Die Gräfin seufzte schwer und schlug die Augen nieder.
»Ich stehe zu Diensten«, sagte sie.
Natalie wußte, daß sie das Zimmer verlassen sollte, konnte sich aber nicht dazu entschließen, ihre Kehle war wie zugeschnürt und sie blickte den Fürsten starr an.
»Jetzt, diesen Augenblick. Nein, das kann nicht sein!« dachte sie.
»Geh, Natalie, ich werde dich rufen!« flüsterte die Gräfin.
Natalie blickte mit erschreckten, bittenden Augen den Fürsten Andree und ihre Mutter an und ging.
»Ich bin gekommen, Frau Gräfin, um die Hand Ihrer Tochter zu bitten«, sagte Fürst Andree.
Die Gräfin fuhr zusammen. »Ihr Antrag …« begann sie mit Würde.
Er schwieg und sah sie erwartend an.
»Ihr Antrag…« sie wurde verwirrt… »ist uns angenehm!… Ich nehme Ihren Antrag an und freue mich sehr, und mein Mann, hoffe ich… Aber es hängt von ihr selbst ab …«
»Ich werde sogleich mit ihr sprechen, sobald ich Ihre Einwilligung habe. Werden Sie sie mir geben?« fragte Fürst Andree.
»Ja«, erwiderte die Gräfin, streckte ihm die Hand entgegen und mit einem gemischten Gefühl der Entfremdung und Zärtlichkeit drückte sie ihre Lippen auf seine Stirn, während er sich auf ihre Hand herabbeugte. Sie wünschte, ihn wie einen Sohn lieben zu können, aber sie konnte ein Gefühl des Zweifels und der Kälte nicht unterdrücken.
»Ich bin überzeugt, mein Mann wird einwilligen«, sagte die Gräfin. »Aber Ihr Vater?«
»Mein Vater, dem ich meine Absicht mitgeteilt habe, hat zur Bedingung gemacht, daß die Hochzeit nicht früher als in einem Jahr stattfinden soll, und das wollte ich Ihnen mitteilen«, sagte Fürst Andree.
»Es ist wahr, Natalie ist noch sehr jung, aber – so lange?«
»Es ist nicht anders möglich«, sagte Fürst Andree seufzend.
»Ich werde sie zu Ihnen senden«, sagte die Gräfin und verließ das Zimmer. Natalie saß bleich und mit trockenen Augen auf ihrem Bett, blickte nach dem Heiligenbild und bekreuzigte sich.
»Komm! Komm zu ihm!« sagte die Mutter. »Er hat um deine Hand angehalten.
Natalie fiel ihre Kälte auf. Später konnte sich Natalie nicht erinnern, wie sie in den Saal getreten war. Als sie ihn anblickte, blieb sie stehen. »Soll wirklich dieser Mann mir alles sein?« fragte sie sich selbst. »Ja, er allein ist mir teurer als alles auf der Welt!«
Fürst Andree kam ihr entgegen.
»Ich liebe Sie seit dem Augenblick, wo ich Sie zuerst gesehen habe! Darf ich hoffen?«
Er blickte sie an mit ernster Leidenschaft. Ihre Miene antwortete: Wozu fragen und zweifeln? Wozu sprechen, wenn man mit Worten nicht ausdrücken kann, was man empfindet. Sie näherte sich ihm. Er ergriff ihre Hand und küßte sie.
»Lieben Sie mich?«
»Ja«, erwiderte Natalie schluchzend und weinte.
»Warum? Was ist Ihnen?«
»Ach, ich bin so glücklich!« erwiderte sie durch Tränen lächelnd. Dann trat sie näher, überlegte einen Augenblick, als ob sie sich selbst fragte, ob sie dürfe – und küßte ihn.
Fürst Andree hielt ihre Hände und blickte ihr in die Augen und fand aber in seinem Herzen nicht mehr die frühere Liebe zu ihr. In seinem Innern hatte sich plötzlich etwas umgewandt, es war nicht mehr das frühere poetische Geheimnis voll Entzücken, sondern Mitleid mit ihrer Weiblichkeit und kindlichen Schwachheit, ein drohendes und zugleich freudiges Bewußtsein der Pflicht, die ihn auf immer mit ihr verband. Das jetzige Gefühl war nicht so hell und poetisch wie das frühere, aber ernster und stärker.
»Hat Ihnen Mama gesagt, daß es nicht früher als in einem Jahr sein kann?« fragte er.
»Ist es möglich, daß ich jetzt in dieser Minute Frau geworden bin, und diesem fremden, liebenswürdigen, klugen Mann, den selbst der Vater verehrt, gleichstehe? Ist es wahr, daß ich jetzt für jede Handlung und jedes Wort verantwortlich bin? Aber was hat er gefragt?«
»Nein«, antwortete sie, ohne sich zu erinnern, was er gefragt hatte.
»Vergeben Sie mir«, sagte Fürst Andree, »aber Sie sind so jung, und ich habe so viel im Leben gesehen, ich fürchte für Sie! Sie erkennen sich selbst noch nicht.«
Natalie hörte mit gespannter Aufmerksamkeit auf seine Worte, bemühte sich aber vergeblich, ihren Sinn zu fassen.
»Wie schwer wird mir dieses Jahr sein, das mein Glück aufschiebt«, fuhr er fort. »Während dieser Zeit werden Sie sich selbst kennen lernen. Ich bitte Sie, nach einem Jahr mein Glück zu machen, aber Sie sind frei, unsere Verlobung bleibt geheim, und wenn Sie sich überzeugen sollten, daß Sie mich nicht lieben … oder …« sagte der Fürst mit gezwungenem Lächeln.
»Warum sagen Sie das?« unterbrach ihn Natalie.
»In einem Jahr werden Sie sich selbst kennen lernen.«
»Ein ganzes Jahr …?« rief plötzlich Natalie, welche jetzt erst begriff, daß die Hochzeit auf ein Jahr aufgeschoben werden solle. »Aber warum das?«
Er erklärte ihr den Grund dieses Aufschubs.
»Es ist schrecklich! Es ist schrecklich!« rief Natalie und brach in Tränen aus. »Ich werde sterben, wenn ich ein Jahr warten soll! Es ist unmöglich! Es ist entsetzlich!«
Sie blickte ihren Bräutigam an und las in seiner Miene Mitleid und Verwunderung.
»Nein, es ist gut«, sagte sie, ihre Tränen trocknend. »Ich bin so glücklich!« Der alte Graf und die Mutter traten ins Zimmer und segneten Braut und Bräutigam. Von diesem Tage an verkehrte Fürst Andree als Bräutigam bei ihnen.
104
Eine kirchliche Verlobung fand nicht statt, und niemand wurde Mitteilung von der mündlichen Verlobung gemacht, da Fürst Andree darauf bestand. Er sagte, da er die Veranlassung des Aufschubs sei, so müsse er auch die ganze Schwere desselben tragen. Er sei auf ewig an sein Wort gebunden, aber er wolle Natalie nicht binden und ihr volle Freiheit lassen. Wenn sie nach einem halben Jahr fühle, daß sie ihn nicht lieben könne, solle es ihr freistehen, zurückzutreten. Natürlich wollten weder die Eltern noch Natalie davon hören, aber Fürst Andree bestand darauf. Er kam jeden Tag, benahm sich aber nicht wie ein Bräutigam im Verkehr mit Natalie. Er redete sie mit »Sie« an und küßte nur ihre Hand. Anfangs herrschte in der Familie einiger Zwang im Verkehr mit Fürst Andree, doch nach einigen Tagen hatte sich die Familie an ihn gewöhnt und die frühere Lebensweise wurde wieder aufgenommen. Er verstand es, mit dem Grafen über Landwirtschaft zu sprechen und mit den Damen über Kleidung, Album und Stickereien. Es herrschte jene poetische Schwermut und Schweigsamkeit im Hause, wie immer bei Anwesenheit einer Braut und eines Bräutigams. Oft saßen alle schweigend beisammen. Auch wenn die Eltern aufstanden und hinausgingen und das Brautpaar allein blieb, herrschte dasselbe Stillschweigen. Sie sprachen selten von ihrem zukünftigen Leben. Es war ihm peinlich, davon zu sprechen, und Natalie teilte dieses Gefühl, wie alle seine Gefühle, die sie beständig erriet. Einmal fragte ihn Natalie nach seinem Sohn. Er errötete, was bei ihm jetzt oft vorkam und Natalie besonders gefiel, und sagte, sein Sohn werde nicht bei ihnen leben.
»Warum?« fragte Natalie erschreckt.
»Ich kann ihn von seinem Großvater nicht wegnehmen und außerdem –«
»Ach, wie würde ich ihn lieben!« sagte Natalie, die sogleich seine Gedanken erriet.