»Morgen beginnt also meine eigentliche Arbeit wieder. Meine Arbeit, die mich wieder ganz erfüllen wird, die mir über alle Sorgen und Kümmernisse des Lebens hinweghilft. Je mehr ich auf meinem Weg fortschreite, desto näher kommt mir das Wort Beethovens: ›Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie.‹ Wie recht hatte dieser große Musiker, und wie klein und erbärmlich kommt man sich vor, wenn man die Majestät einer Symphonie erlebt, wenn man die ganze Urgewalt fühlt, die das Wort Musik als Begriff in sich trägt. Die ungeheure Verantwortung, die wir jungen Musiker tragen müssen, nämlich die Schöpfungen unserer großen Meister zum Leben zu erwecken, muss uns heilig sein. Denn nur wer den Geist, das eigentliche der Kunst entdeckt, der ist von der Vorsehung berufen, Künstler zu sein. Viele scheitern daran, dass sie sich ablenken lassen vom Beifall, der sie umrauscht, dass sie sich an dem Gefühl freuen, gefeiert zu sein. Das ist der Anfang des Verfalls.
Aber ich will keinen Vortrag über Kunstauffassung halten. Ich möchte hineinführen in das unfassbare Geheimnis, das echte Musik, gute, große Musik heißt.«
Prolog
»Das Schicksal hat uns alles genommen.« Ein einziger Satz die Todesanzeige, Sprachlosigkeit vor dem Unfaßbaren. Die Nachricht vom Tode Fritz Wunderlichs am 17. September 1966 erschütterte mit jener Kraft, die sonst nur Hinterhältigem eignet. Mitten aus einem jungen Leben wurde er herausgerissen, neun Tage vor seinem sechsunddreißigsten Geburtstag und auf halber Höhe einer ganz großen Weltkarriere – ein grotesker Unfall und ein so alltäglicher zugleich, nach menschlichem Ermessen. Unbegreiflich, und doch mußte man ihn zu begreifen versuchen, diesen unendlichen Widersinn.
Deutschland, die großen Opernbühnen Europas, die renommierten Festspiele, Salzburg und München voran, hatten einen singulären Künstler verloren und einen Menschen, der alle in seinen Bann zog. Ein Sänger, der keine Mühe zu kennen schien, der mit seiner Kunst ebenso selbstverständlich wie verschwenderisch umging – verschwenderisch im Geben – und gerade deshalb das Herz zahlloser Musikfreunde traf. Unmittelbarer und wohl auch tiefer traf, als große Kunst es sonst vermag. Eine ganze Welt trauerte um diesen begnadeten Sänger – denn Fritz Wunderlich gehörte längst der Welt. Der Verlust, den die Musikwelt erlitten habe, sei nicht abzusehen, hieß es damals. Heute, nach einem Vierteljahrhundert, wissen wir es: Er ist unabsehbar. Fritz Wunderlich ist ohne Nachfolger geblieben.
Es heißt, für einen Künstler sei es am schönsten, auf der Höhe seines Ruhmes von der Bühne abzugehen. Wenn aber der Tod vorzeitig ins Leben greift, plötzlich und gewaltsam, wird dieser Abgang von der Bühne des Lebens zum tragischen Schicksal. Unergründlich und unfaßbar.
Zum letzten Mal stand Fritz Wunderlich am 5. September 1966 als Tamino auf der Bühne – in einer Zauberflöten-Vorstellung im Rahmen eines Gesamtgastspiels der Württembergischen Staatstheater am Edinburgh Festival 1966. Damit hatte sich ein Kreis geschlossen: Mozarts Märchenprinz war Wunderlichs letzte und erste Rolle auf der Opernbühne. Am 21. Juli 1954 debütierte er als Tamino – eine Aufführung der Staatlichen Hochschule für Musik im Freiburger Paulussaal, bestritten von Studierenden der Gesangsmeisterklassen. Für den Gesangsstudenten Wunderlich ein großer Erfolg – aber nicht mehr. Kein Anfängervertrag und schon gar keine sensationellen Angebote folgten, überhaupt keinerlei Zeichen eines kometenhaften Aufstiegs. Einzig die Städtischen Bühnen Freiburg meldeten sich: In ein paar Bettelstudent-Aufführungen durfte Fritz Wunderlich für einen erkrankten Sänger einspringen. Ein Agent hörte ihn und vermittelte ein Vorsingen an den Württembergischen Staatstheatern in Stuttgart. Keine Rede davon, daß Wunderlich bei diesem Vorsingen brilliert hätte.Vielmehr verlor er beinahe die Nerven. Dennoch bot ihm Generalmusikdirektor Ferdinand Leitner einen Fünfjahresvertrag an – nicht weil er einen erstklassigen Opernsänger entdeckt hätte, sondern weil er von Wunderlichs Talent dazu überzeugt war. Fünf Jahre wollte er ihm Zeit geben: daß aus dem begabten Gesangsstudenten ein veritabler Opernsänger werde.
Fünf Jahre blieb Fritz Wunderlich der Stuttgarter Oper treu – Lehrjahre, harte Jahre und auch Jahre voller Versuchungen. Vorerst sang er ausschließlich kleine Partien, Boten, Diener und andere Randfiguren. Seinen Durchbruch in einer großen Partie erlebte er am 18. Februar 1956, als er für einen erkrankten Kollegen als Tamino einsprang – wiederum die Rolle des Märchenprinzen, die ihn fortan wie ein zweites Ich begleiten sollte. Doch auch jetzt war es nicht der vielzitierte kometenhafte Aufstieg, der folgte, sondern harte Arbeit, Opernalltag Jahr für Jahr, durchzustehen nur mit eiserner Konzentration. Auch Niederlagen mußte Fritz Wunderlich einstecken lernen – als etwa Günther Rennert, der zu den wenigen Regisseuren gerechnet werden kann, die damals das musikalische Theater wegweisend beeinflußten, ihn kurzerhand aus der Besetzungsliste seiner Wildschütz-Neuinszenierung herausstreichen wollte. Weil er eine schiefe Nase habe und ein linkischer Schauspieler sei. Was im Klartext hieß, daß Wunderlich überhaupt kein Schauspieler war. Ferdinand Leitner mahnte damals zur Besonnenheit, und auch Generalintendant Walter Erich Schäfer hielt Rennert an, sich die Sache doch noch einmal zu überlegen. Rennert überlegte, zwang sich zur Geduld und formte in den nächsten paar Tagen aus dem Sänger Fritz Wunderlich einen Opernsänger und einen Schauspieler. Es schien ihm der Mühe wert, zumal sich Wunderlich mit einer geradezu überbordenden Intensität in diese Arbeit stürzte. Die Mühe machte sich auch bezahlt – nicht zuletzt in einigen maßstabsetzenden Rennert-Inszenierungen, unübertroffen bis heute, trotz aller nachgelieferten Konkurrenz.
Den internationalen Durchbruch erlebte Wunderlich im Sommer 1959 an den Salzburger Festspielen als Henry in Richard Strauss’ Oper Die schweigsame Frau. Auch das eine Rennert-Inszenierung; Karl Böhm dirigierte. Einige Wochen zuvor hatte Wunderlich einen Vertrag mit der Münchner Oper abgeschlossen. München wurde nicht nur seine neue Wirkungsstätte, sondern viel mehr: seine Heimat. Hier fühlte er sich wohl, hier wollte er leben. Endlich ein geruhsameres Leben? Das sprichwörtliche Ausruhen auf den Lorbeeren? Wunderlichs Terminkalender gibt andere Auskünfte. Bis zu siebzig Aufführungen pro Spielzeit hatte er in München zu singen – so schrieb es das Pflichtenheft vor. Hinzu kamen vierzig bis fünfzig Abende an der einstigen Stammbühne in Stuttgart. Und nicht zu vergessen die Festspielauftritte, die zahlreichen Gastspiele und Konzertverpflichtungen, in der deutschen Provinz und vermehrt auch in den bedeutenden Musikmetropolen Europas, dazu Rundfunk- und bald auch Schallplattenaufnahmen: Die Stufenleiter zum großen Erfolg wollte Sprosse für Sprosse einzeln erklommen werden. Geschenkt wurde nichts.
Am 26. September 1959, seinem neunundzwanzigsten Geburtstag, stand Fritz Wunderlich zum ersten Mal auf der Bühne der Wiener Staatsoper, als Tamino in einer Zauberflöten-Vorstellung. Ein einzelnes Gastspiel, mehr nicht. Dreieinhalb Jahre sollten vergehen, ehe Wunderlich als Mitglied des Wiener Ensembles in der Staatsoper Einzug hielt. Wien wurde zu seiner künstlerischen Heimat, das hat Fritz Wunderlich mehrmals beteuert; allein, leben wollte er weiterhin in München. Und längst gehörte er der ganzen Welt: Anfragen trafen von allen Kontinenten ein. Zu 95 Prozent mußte er absagen laut eines Berichtes aus dem Jahr 1960 zuhanden des Landesarbeitsamtes Südbayern – wollte er auch bewußt absagen, um seine künstlerische Entwicklung nicht zu gefährden. In dieser Hinsicht war er unnachgiebig und blieb er unnachgiebig, trotz aller verlockenden Angebote. Mindestens zehn Jahre wollte er noch singen, sagte der Fünfunddreißigjährige, und weitere zehn Jahre wären zweifellos hinzugekommen. Den Liedersänger Fritz Wunderlich hatte die Musikwelt ja gerade erst zur Kenntnis genommen – ihm vertraute Wunderlich in seinen paar letzten Lebensjahren am stärksten. Hier sah er seine eigentliche Zukunft. Lohengrin, Stolzing oder gar Tannhäuser – diese Fragen beschäftigten ihn weit weniger. Jedenfalls kein Thema für die kommenden zehn Jahre, meinte er. Eine Haltung, mit der sich letztlich auch Wieland Wagner und Bayreuth abfinden mußten.
»Die Tonkunst begrub einen reichen Besitz, aber noch schönere Hoffnungen.« Das Wort Franz Grillparzers auf den Tod Schuberts ist wiederholt auf Fritz Wunderlich angewandt worden. Mit einigem Recht, zweifellos. Denn allein der Gedanke, daß Wunderlich heute noch singen würde, ein sechzigjähriger, bestandener Sänger im Kreis seiner Kolleginnen und Kollegen