»Solch eine seltsame Antipathie«, dachte Peter, »und früher hat er mir doch sogar sehr gefallen!«
In den Augen der Welt war Peter ein großer Herr, ein etwas blinder und lächerlicher Ehemann einer berühmten Frau, ein geistreicher Sonderling, der nichts tat und niemand schadete, ein prächtiger, guter Kerl. In seiner Seele aber ging während dieser Zeit eine komplizierte, mühsame Arbeit innerlicher Entwicklung vor sich, die ihm vieles entdeckte, ihm viele Zweifel, aber auch Freuden brachte.
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Die Vermögensumstände Rostows besserten sich nicht während der zwei Jahre, die er auf dem Lande zubrachte. Obgleich Nikolai seinem festen Vorsatz zufolge sparsam lebte, war es durch das verschwenderische Leben in Otradno und besonders durch die Verwaltung Mitenkas dahin gekommen, daß die Schuldenlast mit jedem Jahre mächtig anwuchs. Die einzige Rettung, die der alte Graf finden konnte, war, in den Staatsdienst zu treten, und er fuhr nach Petersburg, um sich eine Stelle zu suchen und zugleich, wie er sagte, zum letztenmal das Mädchenvolk zu amüsieren. Bald nach ihrer Ankunft in Petersburg erhielt Wera einen Heiratsantrag von Berg, welcher angenommen wurde.
Obgleich in Moskau Rostows zu der höchsten Gesellschaft gehörten, waren ihre Bekanntschaften in Petersburg gemischt und ohne bestimmte Grenze. In Petersburg waren sie nur Provinziale, zu welchen sich manche derjenigen Leute nicht herabließen, die sich in Moskau von ihnen füttern ließen, ohne zu fragen, zu welcher Gesellschaft sie gehörten.
In Petersburg führten sie ein ebenso großes Haus wie in Moskau und ihre Diners wurden von den verschiedenartigsten Persönlichkeiten besucht, Gutsnachbarn, alte Beamte ohne Vermögen mit Töchtern, das Hoffräulein Peronsky, Peter Besuchow und der Sohn des Kreispostmeisters, der in Petersburg diente. Boris wurde bald alltäglicher Gast bei Rostows, ebenso Peter, der dem alten Grafen auf der Straße begegnete und von ihm mitgezogen wurde, und Berg, welcher ganze Tage lang bei Rostows verweilte und der ältesten Tochter Wera Aufmerksamkeiten erwies, wie ein junger Mann, der entschlossen ist, einen Heiratsantrag zu machen.
Berg zeigte allen seine Wunde an der Hand aus der Schlacht bei Austerlitz und hielt ganz unnötigerweise den Degen in der linken Hand. Mit solcher Beharrlichkeit und so bedeutsamem Wesen erzählte er allen dieses Ereignis, daß alle überzeugt waren von der Erhabenheit und Würde dieser Tat. Obgleich einige Freigeister lachten, wenn von den Verdiensten Bergs die Rede war, galt er doch für einen pünktlichen, tapferen Offizier, der bei seinen Vorgesetzten vortrefflich angeschrieben war, und für einen soliden jungen Mann, der eine glänzende Karriere vor sich habe. Der Antrag Bergs wurde anfangs bei Rostows mit einem Erstaunen aufgenommen, das wenig schmeichelhaft für ihn war. Man wunderte sich, wie der Sohn eines unbedeutenden livländischen Edelmannes einer Gräfin Rostow einen Antrag machen könne. Aber ein vorherrschender Charakterzug Bergs war ein so naiver, gutmütiger Egoismus, daß die Eltern unwillkürlich glaubten, es werde alles gut werden, wenn er selbst so fest davon überzeugt sei. Überdies waren die Umstände des Grafen sehr zerrüttet, und Wera war schon zweiundvierzig Jahre alt, und obgleich sie viele Gesellschaften besuchte und unzweifelhaft hübsch und vernünftig war, hatte sie bis jetzt noch nie einen Antrag erhalten. Der Antrag wurde angenommen. In der Familie herrschte die bei solchen Ereignissen übliche Feiertagsstimmung und Freude, aber diese war nicht aufrichtig, sondern nur äußerlich. Die Eltern schienen anfangs verlegen und beschämt zu sein, als ob sie sich selbst Vorwürfe darüber machten, daß sie Wera nicht liebten und sie so leicht weggaben. Am meisten erschien der Graf sorgenvoll und verdüstert. Er hätte wahrscheinlich selbst nicht angeben können, was die Ursache dieser Stimmung war, aber diese war unzweifelhaft durch seine Geldverlegenheit hervorgerufen worden. Er wußte selbst nicht mehr, wieviel er besaß, wieviel Schulden er hatte, und welche Mitgift er Wera geben könne. Bei der Geburt der Töchter war jeder ein Gut mit dreihundert Seelen als Mitgift bestimmt worden, aber das eine dieser Güter war schon verkauft und das andere so hoch verpfändet, daß es auch verkauft werden mußte. Es war also unmöglich, Wera einen Landbesitz als Mitgift zu geben, und Geld war auch nicht vorhanden.
Schon seit einem Monat war Berg Bräutigam, und es fehlte nur noch eine Woche bis zur Hochzeit. Der Graf aber konnte die Frage der Mitgift nicht entscheiden und sprach auch mit seiner Frau nicht darüber. Bald wollte er Wera das Gut im Räsanschen Gouvernement abtreten, bald wollte er Wald verkaufen oder Geld auf Wechsel entlehnen. Einige Tage vor der Hochzeit trat Berg frühmorgens in das Kabinett des Grafen und bat mit freundlichem Lächeln ehrerbietig seinen zukünftigen Schwiegervater, ihm Auskunft darüber zu geben, was er der Gräfin Wera mitgeben wolle. Der Graf war so verwirrt bei der schon lange vorhergesehenen Frage, daß er nicht sofort eine Antwort fand.
»Das gefällt mir, daß du an alles denkst, das gefällt mir! Du wirst zufrieden sein.«
Er klopfte Berg auf die Schulter, stand auf und wollte das Gespräch abbrechen, aber Berg erklärte mit höflichem Lächeln, wenn er nicht bestimmt und sicher erfahren könne, was Wera bestimmt sei, und wenn er nicht einen Teil davon voraus erhalte, so sei er genötigt, zurückzutreten.
»Denn, sehen Sie, Graf, wenn ich mir jetzt erlauben würde, zu heiraten, ohne bestimmte Mittel zur Unterhaltung meiner Frau zu haben, so würde ich niederträchtig handeln…«
Die Unterredung endigte damit, daß der Graf, um großmütig zu erscheinen und nicht neuem Drängen ausgesetzt zu sein, erklärte, er werde einen Wechsel über achtzigtausend Rubel geben. Berg lächelte milde, küßte den Grafen auf die Schulter und sagte, er sei sehr dankbar, aber er könne auf keine Weise sich einrichten, wenn er nicht an barem Gelde dreißigtausend erhalte.«
»Meinetwegen auch zwanzigtausend, Graf«, fügte er hinzu, »und dann einen Wechsel über sechzigtausend.«
»Gut, gut«, erwiderte hastig der Graf. »Aber du mußt mir erlauben, Freundchen, ich gebe zwanzigtausend, und außerdem gebe ich einen Wechsel über achtzigtausend! Nun siehst du! Küsse mich!«
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Natalie war sechzehn Jahre alt, und jetzt war das Jahr 1809 herangekommen, dasselbe, bis zu welchem sie vor vier Jahren mit Boris die Jahre an den Fingern aufgezählt hatte, nachdem sie sich geküßt hatten. Seit der Zeit hatte sie Boris nicht wiedergesehen, obgleich er mehrmals in Moskau gewesen war. Wenn Sonja oder ihre Mutter von Boris sprachen, so sagte sie ganz unbefangen, die frühere Kinderei sei längst vergessen, aber in der Tiefe ihres Herzens quälte sie die Frage, ob sie nur im Scherz oder in verbindlicher Weise mit Boris verlobt sei. Anna Michailowna hatte in letzter Zeit Rostows selten besucht und beobachtete immer eine gewisse Würde, jedesmal aber sprach sie feierlich und dankbar von den Verdiensten ihres Sohnes und seiner glänzenden Karriere. Als Rostows in Petersburg lebten, machte Boris einen Besuch.
Er war nicht frei von Aufregung. Die Episode mit Natalie war die glänzendste, poetische Erinnerung Boris’, aber er erschien mit dem festen Vorsatz, sowohl ihr als auch den Eltern anzudeuten, daß ihre Jugendbekanntschaft weder für Natalie noch für ihn verbindlich sein könne. Er hatte Pläne zur Verheiratung mit einer der reichsten Erbinnen Petersburgs, welche sich sehr leicht verwirklichen konnten. Als Boris in den Salon Rostows trat, war Natalie in ihrem Zimmer. Sobald sie von seiner Ankunft hörte, eilte sie errötend und strahlend in den Salon.
Boris erinnerte sich nur jener Natalie im kurzen Kleidchen, mit schwarzen, glänzenden Augen, mit mutwilligem, kindlichem Lachen, die er vor vier Jahren gekannt hatte, und deshalb wurde er beim Eintritt einer ganz anderen Natalie verlegen, und sein Gesicht drückte entzückte Bewunderung aus. Natalie war erfreut, als sie dies bemerkte.
»Nun, erkennst du deine kleine, mutwillige Freundin wieder?«