»Räuber! Undankbares Pack!… Ich schlage den Hund nieder!… Hat geraubt und gestohlen!…« Und so weiter. Dann sahen die Leute mit demselben Schrecken und Vergnügen, wie der junge Graf mit rotem Gesicht Mitenka am Kragen hinauszog, ihn mit den Füßen und dem Knie stieß und schrie: »Hinaus! Lasse dich nicht wieder sehen, Schurke!« Mitenka flog die sechs Stufen hinab und lief in ein Gebüsch, in dem er sich immer verbarg, wenn er betrunken aus der Stadt kam und welches vielen Bewohnern von Otradno als Zuflucht vor Mitenkas Zorn bekannt war. Die Frau Mitenkas und ihre Schwester kamen aus dem Wohnzimmer erschrocken auf den Flur hinausgelaufen. Nikolai lief wutschnaubend an ihnen vorüber, ohne auf sie zu achten.
Die Gräfin erfuhr sogleich durch ihre Zofe, was im Nebengebäude vorgegangen war. Einerseits war sie nun darüber beruhigt, daß jetzt ihre Vermögensumstände sich bessern werden, andererseits aber war sie besorgt, daß der Zorn ihrem Sohn schaden könne. Sie ging mehrmals auf den Zehenspitzen nach seinem Zimmer und horchte.
Am andern Tag rief der alte Graf seinen Sohn zu sich und sagte ihm mit schüchternem Lächeln: »Weißt du, mein Seelchen, du hast dich unnütz geärgert. Mitenka hat mir alles aufgeklärt.«
»Ich weiß«, dachte Nikolai, »daß ich in dieser einfältigen Welt niemals etwas begreifen werde.«
»Du bist zornig darüber geworden, daß er diese siebenhundert Rubel nicht einschrieb, aber er hat sie im Transport mit aufgeführt, und du hast die andere Seite nicht angesehen.«
»Papa, er ist ein Schurke und Räuber, das weiß ich, und was ich getan habe, das habe ich getan, aber wenn Sie wollen, werde ich ihm nichts weiter darüber sagen.«
»Nein, mein Seelchen«, erwiderte der alte Graf verwirrt und verlegen, weil er fühlte, daß er ein schlechter Verwalter und Frau und Kindern gegenüber nicht vorwurfsfrei war, »nein, ich bitte dich, nimm dich der Geschäfte an! Ich bin schon alt, ich … ich …«
»Nein, Papachen, entschuldigen Sie mich, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten verursacht habe, aber ich verstehe noch weniger als Sie davon.«
»Zum Teufel mit diesem Bauernvolk, diesen Geldsachen und Büchern«, dachte er, »ich verstehe nichts davon!« Von dieser Zeit an mischte er sich nicht mehr in die Geschäfte ein. Nur einmal berief die Gräfin ihren Sohn zu sich und teilte ihm mit, daß sie einen Wechsel von Anna Michailowna über zweitausend Rubel besitze, und fragte Nikolai, wie sie damit verfahren solle.
»Das ist einfach«, erwiderte Nikolai. »Sie sagen mir, das hänge von mir ab? Nun, ich liebe weder Anna Michailowna noch Boris, aber sie sind mit uns befreundet und arm, also sehen Sie!« Er zerriß den Wechsel, und die alte Gräfin vergoß Freudentränen darüber. Für die Folge aber kümmerte er sich durchaus nicht mehr um irgendwelche Geschäftsangelegenheiten und überließ sich mit Leidenschaft dem ihm noch neuen Vergnügen der Jagd, welche der alte Graf auf großem Fuß unterhielt.
109
Der Graf gab seine Würde als Landmarschall auf, weil sie mit zu vielen Ausgaben verbunden war. Aber in seinen Angelegenheiten trat keine Besserung ein. Oft bemerkten Natalie und Nikolai geheime Unterredungen der Eltern, in welchem von dem Verkauf des reichen Stadthauses und des Gutes bei Moskau die Rede war. Nach Aufgabe der Landmarschallwürde brauchte er nicht mehr so viele Besuche zu empfangen, und das Leben in Otradno wurde stiller als in früheren Jahren. Aber das große Haus mit seinen Nebengebäuden war dennoch voll von Leuten, und am Tische saßen täglich mehr als zwanzig Personen. Das waren Leute, die an das Haus gewöhnt waren und fast als Familienglieder angesehen wurden, oder solche, welche anscheinend durchaus im Hause des Grafen wohnen mußten, wie zum Beispiel Dummler, der Musiklehrer, mit seiner Frau, Vogel, der Tanzlehrer, mit seiner Familie, ein altes Fräulein Bjelow, und noch viele andere, wie die Lehrer des kleinen Peter, die frühere Gouvernante der Fräulein und solche, welche es vorteilhafter fanden, beim Grafen zu wohnen, als zu Hause. Es kamen nicht mehr so viele Besuche, aber in der Hofhaltung wurde derselbe Aufwand beibehalten, ohne welchen der Graf und die Gräfin sich das Leben nicht vorstellen konnten. Es war dieselbe Jagd, welche Nikolai noch vergrößerte, es waren wie bisher fünfzig Pferde und fünfzehn Kutscher, dieselben teuren Geschenke zu den Namenstagen und dieselben Diners, die im ganzen Landkreis gerühmt wurden, dieselben Kartenpartien, bei welchen der Graf alle in seine Karten blicken ließ und täglich Hunderte verspielte an Nachbarn, die das Recht, am Kartenspiel des Grafen teilzunehmen, wie eine sehr einträgliche Revenue ansahen.
Der Graf war in seinen Angelegenheiten verwickelt wie in einem ungeheuren Netz. Er wollte selbst nicht daran glauben, verwickelte sich bei jedem Schritt tiefer und tiefer und war nicht imstande, es zu zerreißen oder sich durch Umsicht und Ausdauer daraus zu befreien. Die Gräfin sah mit liebendem Herzen, daß ihre Kinder dem Untergang entgegengingen, aber sie vermochte den Grafen nicht darüber zu tadeln, weil er nicht anders sein konnte, als er war. Sie sah, daß er selbst litt, wenn er es auch verbergen wollte. Unter der Voraussicht des herannahenden Untergangs suchte sie nach einem Ausweg, und von ihrem weiblichen Standpunkt aus fand sie nichts Besseres als eine Heirat Nikolais mit einer reichen Erbin. Dies war ihre letzte Hoffnung und sie wußte, daß die letzte Möglichkeit, ihre Umstände wieder in Ordnung zu bringen, schwinden mußte, wenn Nikolai die Partie, die sie für ihn gefunden hatte, ausschlug. Diese Partie war, Julie Karagin, die Tochter vortrefflicher, tugendhafter Eltern, welche sie von Jugend auf kannte und die jetzt nach dem Tode des letzten ihrer Brüder eine reiche Erbin war.
Die Gräfin schrieb an die Fürstin Karagin in Moskau und teilte ihr ihren Heiratsplan mit, worauf sie eine günstige Antwort erhielt. Die Fürstin erwiderte, ihrerseits sei sie einverstanden, aber alles hänge von den Neigungen ihrer Tochter ab. Sie lud Nikolai ein, nach Moskau zu kommen. Mehrmals sagte die Gräfin mit Tränen in den Augen zu ihrem Sohn, jetzt, wo beide Töchter versorgt seien, wäre es ihr eigener Wunsch, auch ihn verheiratet zu sehen, dann würde sie sich ruhig ins Grab legen. Sie habe schon ein junges Mädchen im Sinn.
Bei andern Gelegenheiten lobte sie Julie und riet Nikolai, zu den Feiertagen nach Moskau zu fahren zu seiner Erholung. Nikolai erriet, wohin die Absichten seiner Mutter zielten, und bei der nächsten Gelegenheit forderte er sie zu vollkommener Aufrichtigkeit heraus. Sie sagte ihm, ihre ganze Hoffnung beruhe jetzt auf seiner Heirat mit Julie.
»Und wenn ich nun ein Mädchen ohne Vermögen lieben würde, Mama, würden Sie dann etwa verlangen, daß ich meine Gefühle und meine Ehre wegen des Vermögens aufopfere?« fragte er, ohne die Grausamkeit seiner Frage zu begreifen, nur in dem Wunsche, seinen Edelmut an den Tag zu legen.
»Nein, du hast mich nicht verstanden«, sagte die Mutter, da sie nicht wußte, wie sie sich rechtfertigen sollte, »ich wünsche nur dein Glück!« Aber sie wurde verlegen und brach in Tränen aus.
»Mama, weinen Sie nicht! Sagen Sie mir nur alles, was Sie wollen! Ich bin bereit, alles, auch meine Gefühle, aufzuopfern für Ihre Ruhe!« sagte Nikolai.
Aber die Gräfin wünschte nicht, die Frage so hinzustellen. Sie wollte kein Opfer von ihrem Sohn, sondern war selbst bereit, sich für ihn aufzuopfern.
»Nein, du hast mich nicht verstanden, sprechen wir nicht weiter davon.«
»Ja, vielleicht liebe ich ein armes Mädchen«, sagte sich Nikolai. »Soll ich deshalb Sonja nicht lieben, weil sie arm ist? Ich werde sicher mit ihr glücklicher sein als mit solch einer Puppe wie diese Julie.«
Nikolai fuhr nicht nach Moskau, und die Gräfin erneuerte ihre Gespräche über eine Heirat nicht mehr. Mit Kummer und zuweilen mit Groll sah sie die Anzeichen einer wachsenden Annäherung zwischen ihrem Sohn und Sonja. Sie wurde zänkisch und hart gegen