An diesem Abend war bei der Gräfin Helene eine Abendgesellschaft, welche von dem französischen Gesandten, von dem Prinzen, der in letzter Zeit häufiger Besucher der Gräfin war, und einer glänzenden Gesellschaft vornehmer Herren und Damen besucht war. Peter war unten, ging durch die Säle und fiel allen Gästen auf durch sein zerstreutes, düsteres Wesen. Zu dieser Zeit wurde Peter häufig von Hypochondrie befallen, die er verzweifelt bekämpfte. Seitdem der Prinz sich seiner Frau genähert hatte, war Peter ganz unerwartet zum Kammerherrn ernannt worden, und seit dieser Zeit empfand er eine peinliche Beschämung in der großen Welt, und immer häufiger stiegen Gedanken über die Eitelkeit der ganzen Menschheit in ihm auf. Um zwölf Uhr verließ er die Gemächer der Gräfin, setzte sich oben, in einem vollgerauchten, niedrigen Zimmer an den Tisch in einem abgetragenen Schlafrock und vertiefte sich in freimaurerische Studien, als jemand in das Zimmer trat. Es war Fürst Andree mit strahlender, entzückter Miene.
Im Egoismus seines Glücks sah er nicht die schwermütige Miene Peters.
»Nun, Freund«, sagte er, »gestern wollte ich dir etwas sagen, und deshalb bin ich heute gekommen. Ich habe niemals etwas Ähnliches empfunden, Ich bin verliebt, mein Freund!«
Peter ließ sich mit einem schweren Seufzer auf dem Diwan nieder, neben dem Fürsten Andree.
»In Natalie Rostow?« fragte er.
»Ja, ja, in wen sonst? Ich hätte es niemals geglaubt, daß dieses Gefühl stärker ist als ich. Erst jetzt fange ich an zu leben! Aber ich kann nicht ohne sie leben! Wird sie mich lieben können? Bin ich nicht zu alt für sie? Was meinst du?«
»Ich, ich?« sagte Peter, »Ich habe das immer gedacht. Dieses Mädchen ist solch ein Kleinod … ein seltenes Mädchen … Lieber Freund, ich bitte Sie, überlegen Sie nicht länger, werfen Sie alle Zweifel beiseite! Sie müssen heiraten! Heiraten! Heiraten! Und ich bin überzeugt, daß es keinen glücklicheren Menschen als Sie geben wird.«
»Aber sie?«
»Sie liebt Sie«, sagte Peter, »das weiß ich.«
»Nein, höre mich an!« sagte Fürst Andree. »Begreifst du meinen Zustand? Ich möchte jemand alles sagen.«
»Nun, nun sprechen Sie! Ich freue mich sehr!« sagte Peter, und wirklich veränderte sich seine Miene, Auch Fürst Andree schien ein ganz neuer Mensch zu sein. Wo war diese Schwermut, diese Verachtung des Lebens? Peter war der einzige Mensch, dem er sich entschließen konnte, alles anzuvertrauen und deshalb sagte er ihm auch alles, was er auf dem Herzen hatte. Er machte Pläne für die Zukunft, sprach davon, wie er sein Glück nicht der Laune seines Vaters opfern könne, wie er den Vater zur Einwilligung zu dieser Heirat bringen wolle.
»Ich hätte nicht geglaubt, daß ich so lieben könne«, sagte Fürst Andree. »Die ganze Welt ist für mich in zwei Hälften geteilt, die eine ist sie, und dort herrscht Glück, Hoffnung und Licht, die andere Hälfte ist – alles, wo sie nicht ist, und dort herrscht Jammer und Finsternis.«
103
Zur Hochzeit war die Einwilligung des Vaters nötig, und deshalb reiste Fürst Andree am folgenden Tage ab zu seinem Vater.
Der alte Fürst nahm die Mitteilung seines Sohnes mit äußerlicher Ruhe, aber innerlicher Wut auf. Er konnte nicht begreifen, daß jemand sein Leben ändern, ein neues Element in dasselbe einführen wollte, während sein Leben schon zu Ende ging.
»Wenn man mich nur leben lassen wollte, wie ich will, bis an mein Ende, nachher können sie machen, was sie wollen«, sagte der Alte zu sich selbst. Seinem Sohn gegenüber wandte er jedoch die Diplomatie an, die er in wichtigen Fällen beobachtete, er besprach die ganze Sache in ruhigem Ton. Erstens sei die Heirat nicht glänzend in bezug auf Reichtum und Vornehmheit, sagte er, zweitens sei Fürst Andree nicht mehr in der ersten Jugend und von schwacher Gesundheit, was er besonders betonte, sie aber sei noch sehr jung, drittens habe er einen Sohn, den man nicht den Weibsleuten überlassen könne. »Viertens endlich«, sagte der Alte, indem er seinen Sohn spöttisch anblickte, »muß ich dich bitten, die Sache noch ein Jahr aufzuschieben. Fahre ins Ausland, stärke deine Gesundheit, suche einen passenden Deutschen für den Fürsten Nikolai, und dann, wenn die Liebe, die Leidenschaft und was noch alles so groß sind, dann heirate. Und das ist mein letztes Wort, hörst du, mein letztes!« schloß der Fürst in einem Ton, mit dem er ausdrückte, daß ihn nichts von seinem Entschluß abbringen könne.
Fürst Andree sah klar, daß der Alte hoffte, seine Gefühle für seine zukünftige Braut werden die Probe eines Jahres nicht aushalten, oder er selbst, der alte Fürst, werde während dieser Zeit sterben, deshalb beschloß er, den Willen seines Vaters zu erfüllen, seinen Antrag zu machen und die Hochzeit auf ein Jahr aufzuschieben.
Drei Wochen nach seinem letzten Besuch bei Rostows kehrte Fürst Andree nach Petersburg zurück.
Den ganzen Tag nach dem letzten Besuch des Fürsten erwartete ihn Natalie vergebens, der zweite und dritte Tag vermehrte die Spannung. Auch Peter kam nicht, und da Natalie nicht wußte, daß Fürst Andree zu seinem Vater gereist war, konnte sie sich sein Ausbleiben nicht erklären. So vergingen drei Wochen, Natalie wollte nicht ausgehen und ging wie ein Schatten in den Zimmern umher. Am Abend weinte sie heimlich und ging nicht mehr zu ihrer Mutter. Sie wurde sehr reizbar, sie glaubte, alle wüßten von ihrer Enttäuschung, würden sie verlachen und bedauern, und ihr verwundeter Stolz vermehrte noch ihren Kummer.
Eines Abends ging sie zur Gräfin, und noch ehe sie sprechen konnte, brach sie in Tränen aus. Es waren Tränen eines beleidigten Kindes, das nicht weiß, warum es bestraft wurde.
Die Gräfin suchte Natalie zu beruhigen, und diese hörte anfangs ruhig zu, plötzlich aber unterbrach sie ihre Mutter.
»Hören Sie auf, Mama, ich will an nichts mehr denken! Er ist davongefahren und ausgeblieben!« … Ihre Stimme zitterte, aber sie fuhr fort: »Und ich will überhaupt nicht heiraten! Ich fürchte mich vor ihm, und jetzt habe ich mich ganz beruhigt.«
Am andern Tage legte Natalie ihr altes Kleid an und nahm wieder ihre frühere Lebensweise auf, von der sie nach dem Ball abgewichen war. Nach dem Tee ging sie in den Saal und begann ihre Gesangsübungen.
»Es ist auch gut so! Wozu noch daran denken?« sagte sie zu sich selbst, stand auf und ging im Saale auf und ab. Vor dem Spiegel blieb sie stehen und betrachtete sich selbst.
»Das bin ich«, sagte ihre Miene. »Nun, es ist gut, und ich habe niemand nötig.«
Ein Diener wollte eintreten, um etwas im Saale zu ordnen, aber sie ließ ihn nicht ein, schloß wieder die Tür hinter ihm und setzte ihren Spaziergang fort.
»Entzückend, diese Natalie!« wiederholte sie sich die Worte, die sie gehört hatte. »Schön, hübsche Stimme, jung, und sie stört niemand, man muß sie nur in Ruhe lassen!« Aber so sehr man sie auch in Ruhe ließ, sie konnte nicht ruhig sein und empfand dies sogleich selbst.
Im Vorzimmer wurde ein Tür geöffnet, jemand fragte: »Zu Hause?« Und dann vernahm sie Schritte.
Natalie blickte in den Spiegel, ihr Gesicht war bleich, sie hörte Geräusch im Vorzimmer. Das war er, sie wußte es, obgleich seine Stimme durch die verschlossene Tür kaum vernehmlich war.
Natalie eilte bleich und aufgeregt zur Tür.
»Mama, Bolkonsky ist gekommen!« rief sie. »Mama! Es ist schrecklich! Ich kann es nicht ertragen! Was soll ich tun?«
Noch ehe die Gräfin ihr antworten konnte, trat Fürst Andree mit besorgter, ernster Miene in den Salon. Sobald er Natalie erblickte, strahlte sein Gesicht, er küßte der Gräfin und Natalie die Hände und setzte sich neben den Diwan.
»Wir hatten lange nicht das