Dennoch wurden sie als Helden des Vaterlandes gefeiert – auch im bayerisch-rheinpfälzischen Kusel. Und hier aus einem ganz besonderen Grund: Paul Bauer stammte nämlich aus Kusel, war hier 1896 geboren worden. Mit Stolz sprach das Städtchen von seinem berühmten Bergsteigersohn, dem nun die ganze Welt Aufmerksamkeit entgegenbringe, und es war beschlossene Sache, daß Kusel, unverhofft in den Brennpunkt weltweiten Interesses geraten, fortan mit gestärktem Selbstbewußtsein weltmännisch in die Zukunft blicken wolle. Noch im selben Jahr 1929 einigten sich die Stadtväter auf die Gründung eines Verkehrsvereins mit dem Ziel, künftig »den Fremdenverkehr zu fördern und den Umsatz für die Geschäftswelt zu steigern«.[3] Komme da, was kommen mag.
Kusel, eine der westlichsten Städte Bayerns: Das ist keineswegs als geographisches Verwirrspiel gemeint. Seit 1816, seit der napoleonischen Neuordnung Europas, gehörte Kusel zur Bayerischen Rheinpfalz, eine linksrheinische Provinz, weit abgelegen vom königlich-bayerischen Mutterland. Zudem galt die Bayerische Pfalz, zusammen mit den im Norden sich anschließenden Preußischen Rheinprovinzen, seit 1919 als Grenzland. Denn das westlich anliegende Saarland war, dem Versailler Vertrag gemäß, nach dem Ersten Weltkrieg aus Deutschland ausgegliedert und direkt dem Völkerbund unterstellt worden.
Kusel ist ein geschichtsträchtiger Ort in einem sagenumwobenen Landstrich, und seine historischen Wurzeln reichen weit in die Vergangenheit zurück. Der Ortsname Kusel ist wohl auf das keltische Wort Cosla zurückzuführen, eine Bezeichnung für fließendes Gewässer, ein Hinweis aber auch, daß der Ort schon in frühkeltischer Zeit besiedelt gewesen sein muß. Der Überlieferung nach hat sich König Chlodwig I., der legendäre Begründer des fränkischen Reiches, nach seinem Sieg über die Alemannen im Jahre 496 von Bischof Remigius von Reims taufen lassen und ihm zum Dank das Remigiusland geschenkt: ein Flecken Land mit den Orten Cosla (Kusel) und Gleni (die Nachbargemeinde Altenglan). Datum und Ereignis sind zwar umstritten, und die Historiker zögern denn auch nicht, beides in den Bereich der Sage zu verweisen. Dennoch haben die Kelten und Römer nachweislich ihre Spuren hinterlassen. Eine erste urkundliche Erwähnung datiert vom Jahr 952, und bis in die Gegenwart hinein ist die Bezeichnung Remigiusland für den engeren Bereich der Kuseler Umgebung geläufig geblieben.
Im Tal des Kuselbachs gelegen, inmitten von Wiesen, Wäldern und Feldern, zu Füßen der Burg Lichtenberg, der gewaltigsten mittelalterlichen Festung Deutschlands, und des Remigiusbergs hat Kusel seit 1347 ununterbrochen Stadtrechte. Der Kern des Städtchens, im barocken und klassizistischen Stil gebaut, hat mit seinem alten Marktplatz, mit den malerischen Treppengässchen und verwinkelten Innenhöfen die verträumte Stimmung aus früherer Zeit weitgehend bewahren können. Zweimal wurde der romantische Marktflecken eingeäschert: 1635 in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges und 1794 auf Geheiß der französischen Revolutionsarmee.
Brauchtum und kulturelle Traditionen aber lebten weiter, vor allem das Musikantentum. Westpfälzer Musikantenland heißt der Landstrich seit alters. In den Notjahren nach der Französischen Revolution kam hier jenes Wandermusikantengewerbe auf, das so charakteristisch ist für die Westpfalz. Woher diese besondere Neigung und Begabung zur Musik stammt, ist ungeklärt. Daß die vielen Zuwanderer, die als Bergleute oder religiös Verfolgte in die Westpfalz kamen, dieses Brauchtum aus ihrer Heimat, aus Böhmen, Sachsen, aus Tirol und aus der Schweiz, gleichsam importiert haben sollen, ist zwar eine bestechende, aber nicht bewiesene Hypothese. Fest steht einzig, daß sich das Wandermusikantentum im Verlauf des 19. Jahrhunderts rasch entfaltete. Man tat sich zu Partien von 6 bis 14 Mann zusammen, spielte zunächst in Frankreich und in den anderen europäischen Nachbarländern, zog später dann durch die halbe Welt – als »Bayere« oder »Leebcher«, Blas- oder Streichmusikformationen, Westpfälzer Wandermusikanten, unterwegs in die berühmtesten Seebäder Europas, Zirkusmusikanten unter Zeltdächern in der Alten und Neuen Welt. In der Blütezeit um 1900 dürften etwa 2500 Westpfälzer Wandermusikanten unterwegs gewesen sein. Geschätzt wird, daß sie pro Jahr ungefähr eine Million Goldmark nach Hause brachten. Neben populären Opernmelodien spielten sie vor allem Tanzmusik: polnische Krakowiaks, ungarische Csárdás, irische Reels, englische Jigs, Hornpipes und Lancers sowie böhmische Polkas, in stets neuen, stets eigenen Arrangements. Und aus der Neuen Welt brachten diese Wandermusikanten neue Musik aus dem Umfeld früher Jazzvorformen mit: Cakewalk, Ragtime oder Turkeywalk – lange bevor John Philip Sousa an der Pariser Weltausstellung von 1899 mit dieser damals noch ungewohnten Musik die staunenden Europäer verblüffte.[4]
Die Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg wirkte sich auch in der Bayerischen Rheinpfalz aus. Nachdem die deutsche Westfront im Herbst 1918 zusammengebrochen war, marschierten schon Anfang Dezember die ersten französischen Besatzungstruppen in Kusel ein. Härten blieben in den folgenden Jahren nicht aus: Bald machte sich auch die Inflation, das Schreckgespenst der goldenen zwanziger Jahre, bemerkbar. Hier in Kusel waren es nicht Jahre des materiellen Wohlstandes. Allenfalls spürte man eine Aufbruchstimmung – dumpfe, undeutliche Visionen von einer neuen Lebensweise, Anzeichen einer neuen Weltsicht. Von den großen Ereignissen draußen in der Welt sowie jenen Neuerungen, die sich im Deutschen Reich anbahnten, war in Kusel vorläufig kaum etwas zu merken. Einschneidende und höchst willkommene Veränderungen gab es erst im Jahre 1930. Im Juni zogen sich die ersten Truppenverbände der französischen Besatzungsmacht aus Deutschland zurück. Alltag, deutscher Alltag, konnte nun wieder einkehren, auch in Kusel. Im Städtchen lebten damals ungefähr 3500 Einwohner, verteilt auf 900 Haushalte. Nur wenige Straßen waren gepflastert oder geteert; die wichtigsten erhielten nach und nach einen Belag: Vereinzelt wurden auch Gehsteige angelegt. Außerhalb des Städtchens aber säumten nach wie vor verwilderte Halden und unwegsame Böschungen die Hügel und Haine. Eine idyllische Landschaft; kaum eine industrielle Anlage, die den weitgebreiteten Flickenteppich aus Wäldern und Feldern, Wiesenhügeln und schattigen Tälern störend aufgerissen hätte.
Am 2. Oktober 1930 sprach der Inhaber der Gaststätte »Emrichs Braustübl« und des dazugehörigen Central-Kinos, Herr Kapellmeister Paul Edmund Wunderlich, beim Kuseler Standesbeamten vor. Er habe die Geburt eines Sohnes anzuzeigen. Friedrich Karl Otto, geboren am 26. September, »vormittags um siebenunddreiviertel Uhr«, wie es auf dem entsprechenden Formular handschriftlich vermerkt wurde. Im Städtchen wußte man schon längst von dieser Neuigkeit; der Vater hatte noch in den Morgenstunden ein improvisiertes Schild an die Tür seiner Gastwirtschaft gehängt:
Fritzchen ist heute angekommen.
Wirtschaft geschlossen!
Ein Jahr zuvor erst war Kapellmeister Wunderlich mit seiner Frau und der elfjährigen Tochter Marianne nach Kusel gezogen. Er war Thüringer, am 16. September 1892 in Mühlhausen als Sohn eines Schornsteinmaurers geboren, und hatte vor dem Ersten Weltkrieg seinen Lebensunterhalt als Cellist in verschiedenen Tanzmusikkapellen verdient. Gegen Kriegsende wurde er durch einen Bauchschuß schwer verletzt. Fortan mußte er Tag und Nacht harte Bandagen tragen; mit seiner Gesundheit stand es nicht zum besten.
Seine Frau hatte Wunderlich als deutscher Militärkapellmeister auf Zypern kennengelernt: Anna Malz, geboren am