Betrifft: Bitte um Beurlaubung und Abschluß des Studiums an der Hochschule.
Ich bitte für den Rest des Semesters vom 1. Juli an um Beurlaubung, da ich durch Konzerte, Rundfunk- und Grammophonaufnahmen derartig in Anspruch genommen bin, daß es mir nicht möglich ist, meinen Unterricht ordnungsgemäß bis zum Semesterende zu absolvieren.
Wie an der Hochschule bekannt ist, beginnt am 1. August mein Vertrag mit dem Württembergischen Staatstheater in Stuttgart. Das bedeutet, daß mit dem laufenden Semester mein Studium an der Hochschule beendet ist.
Zum Wintersemester 1950/51 kam ich nach Freiburg, um auf Anraten von Herrn Professor Dr. Müller-Blattau, der am Gymnasium meiner Heimatstadt Kusel mein Musiklehrer war, Gesang zu studieren. Damals war es für mich nicht leicht, dieses Studium zu beginnen, von dem ich nicht einmal wußte, ob es mir das heiß ersehnte Ziel, Sänger zu sein, bringen würde. Wirtschaftliche Schwierigkeiten stellten mich häufig vor unlösbar scheinende Probleme. Gesundheitsschäden, bedingt durch die nächtelangen Tanzmusiken, die mir meinen Lebensunterhalt einbrachten, stellten sich ein. Oft war ich fest entschlossen, diesen mir sinnlos erscheinenden Kampf aufzugeben. Daß ich dieses nicht tun mußte, daß ich aus allen diesen tiefen Depressionen immer wieder herausfand, ist zuallererst das Verdienst meiner Lehrerin, Frau Professor Margarethe von Winterfeldt. Sie war es, die mich sängerisch denken und fühlen lernte, die mir in liebevollem, sorgfältigem Unterricht den Weg aufzeigte, den ich gehen mußte. In den langen Jahren meines Studiums war sie mir mehr als eine Lehrerin, sie war mir das Ideal und Vorbild des künstlerischen Menschen und wird dies für mich immer sein. Ihr gilt mein Dank und meine tiefe Verehrung, solange ich denken kann.
Jedoch auch der Hochschule möchte ich danken, ganz besonders Herrn Professor Dr. Scheck, für die wirtschaftliche Hilfe, ohne die es mir nicht möglich gewesen wäre, mein Studium zu vollenden. Ich möchte meinen Dank dadurch abstatten, daß ich alles daran setzen werde, das Vertrauen, das die Hochschule und alle meine Lehrer in mich setzten, zu rechtfertigen und ein guter Sänger zu sein.
Die nun hinter mir liegenden 5 Jahre meines Studiums waren die wertvollsten und schönsten meines Lebens. Sie haben aus mir einen Menschen gemacht, der weiß, wo sein Ziel ist und für den es nur eins gibt, dieses Ziel nun auch zu erreichen.
Lassen Sie mich noch einmal meinem tiefen Dank Ausdruck verleihen. Mögen alle jungen Menschen, die an der Hochschule studieren, soviel wertvolle Erfahrungen mit ins Leben nehmen, wie ich es nun darf.
ZWEITER TEIL
STUTTGART
1955–1960
FÜNFTES KAPITEL
Was wußte Wunderlich von Stuttgart? Von den Württembergischen Staatstheatern, wie es offiziell und im Plural hieß? Der Betrieb umfaßte Oper und Schauspiel, Musiktheater und Sprechbühne. Und Tanz selbstverständlich: das Stuttgarter Ballett, auch wenn dieses im Jahre 1955 noch nicht weltweit von sich reden machte. Dennoch hatte Stuttgart, hatten die Württembergischen Staatstheater einen hervorragenden Ruf. »Winter-Bayreuth« nannte man das Große Haus, anspielend auf die großen Bayreuther Sängerdarsteller, die in Stuttgart zum festen Ensemble gehörten: der Heldentenor Wolfgang Windgassen, die Wagner-Tragödin Martha Mödl, dazu Gustav Neidlinger sowie die unvergleichlichen Sängerdarstellerinnen Res Fischer und Grace Hoffman. Inge Borkh sang hier als ständiger Gast, auch Leonie Rysanek, Ira Malaniuk und Karl Schmitt-Walter. Wieland Wagner inszenierte regelmäßig in Stuttgart – seit 1954, als er mit »Fidelio« seinen Einstand gegeben und Kontroversen, ja beinahe einen Skandal ausgelöst hatte. Stuttgart als heimliche Hochburg des modernen Musiktheaters – davon hatte man gehört, weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Zumal das Stuttgarter Opernensemble beinahe Jahr für Jahr zu ausgedehnten Gastspielreisen eingeladen wurde und sich längst das Renommee der weitaus begehrtesten deutschen Reiseoper eingehandelt hatte.
Stuttgart, so scheint es rückblickend, hatte Opernglück. Der vom Architekten Max Littmann konzipierte dreigliedrige Hoftheaterkomplex aus dem Jahr 1912 – mit Großem und Kleinem Haus samt Verwaltungsgebäude und Kulissentrakt – blieb während des Zweiten Weltkriegs zwar nicht unbeschädigt. Im September 1944 fiel das Kleine Haus, wo das Schauspiel einquartiert war, einem Bombenangriff zum Opfer, während das Große Haus, Heimstätte der Oper, als eines der wenigen Monumentalgebäude im ganzen Stadtzentrum der Zerstörung entging. Gleich nach dem Krieg konnte man den Opernbetrieb wieder aufnehmen, in einem intakten Haus und ohne auf Provisorien angewiesen zu sein. Und nun sollte es sich zeigen: Stuttgart hatte in der Tat Opernglück. Auch mit seinem Intendanten. Seit 1950 amtierte Walter Erich Schäfer, zuerst als »Sparkommissar«, der auf behördliches Geheiß die Betriebskosten zu reduzieren hatte. Mit der Währungsreform war zwar das deutsche Wirtschaftswunder noch nicht ausgebrochen, waren aber immerhin die Grundlagen für einen neuen Aufschwung gelegt, und Schäfer verstand es, den Wind der Wirtschaftskonjunktur durch geschickt gesetzte Segel einzufangen. »Am besten spart, wer die Einnahmen erhöht«, hieß seine Devise.[79] Und er sollte recht bekommen: Bereits drei, vier Jahre nach seinem Amtsantritt spielten die Württembergischen Staatstheater beinahe die Hälfte der staatlichen Subventionen wieder ein.
Die Bedeutung Stuttgarts als einer ernstzunehmenden, keineswegs provinziellen Musikstadt beschränkte sich aber nicht nur auf die Staatstheater. Stuttgart konnte zu Recht den Rang der »geheimen Chorhauptstadt Deutschlands«[80] beanspruchen. Unzählige Chorgemeinschaften in und rund um Stuttgart traten Jahr für Jahr mit neuen Programmen an die Öffentlichkeit, opferten ihre Freizeit für die Einstudierung der großen Chorwerke: der populäre Stuttgarter Liederkranz, der traditionsreiche Philharmonische Chor, der Stuttgarter Oratorienchor sowie der Hymnuschor mit Knaben-Sopran- und Altstimmen. Zudem war eine Reihe bedeutender Orchester in Stuttgart zu Hause: das Württembergische Staatsorchester als Opernorchester, das Orchester des Süddeutschen Rundfunks, die Stuttgarter Philharmoniker sowie Karl Münchingers Stuttgarter Kammerorchester. Eine unüberblickbare Vielfalt an musikalisch-kulturellen Institutionen und Aktivitäten. Daß Fritz Wunderlich hier zahlreiche neue Aufgaben finden würde, lag auf der Hand.
Stuttgart 1955, eine Randbemerkung: Am 9. Mai, einem Sonntagmorgen, gelang es einem einzigen Mann, die gespannteste Aufmerksamkeit nicht nur der einheimischen Bevölkerung, sondern aller Deutschen auf sich zu lenken und Stuttgart für ein, zwei Tage ins Zentrum des weltpolitischen Interesses zu rücken. Der Deutschen Dichter, Thomas Mann, knapp vor seinem 80. Geburtstag stehend, war in die Württembergische Metropole gekommen, um zum 150. Todestag Schillers im Großen Haus auf Einladung der Deutschen Schillergesellschaft seinen Essay »Versuch über Schiller« vorzutragen. Unweit jener Stelle, wo der junge Schiller einst die Karlsschule erduldet und die Räuber entworfen hatte. Einige Tage später wiederholte Thomas Mann seinen Vortrag im anderen Deutschland, in Weimar. Glaubte er an einen Erfolg seiner symbolischen Reise in die beiden deutschen Staaten? In Stuttgart jedenfalls war sein Auftritt nicht überall auf Gegenliebe gestoßen: »Er und wir wurden mit Protestbriefen überschüttet«, erinnerte sich Generalintendant Schäfer, »weil wir einen Mann über unseren ›Nationaldichter‹ sprechen ließen, der sich im Ausland schriftlich und funkmündlich als eine Art Vaterlandsverräter erwiesen habe. Immerhin: 1955!«[81]
1955, am 1. August, begann Wunderlichs Vertrag mit den Württembergischen Staatstheatern. Friedrich Wunderlich – so steht sein Name zuunterst auf der alphabetisch gereihten Ensembleliste im Verzeichnis der Spielzeit 1955/56, gleich nach Wolfgang Windgassen. Und Windgassen war es auch, der den jungen Kollegen gleich in den ersten Tagen beiseite nahm, mit ihm in die Garderobe ging und sagte: »Ich will Ihnen gleich jetzt etwas sagen: Alkohol hat hier, in der Garderobe, nichts zu suchen. Und falls Sie hier einen Kollegen mit Alkohol antreffen, so merken Sie sich das genau: Dann wissen Sie, daß Sie länger singen werden als Ihr Kollege.«