Schwester Melisse. Tanja Schurkus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Schurkus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783765571664
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Medizinischen Topographie der Stadt Köln einen sehr umfassenden Bericht über die Gemütslage der neuen rheinischen Untertanen nach Berlin geliefert. Pregnitz wiederum stand in enger Verbindung mit jenen Ministern, die es für klüger hielten, am Rhein ein gewisses Fingerspitzengefühl walten zu lassen. Es war kein Geheimnis, dass die Menschen hier mit den Franzosen mehr verband als mit den Preußen. In Köln gab es wenig Menschen mit Grundsätzen, dafür viele, die den frivolen Genüssen zugeneigt waren. Und natürlich war man katholisch. Pregnitz war daher der Ansicht, dass man die Rheinländer nur in die Arme der Franzosen oder zumindest der Habsburger trieb, sollte man versuchen, mit der Überheblichkeit der Sieger Preußen aus ihnen zu machen. Es musste den Rheinländern erstrebenswert erscheinen.

      Preußen würde wachsen und alle anderen Staaten des deutschen Bundes überflügeln. Dazu brauchte es Festigkeit in der Gesinnung und Geschick im Umgang mit den Wankelmütigen. Und davon gab es im Rheinland viele. Wie es also in dem schillernden Sinn derer aussah, die ihre kleinen persönlichen Wünsche stets über das große Ganze setzten, das erfuhr Pregnitz von Leuten wie Elkendorf. Er berichtete es nach Berlin, meist mit einer diebischen Freude, denn seine Berichte unterschieden sich deutlich von denen des Polizeipräsidenten Struensee, der überall Verschwörung und französische Agenten sah und immerzu Härte und Exempel forderte.

      „Seit Jahresbeginn habe ich wieder zwei Fälle von Scharlatanerie zur Anzeige bringen müssen“, sagte Elkendorf, während er die Messerklinge am Brot säuberte. „Man hätte es nicht mit dieser Anzahl von Betrügern zu tun, wenn man härter durchgreifen würde. Eine Geldstrafe ist nicht genug.“

      „Und was haben Sie sich vorgestellt? Eine öffentliche Geißelung?“ Von Pregnitz überspielte seine Belustigung, um Elkendorf ein wenig zum Narren zu halten. Er wusste, dass man von den preußischen Strafmaßnahmen allerlei drakonischen Schrecken erwartete.

      „Wenn man die Dienste der Scharlatane nicht nachfragen würde, kämen von ihnen nicht stets neue in die Stadt“, fuhr Elkendorf fort, ohne auf die Bemerkung einzugehen. „Man muss das Volk darüber aufklären, dass es von einem Arzt bessere Hilfe zu erwarten hat als von dem Wunderwasser eines Nachbarn! Man sollte schon bei den Kindern mit einer medizinischen Erziehung beginnen! Die preußische Regierung hat in den Schulen so viel Gutes bewirkt. Nach dem Abzug der Franzosen waren sie doch in einem jämmerlichen Zustand …“

      „Es ist in katholischen Ländern üblich, die Bildung zu vernachlässigen“, sagte von Pregnitz wie zu sich selbst, denn Elkendorf, der aus dem Rheinland stammte, war natürlich katholisch. Doch der schenkte diesen Worten keine Beachtung.

      „Wie viel Gutes könnte ein Schulfach bewirken, in dem schon die Kinder darüber belehrt werden, wie wichtig eine reinliche Kleidung ist, eine saubere Stube und eine gute Ernährung! Man sollte ihnen schon früh beibringen, zwischen Heilmitteln und Quacksalberei zu unterscheiden. Sie müssen wissen, dass ein Eberzahn unter dem Kopfkissen nicht von Zahnschmerzen heilt!“

      „Bei mir hat es geholfen“, widersprach von Pregnitz. Elkendorf, der den Hang des Majors zu Spötteleien kannte, hielt im Griff nach der Kaffeekanne inne und sah sein Gegenüber stirnrunzelnd an.

      „Als bei mir als Knabe die Zähne des Erwachsenen durchbrachen, legte meine Kinderfrau einen solchen Zahn unter mein Kopfkissen. Und siehe da, die Schmerzen vergingen immer wieder und waren schließlich ganz fort!“

      „Aber das liegt doch in der Natur der Dinge!“, sagte Elkendorf unwillig.

      „Es liegt in der Natur der Dinge, dass die Menschen sich in Sachen Gesundheit und Krankheit vieles nicht erklären können. Sie sollten diesen Unterricht in Ihrem nächsten Sanitätsbericht empfehlen – ich werde mich bei den zuständigen Beamten dafür einsetzen.“

      Elkendorf goss sich sichtlich zufrieden Kaffee nach. „Dann können Sie bei der Gelegenheit auch nachhören, was aus meinen anderen Vorschlägen geworden ist. In französischer Zeit war ich es gewöhnt, dass freundlich gesprochen wurde, aber nichts geschah. Wir sehen, was daher aus dem französischen Kaiserreich wurde, und wir sehen, dass das preußische Königreich solche Fehler nicht begeht.“

      Von Pregnitz lächelte ein feines Lächeln. Ihn amüsierte die gekonnte Mischung von Lob und Mahnung, die Elkendorf vorbrachte. Elkendorf hatte seinen medizinischen Grad in Paris erworben und war von der französischen Verwaltung zum Armenarzt in Köln bestimmt worden, später zum Stadtphysikus. Er gehörte zu der großen Schar der Beamten, die vom preußischen Staat in ihrer Funktion übernommen worden waren, denn eines hatte man aus den hitzigen Zeiten gelernt: Es war unklug, die Garanten der öffentlichen Ordnung aus ideologischen Gründen auszutauschen. Wenn die Wirren der vergangenen Jahrzehnte einen Sieger hatten hervortreten lassen, dann war es die Beamtenschaft. Dynastien und Herrscherhäuser gingen unter, die fähigen Beamten aber – und zu denen zählte sich auch Pregnitz als höherer Offizier – waren der Nährboden künftiger Größe.

      „Drei Jahre liegt nun mein großer topografischer Bericht zurück“, fuhr Elkendorf fort, „und ich bin darin auch auf einen Punkt eingegangen, der mir sehr am Herzen liegt: Es gibt unter den Katholischen eine auffallend hohe Zahl an früh versterbenden Wiegenkindern …“

      „Sie setzen ja auch mehr Kinder in die Welt, das gleicht die Sache wieder aus.“

      Elkendorf überging auch diese boshafte Bemerkung. „… und ich habe dargelegt, dass dies an der Sitte liegt, das Neugeborene zur Taufe in die Kirche zu tragen. Nur dürftig bekleidet muss es in zugigen Mauern eine lange Zeremonie durchstehen – und dann muss es ein wahres Wunder genannt werden, wenn es nicht erkrankt! Ich habe empfohlen, auch die Katholischen zur Haustaufe anzuhalten, wie man es bei den Protestanten kennt. Die preußische Verwaltung hat aber nichts unternommen, dies durchzusetzen!“

      Pregnitz hatte sein Frühstück beendet – er aß in Gesellschaft stets nur wenig, denn es lenkte ihn von seinen Gedankengängen ab – und lehnte sich zurück. „Man kann wohl davon ausgehen“, sagte er, die Serviette faltend, „dass dem gläubigen Katholiken das Überleben der Seele wichtiger ist als das Überleben des Körpers. Das getaufte Kind mag also sein Leben verlieren, aber es gewinnt das Himmelreich.“

      „Der Staat ist aber nicht für das Himmelreich zuständig, sondern für seine Bürger in dieser Welt – auch und besonders für jene, die wir ‚die stummen Patienten‘ nennen! Dazu gehören die Wiegenkinder, die Blöden, Irren und Greise – all jene, die man vor den Lehren der Aufklärung ihrem Schicksal, oder eben Gottes Schutz, überlassen hat.“

      „Mein lieber Elkendorf“, Pregnitz spielte an den Falten der Serviette, „wollen Sie denn tatsächlich vorschlagen, dass man die Katholiken zwingt, ihre Kinder zu Hause taufen zu lassen, statt im geweihten Raum der Kirche im Angesicht all dieser … Dinge?“ Für von Pregnitz war der Katholizismus tief verstrickt in schwülstige Rituale, in Flitterwerk und Bildnisfrömmelei, für die er kein anderes Wort fand als Dinge. Es war eine Religion für kindliche Gemüter, die den ständigen Reiz der Sinne brauchten. Dennoch – oder eben deswegen – sah Pregnitz keinen Grund, dagegen einzuschreiten.

      „Die Flut der französischen Revolution hat uns einen Spülsaum hinterlassen.“ Pregnitz malte diesen in die Luft. „Und darin finden wir etwa, dass die Religion eine private Angelegenheit geworden ist. Die Menschen hierzulande sind nicht sonderlich politisch. Wenn man sich aber in ihr Privates mischt, dann werden sie aufbegehren und das ist zweifellos politisch. Elkendorf, ich denke, die Zahl der Wickelkinder, die durch die Taufe in einer zugigen Kirche ihr Leben verloren haben, ist sehr gering: Ein Aufruhr aber könnte viele Opfer mit sich ziehen. Meinen Sie nicht?“

      Elkendorf mied den belehrenden Blick. „Meine Aufgabe ist die Medizin und nicht die Politik“, sagte er ausweichend.

      „Aber die Medizin berührt sich oft mit dem Glauben und die Politik natürlich auch. Wer weiß: Hätte Napoleon nicht versucht, den Spaniern ihre geliebte Inquisition zu nehmen, wäre er vielleicht heute noch der Herrscher Europas. Wir wollen seine Fehler nicht wiederholen, nur weil wir auch nichts von der Inquisition halten, oder?“ Und damit hatte Pregnitz das Gespräch zu dem Thema gebracht, für das er Elkendorf tatsächlich einbestellt hatte: „Was hat es eigentlich mit dieser wundertätigen Nonne auf sich?“

      Elkendorf