»Das will ich meinen«, erwiderten die strahlenden Augen Natalies. »Ist Papa alt geworden?« fragte sie.
Natalie nahm nicht weiter am Gespräch teil und betrachtete genau ihren Bräutigam aus den Kinderjahren. Er fühlte, wie ihr freundlicher Blick beständig auf ihm ruhte und blickte zuweilen nach ihr hin.
Uniform, Sporen, Halsbinde, Frisur, alles war elegant und comme il faut an Boris, das bemerkte Natalie sofort. Er sprach von den Vergnügungen der höchsten Petersburger Welt und erwähnte mit mildem Spott die früheren moskauischen Zeiten und Bekannten. Nicht ohne Absicht, wie Natalie wohl bemerkte, sprach er auch von der höchsten Aristokratie, von dem Ball eines Gesandten, auf dem er gewesen war, von Einladungen zu N. N. und S. S.
Die ganze Zeit über schwieg Natalie. Ihr Blick brachte Boris mehr und mehr in Erregung und Verlegenheit, immer öfter blickte er nach Natalie hinüber. Nach kaum zehn Minuten erhob er sich, immer noch blickten ihn diese neugierigen, herausfordernden und etwas spöttischen Augen an. Nach seinem ersten Besuch gestand sich Boris, daß Natalie für ihn noch immer ebenso verführerisch sei wie früher, daß er sich aber diesem Gefühl nicht hingeben dürfe, weil eine Verbindung mit ihr – einem Mädchen fast ohne Vermögen – seine Karriere ruinieren würde, und weil es nichtswürdig wäre, die früheren Beziehungen zwecklos zu erneuern. Er beschloß, Natalie zu vermeiden, trotzdem aber kam er nach einigen Tagen wieder und dann immer öfter und brachte endlich ganze Tage bei Rostows zu. Er sagte sich selbst, daß es notwendig wäre, sich mit Natalie auszusprechen und ihr zu sagen, daß alles frühere vergessen sein müsse, daß sie seine Frau nicht sein könne, daß er kein Vermögen habe, und daß man sie ihm nie zur Frau geben werde, aber dazu kam er nicht. Mit jedem Tag verwickelte er sich tiefer. Die Mutter und Sonja bemerkten wohl, daß auch Natalie noch ebenso wie früher in Boris verliebt war. Sie sang ihm seine Lieblingslieder vor, zeigte ihm ihr Album, forderte ihn auf zu einer Inschrift darin und erlaubte nicht, an die frühere Zeit zu erinnern, wodurch sie ausdrückte, wie schön die neue Zeit sei. Jeden Tag fuhr er davon, ohne gesagt zu haben, was er sich vorgenommen hatte, ohne zu wissen, was er tat, warum er gekommen war und wie das endigen werde. Bei Helene erschien er seltener und erhielt fast täglich briefliche Vorwürfe von ihr, dennoch aber verbrachte er ganze Tage bei Rostows.
96
Eines Abends kam Natalie, wie gewöhnlich in Jacke und Pantoffeln, zu ihrer Mutter. Die Gräfin war eben bei ihrem Abendgebet. »Wird nicht vielleicht dieses Lager mein Grab sein?« sagte sie mit einem Fußfall auf einem kleinen Teppich. Natalie ging auf Zehenspitzen nach dem Bett, warf die Pantoffel ab und grub sich in dieses Lager ein, von dem die Fürstin befürchtete, es könnte ihr Grab sein. Es war ein hohes Federbett mit fünf Kissen. Die Gräfin beendete ihr Gebet und ging zu Bett, wo sie Natalie unter der Decke vergraben fand.
»Nun, nun!« sagte die Mutter mit strenger Miene.
»Mama, kann ich sprechen?« Und sie umfaßte den Hals der Mutter und küßte sie auf das Kinn.
»Nun, von wem heute?« fragte die Gräfin. Diese Abendbesuche Natalies, vor der Rückkehr des Grafen aus dem Klub, waren das Entzücken von Mutter und Tochter.
»Von Boris … deshalb bin ich gekommen«, sagte sie, »Mama, ist er nicht liebenswürdig?«
»Natalie, du bist sechzehn Jahre alt, in deinen Jahren war ich verheiratet! Du sagst, Boris sei liebenswürdig? Nun ja, ich liebe ihn wie einen Sohn, aber was willst du?.,. Woran denkst du? Du hast ihm ganz den Kopf verdreht, das sehe ich, aber du weißt ja, daß du ihn nicht heiraten kannst!«
»Warum nicht?« fragte Natalie, ohne ihre Lage zu verändern.
»Weil er jung ist, weil er arm ist… weil du ihn selbst nicht liebst!«
»Wie wissen Sie das?«
»Ich weiß es, und das ist nicht hübsch, Kleine! Es schickt sich nicht! Nicht alle werden eure Jugenderinnerungen begreifen, und es kann dir in den Augen anderer Leute schaden, wenn man sieht, wie er beständig um dich ist. Er hat vielleicht eine reiche Partie gefunden, aber jetzt wird er den Verstand verlieren.«
»Den Verstand verlieren?« wiederholte Natalie.
»Ja, das sage ich dir! Ich hatte einen Vetter …«
»Ich weiß, Kirila Matwejitsch! Ist er schon alt?«
»Er war nicht immer ein Greis. Aber siehst du, Natalie, es geht nicht an, daß Boris so oft kommt.«
»Warum nicht? Wenn er Lust hat!«
»Weil ich weiß, daß das zu nichts führen kann! Begreifst du denn das nicht?«
»Mama, er ist sehr verliebt? Was meinen Sie? Waren junge Leute auch so in Sie verliebt? Er ist sehr, sehr liebenswürdig, nur nicht ganz nach meinem Geschmack! – Er ist so schmal wie eine Tischuhr! … Begreifen Sie nicht! Schmal! Wissen Sie und grau!«
»Was sprichst du da?« erwiderte die Gräfin.
»Begreifen Sie mich nicht? Nikolai würde es begriffen haben! Besuchow ist dunkelblau, aber er ist viereckig.«
»Und doch kokettierst du mit ihm«, sagte lachend die Gräfin.
»Nein, er ist Freimaurer, wie ich gehört habe! Er ist ein vortrefflicher Mensch! Dunkelblau!… Wie soll ich es Ihnen erklären?«
»Mamachen«, rief die Stimme des Grafen von der Tür her, »schläfst du noch nicht?«
Natalie sprang auf, nahm die Pantoffel in die Hand und lief in ihr Zimmer. Lange konnte sie nicht einschlafen, immer dachte sie daran, daß niemand begreifen könne, was in ihr sei.
Am andern Tage lud die Gräfin Boris zu sich ein und sprach mit ihm, und von diesem Tage an stellte er seine Besuche ein.
97
Am Neujahrsabend des Jahres 1810 fand bei einem hohen Würdenträger ein Ball statt. Man sagte, das diplomatische Korps und auch der Kaiser werde kommen. Auf dem englischen Kai erglänzte das bekannte Haus des hohen Herrn in einer Illumination von zahllosen Flammen. Der Eingang war mit rotem Tuch belegt, Gendarmen, ein Dutzend Polizeioffiziere und sogar der Polizeimeister standen auf der Straße. Zahllose Wagen fuhren vor. Herren in Uniform, mit Ordensbändern und Sternen, sowie Damen in reichen Atlaskleidern stiegen vorsichtig aus und traten rasch und schweigend in das Haus.
Schon war ein Drittel der Gäste versammelt, aber im Hause Rostow herrschte noch aufgeregte Geschäftigkeit als Folge der Befürchtungen, daß keine Einladungen kommen würden, daß die Kleider nicht fertig werden würden, daß nicht alles so gelingen werde, wie es sein sollte. Um zehn Uhr abends sollte Rostow am Taurischen Garten vorfahren, um Maria Perowska, eine Freundin und Verwandte der Gräfin, ein hageres, gelbes Hoffräulein vom früheren Hof, abzuholen. Es fehlten nur noch zehn Minuten an zehn und noch waren die Damen nicht angekleidet. Es war der erste Ball, den Natalie in ihrem Leben besuchte. Sie war um acht Uhr morgens aufgestanden und hatte sich den ganzen Tag über in fieberhafter Aufregung befunden. Alles Wesentliche war schon getan, Füße, Hände, Hals, Ohren waren besonders sorgfältig gewaschen und ballmäßig parfümiert und gepudert, die Frisuren waren beinahe vollendet, jedoch war noch lange nicht das letzte Hindernis beseitigt. Das Kleid war zu lang, und eine Kammerzofe lag auf den Knien und war beschäftigt, es einzunähen.
»Himmel!« rief Sonja verzweifelt. »Es ist noch zu lang!« Natalie betrachtete sich im Spiegel, das Kleid war zu lang.
»Nun, in einer Minute wird es geändert sein«, sagte die entschlossene Dunjascha, die Zofe, und warf sich wieder auf die Knie. Mit leisen Schritten trat die Gräfin ein.
»Nun, meine Schönheit!« rief der