz Wunderlich nicht erspart. Sein Name stand bald für mehr als nur seine Person, wurde zum Symbol für sängerische Perfektion schlechthin, für einen natürlichen, unverdorbenen, unaffektierten Gesang. Symbolen aber eignet keine faßbare Realität; sie stehen für sich selbst, entziehen sich jeder Verdinglichung. Zudem sind Symbole Allgemeinbesitz. Der Name Fritz Wunderlich war in aller Leute Mund, wurde mehrheitlich gar von Leuten gehandelt, die nie einen Fuß in ein Opernhaus oder einen Konzertsaal gesetzt hatten. Jeder kannte Fritz Wunderlich und hatte also auch ein Urteil über ihn – pauschal in den meisten Fällen, ein Urteil, das unbesehen zum Vorurteil wurde. Die unbekümmerte Naivität, die in Wunderlichs Gesang stets mitschwang, wurde in der Folge für bare Münze genommen: ein naiver Sänger, naturburschenhaft-jovial, stets zu einem Scherz aufgelegt, schulterklopfend im Kollegenkreis Witze reißend – die altbekannte Mär vom Götterjungen, dem alles in den Schoß fällt.
Ein fatales Mißverständnis – auch wenn sich Wunderlich nach außen hin so geben mochte. Daß es in seinem Innern vielfach anders aussah, daß diese anstekkende Lustigkeit, die er überall verbreitete, oft nur Fassade war, Selbstschutz, ließ er kaum einen merken. Außen und innen hatte er früh schon trennen gelernt. Vielleicht zu hart, unnachgiebig auch hier.
Ein einziges Mal habe ich Fritz Wunderlich gehört: Junifestwochen 1966, im Großen Saal der ehrwürdigen Zürcher Tonhalle, Gustav Mahler, Das Lied von der Erde. Hertha Töpper sang an der Seite Wunderlichs, Joseph Keilberth dirigierte. Bis auf wenige Randplätze in den vordersten drei, vier Parkettreihen war der Saal ausverkauft; ein kleines Glück für den jungen Gymnasiasten, der seit knapp zwei Monaten erst über einen Legitimationsausweis verfügte, welcher zum Bezug von preisgünstigen Studentenkarten an der Abendkasse berechtigte. Auf einem dieser Randplätze, Parkett links, saß ich also, hörte und sah ich Fritz Wunderlich. Unnötig zu betonen, daß die Erinnerung daran ziemlich verblaßt ist; und es wäre Eulenspiegelei, interpretatorische Details in Wunderlichs Gesang von damals heute noch einmal dingfest machen zu wollen. Haften geblieben ist nicht viel mehr als der Eindruck einer strahlkräftigen Stimme und eines sich mit kompromißloser Intensität verausgabenden Sängers. Noch sehe ich ihn, am Schluß seines ersten, heldischen Gesanges, mit vor Anstrengung hochrotem Kopf vor mir. Ein Sänger, der alles gibt, der alles gab. Auch an diesem Abend. Was ich nicht wissen, was überhaupt keiner ahnen konnte: daß es Wunderlichs letztes, Konzert überhaupt sein sollte.
Keineswegs möchte ich behaupten, daß Fritz Wunderlich der »größte«, Sänger sei, den ich je gehört habe – was immer das auch heißen mag. Ebensowenig vermöchte ich aus dieser einzigen Begegnung mit ihm irgendwelche Legitimation abzuleiten, seine Biographie zu schreiben – seinem Lebensweg nachzugehen von den letzten, großen Erfolgen in Wien, Berlin und Edinburgh zurück zum kräftezehrenden Opernalltag in München, zu den harten Lehrjahren in Stuttgart, zur entbehrungsreichen Studienzeit an der Freiburger Musikhochschule und letztlich zurück zu den Kinder- und Kriegsjahren im rheinpfälzischen Kusel.
Immerhin, in den Jahren seit diesem Lied von der Erde in der Zürcher Tonhalle hat sich zumindest ein wesentlicher Eindruck gefestigt – bestätigt im Hören und Wiederhören von Wunderlichs zahlreichen Schallplatten: daß der vielzitierte »Schleier der Interpretation«, der so häufig zwischen dem Hörer und der Musik hängt und also die Sicht auf das Wesentliche der Musik beeinträchtigt, bei Wunderlichs Gesangskunst fehlt. Sein Singen, seine künstlerische Botschaft, trifft direkt und unmittelbar, trifft tiefer und nachhaltiger. An diesem Eindruck hat sich für mich his auf den heutigen Tag nichts geändert.
ERSTER TEIL
KUSEL, KAISERSLAUTERN, FREIBURG
1930–1955
ERSTES