Ohne seiner Frau noch seiner Schwiegermutter zu antworten, machte er sich eines Abends spät auf den Weg und reiste nach Moskau, um seinen Freund Joseph Alexejewitsch zu besuchen. In sein Tagebuch schrieb er:
Moskau, den 17. November.
Soeben komme ich von dem Edlen und beeile mich, alles aufzuzeichnen, was ich dabei empfand. Joseph Alexejewitsch lebt in Armut und leidet schon im dritten Jahr an einer schmerzhaften Krankheit. Niemand hat ihn stöhnen oder murren gehört. Er empfing mich gnädig und ließ mich auf das Bett sitzen, in dem er lag. Ich machte ihm das Zeichen der Ritter des Orients und von Jerusalem, und er antwortete ebenso. Mit mildem Lächeln fragte er mich, was ich erfahren und erworben habe in dem preußischen und schottischen Lande. Ich erzählte ihm alles, wie ich es verstand. Er schwieg lange und dachte nach, dann teilte er mir seine Ansicht darüber mit, welche die ganze Vergangenheit und zugleich meinen künftigen Weg beleuchtete. Er setzte mich in Erstaunen durch die Frage, ob ich mich erinnere, worin der dreifache Zweck des Ordens bestehe? »Erstens in der Bewahrung und Erkenntnis des Geheimnisses; zweitens in der Reinigung und Besserung unserer selbst zu unserer Erhebung, drittens in der Veredelung des Menschengeschlechts durch das Streben nach dieser Reinigung. Welches ist der wichtigste und erste Zweck von diesen dreien? Natürlich die eigene Besserung und Reinigung, nur nach diesem Ziel können wir immer streben, unabhängig von allen Umständen. Aber oft verfehlen wir dieses Ziel, irregeführt durch unsern Stolz, und beschäftigen uns mit der Besserung des Menschengeschlechts, während wir selbst noch in Sünde und Laster leben. Die Illuminaten haben nicht die reine Lehre, weil sie von Stolz erfüllt ist.« Ich stimmte ihm von Herzen bei. Über meine ehelichen Umstände sagte er: »Die erste Pflicht eines wahren Freimaurers besteht darin, wie ich Ihnen schon gesagt habe, sich selbst zu vervollkommnen. Wir denken oft, wenn wir alle Mühsale unseres Lebens von uns fernhalten, so werden wir dieses Ziel schneller erreichen. Aber im Gegenteil, nur inmitten der Aufregungen des Weltlebens können wir die drei wichtigsten Ziele erreichen: Erstens die Selbsterkenntnis, denn der Mensch kann sich nur durch Vergleichung kennenlernen, zweitens die Vervollkommnung, welche nur durch den Kampf erreicht wird, und drittens Aneignung der hauptsächlichsten Tugend – der Liebe zum Tod.« Dann erklärte mir der Edle ausführlich die Bedeutung des großen Quadrats des Weltgebäudes und wies darauf hin, daß die dreifache und siebenfache Zahl Grundlage von allem sind, und riet mir, mich nicht von der Gemeinschaft mit den Petersburger Brüdern zu trennen und sie von den Verführungen des Stolzes fernzuhalten. Außerdem riet er mir, für mich persönlich, vor allem mich selbst zu erforschen, und dazu gab er mir ein Heft, dasselbe, in das ich jetzt schreibe und in dem ich auch ferner alle meine Handlungen verzeichnen werde.
Petersburg, den 23. November.
Ich lebe wieder mit meiner Frau. Meine Schwiegermutter kam in Tränen zu mir und sagte, Helene sei gekommen und lasse mich anflehen, sie anzuhören. Sie sei unschuldig und unglücklich darüber, daß ich sie verlassen habe, und noch vieles andere. Ich wußte, wenn ich einwilligte, sie zu sehen, so werde ich nicht mehr die Kraft haben, die Erfüllung ihres Wunsches abzulehnen. In meinem Zweifel wußte ich nicht, an wen ich mich um Hilfe und Rat wenden könnte. Wenn der edle Joseph Alexejewitsch hier wäre, so hätte er mir geraten. Ich zog mich in die Einsamkeit zurück, las den Brief von Joseph Alexejewitsch, erinnerte mich an meine Gespräche mit ihm und gelangte zu dem Schluß, daß ich die Bittende nicht zurückweisen dürfe, und daß ich jedem die Hand zur Hilfe reichen müsse, um so mehr einem mit mir so eng verbundenen Menschen, und daß ich mein Kreuz tragen müsse. Aber meine Wiedervereinigung mit ihr soll nur ein geistiges Ziel haben. So war mein Entschluß, den ich Joseph Alexejewitsch mitteilte. Ich sagte meiner Frau, ich bitte sie, alles Vergangene zu vergessen und mir zu vergeben, worin ich mich gegen sie vergangen habe, und ich habe ihr nichts zu vergeben. Dies sagte ich mit freudigem Mut. Sie soll nicht wissen, wie peinlich es mir war, sie wiederzusehen. Ich habe mich in dem großen Hause, in den oberen Zimmern eingerichtet und empfinde ein beglückendes Gefühl der Selbsterneuerung.
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Wie immer teilte sich auch damals die höchste Gesellschaft bei Hofe und auf den großen Bällen in mehrere Kreise mit besonderen Schattierungen. Der umfangreichste dieser Kreise war der französische, welcher für das Bündnis mit Napoleon wirkte – Graf Rumjanzow und Caulaincourt. Eines der angesehensten Mitglieder dieses Kreises war Helene, sobald sie sich mit ihrem Manne in Petersburg niedergelassen hatte. Die Herren der französischen Gesandtschaft und eine große Anzahl von Persönlichkeiten, welche für ihren Geist und ihre Liebenswürdigkeit bekannt waren, gehörten dieser Richtung an.
Helene war in Erfurt zur Zeit des berühmten Kongresses und von da brachte sie jene Verbindungen mit allen napoleonischen Größen Europas mit. In Erfurt hatte sie glänzenden Erfolg, Napoleon selbst bemerkte sie im Theater, fragte, wer sie sei und bewunderte ihre Schönheit. Ihr Erfolg als schöne, elegante Dame setzte Peter nicht in Erstaunen, denn sie war mit den Jahren noch schöner als früher geworden, aber mit Verwunderung hörte er, daß es ihr in diesen zwei Jahren gelungen war, den Ruf einer entzückenden, mit ebensoviel Geist als Schönheit begabten Dame zu erwerben. Der berühmte Duc de Ligne schrieb ihr acht Seiten lange Briefe, Bilibin sparte seine Wortspiele auf, um sie zum erstenmal bei der Gräfin Besuchow auszusprechen. Es galt für ein Diplom von Geist, bei der Gräfin Besuchow Zutritt zu haben. Junge Leute lasen Bücher vor den Abendgesellschaften Helenes, um im Salon etwas zu sprechen zu haben, und die Gesandtschaftssekretäre und sogar die Gesandten selbst vertrauten ihr diplomatische Geheimnisse an, so daß Helene in gewisser Beziehung eine Macht war. Peter, welcher wußte, daß sie sehr beschränkt war, nahm an diesen Gesellschaften und Diners mit einem seltsamen Gefühl der Verwunderung teil. In diesen Gesellschaften, in welchen von Politik, Poesie und Philosophie gesprochen wurde, empfand er ein Gefühl wie ein Zauberkünstler, welcher jeden Augenblick die Aufdeckung seines Betrugs fürchtet. Aber der Trug wurde nicht entdeckt, vielleicht weil zur Führung eines solchen Salons eben Dummheit nötig war, oder weil die Betrogenen selbst Vergnügen daran fanden. Bald befestigte sich ihr Ansehen als »entzückende, geistreiche Frau« so unerschütterlich, daß sie die größten Plattheiten und Unsinnigkeiten reden konnte und doch dadurch alle Zuhörer in Entzücken versetzte, welche einen tiefen Sinn darin suchten, von dem sie selbst keine Ahnung hatte.
Peter war ein Ehemann, wie er für diese glänzende Weltdame unentbehrlich war. Er war der zerstreute Sonderling, der niemand störte und nicht nur den Eindruck des hohen Tons des Salons nicht verdarb, sondern durch seinen Kontrast mit dem vornehmen Takt seiner Frau ihr als vorteilhafter Hintergrund diente. Während dieser zwei Jahre hatte Peter durch seine beständige eifrige Beschäftigung mit immateriellen Interessen und bei seiner aufrichtigen Verachtung für alles übrige sich in der ihm gleichgültigen Gesellschaft seiner Frau jenen Ton des Gleichmuts, der Nachlässigkeit und Nachgiebigkeit angeeignet, welcher nicht künstlich zu erwerben ist und deshalb unwillkürlich Ehrfurcht einflößt. Er trat in den Salon seiner Frau wie ins Theater, war mit allen bekannt und allen in gleichem Maße gleichgültig. Zuweilen ließ er sich in eine Gespräch ein, das ihn interessierte, und ohne Rücksicht darauf, ob die Herren Gesandten zugegen waren oder nicht, sprach er seine Meinung offen aus, welche zuweilen dem herrschenden Ton durchaus nicht entsprach. Aber die Meinung über den wunderlichen Mann der bemerkenswertesten Frau Petersburgs stand schon so fest, daß niemand seine Ausfälle ernst nahm.
Unter den vielen jungen Leuten, die täglich im Hause Helenes verkehrten, war Boris Drubezkoi, der schon viel Erfolg im Dienste erzielt hatte, nach der Rückkehr Helenes aus Erfurt einer der intimsten. Helene nannte ihn »mein Page«. Sie lächelte ihn ebenso an wie alle andern, zuweilen aber war Peter dieses Lächeln unangenehm. Boris benahm sich gegen Peter mit einer besonderen würdevollen, ernsten Höflichkeit. Auch diese Schattierung von Ehrerbietigkeit beunruhigte Peter. Er hatte vor drei Jahren durch die Beleidigung, die ihm seine Frau zufügte, so sehr gelitten, daß er sich jetzt vor der Möglichkeit einer Wiederholung dadurch schützte, daß er nicht der Mann seiner Frau war, und dann auch dadurch, daß er sich nicht erlaubte, eifersüchtig zu werden.
»Nein, jetzt, wo sie Blaustrumpf geworden ist, hat sie sich von den