Schwester Melisse. Tanja Schurkus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Schurkus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783765571664
Скачать книгу
Körpersäfte braucht es eine Quecksilbersalbe, auf die Lungen aufzutragen, Bilsenkrautextrakt löst den Schleim. Die katarrhalischen Krankheiten kommen aus der Überreiztheit, daher brauchst du viel Bettruhe.“ Mit Handgriffen, die keinen Widerstand duldeten, streckte sie Johann auf das Lager, zog eine Wolldecke über das Laken, drückte diese sehr eng an den ausgemergelten Körper des jungen Mannes und öffnete das Fenster. „Und saubere Luft muss in die Lungen.“ Das war jedoch in Köln nicht einfach. Unweit der Severinstraße lag das Gerbereiviertel; stinkende Abwasserbäche flossen durch die Hinterhöfe.

      „Habt Ihr denn diese Salben bei Euch?“, fragte Anna, die sich stets der sehr formellen Anrede bediente, weil Maria eine Geborene von Martin war.

      „Nein, es sind Arzneien, die zu vertreiben ich kein Recht habe. Du musst zu einem Apotheker gehen.“

      „Dazu haben wir nicht das Geld.“

      „Dann geh in die Apotheke im Bürgerhospiz.“ Maria vermied das Wort „Armenapotheke“.

      „Dazu brauch ich einen Schein vom Arzt.“

      „Ja, wenn es Johann besser gehen soll, musst du einen Arzt rufen.“

      Anna nickte, aber Maria wusste, dass sie es nicht tun würde – einen Arzt ließ man nicht ins Haus. „Der luurt einem ne Stund hinten in dat Föttchen und sagt einem dann, dat man krank ist!“, spotteten viele. Aber hinter dem Spott steckte das Unbehagen mit der unergründlichen Kunst der Ärzte.

      Das Kind auf Annas Arm begann zu schreien. „Was ist denn mit dem Weckelditzche?“, murmelte Johann mit einer fahrigen, vom Fieber gelenkten Bewegung.

      „Nur das übliche Bauchweh …“

      „Wir gehen hinunter“, sagte Maria. „Johann braucht Schlaf.“

      „Es ist also eine Lungenentzündung? Nicht das Zehrfieber?“, vergewisserte sich Anna, während sie Maria die schmale Stiege hinunter folgte. Maria hielt sich bei jedem Schritt an dem Seil fest, das neben der Treppe gespannt war. In solchen Momenten konnte sie das nahe Alter spüren.

      „Ich bin mir recht sicher, dass es nicht die Schwindsucht ist.“

      „Es heißt ja nur … von der Schwindsucht bei den Männern …“ Durch das Weinen des Kindes konnte Maria nicht jedes Wort verstehen, aber vielleicht hatte Anna diesen Einblick in ihr Eheleben auch nur geflüstert. Trotz der ernsten Sorge musste Maria lächeln, als sie entgegnete: „Bis zu seiner Genesung ist aber vom Beischlaf abzusehen.“

      Die Küche im unteren Stockwerk war der einzige weitere Raum in dem schmalen Haus, das sich wie viele Gebäude in Köln nur aufrecht halten konnte, weil es zwischen anderen eingepfercht war. Aus der Küche fiel Lichtschein, es war das Feuer in dem gusseisernen Herd. Der Ruß hatte immer wieder einen Weg aus dem Ofenrohr gefunden, sodass die Wand hinter dem Ofen geschwärzt war. Da an den Quer- und Tragbalken allerlei Küchengerät hing, hatte sich der Ruß ungleich verteilt. Ein überreizter Verstand hätte in dem willkürlichen Niederschlag des Rußes allerlei Fratzen und Gestalten erkennen können, Unheilsboten, die aus der Wand herauszutreten suchten. Der Schein des Feuers tat ein Übriges dazu, sie lebendig erscheinen zu lassen.

      Maria schlug ein Kreuz – sie wusste aus ihren Jahren im Kloster, dass manche Gemüter für solche Schrecken empfänglich waren. Die Visionen und Eingebungen des Himmels und der Hölle waren nie ihre Sache gewesen. Durch die Arbeit in der Apotheke hatte sie gelernt, die Natur vorurteilsfrei zu betrachten. Die Gärung, die Salzbildung, das Verschwefeln waren in sich weder Hexenwerk noch Heilkunst, es waren Gesetze: Prozesse, deren Ablauf und deren Ergebnisse unter bestimmten Bedingungen immer die gleichen waren. In der Philosophie war es nur ein kleiner Schritt gewesen zu der Annahme, dass auch der Mensch als Teil der Natur nach solchen Gesetzen funktionierte. Sie hatte nie recht verstanden, warum man solchen Gedanken vorwarf, gottlos zu sein. In den letzten Jahren waren zahlreiche Systematiken der Pflanzenwelt erschienen. Diese ließen ohne Zweifel erkennen, dass allem in der Natur ein Gesetz zugrunde lag. Es ermutigte sie immer wieder: Mochte auch mit der Cholera etwa wieder eine neue Geißel über Europa gekommen sein – Gott bot für jede Gefährdung auch eine Rettung. Maria sah es als ihre Aufgabe an, unermüdlich danach zu suchen.

      Als sie ihre Tasche auf den Tisch stellte, bemerkte sie in der dunkelsten Ecke der Küche eine Bewegung. Sie musste den Besucher nicht erkennen, um zu wissen, wer es war: Theodor saß dort, vor sich die Wiege mit dem älteren Kind. Er wirkte wie ein ausgedientes Möbel, von dem man sich aus sentimentalen Gründen nicht trennen mochte. Sie nickte ihm zu, konnte aber nicht sagen, ob er den Gruß erwiderte. Er ließ die kleine Wiege schaukeln, aber Maria war, als hätte man das Kind darin gegen einen Holzscheit austauschen können, ohne dass er es bemerkt hätte.

      „Johann wird es bald besser gehen“, sagte sie und bekam auch darauf keine Antwort. Sein Schweigen schleuderte ihr entgegen: Keinem von uns wird es besser gehen. Ihr fiel es schwer, für die Melancholie dieses Mannes Verständnis aufzubringen. Er verbreitete ein schwarzes Fluidum, das sich über alles und jeden in seiner Umgebung legte und an dem sich jedes Licht brach. Maria drehte ihm den Rücken zu, schob das schmutzige Geschirr auf dem Tisch beiseite und öffnete ihre Tasche.

      „Ich lasse dir Melissenwasser hier, das gibst du ihm dreimal am Tag in heißem Wasser zu trinken, es löst den Schleim. Außerdem tropfst du etwas auf warme Umschläge, die du ihm auf die Brust legst.“ Maria stellte die Phiole auf den Tisch. „Hier hast du schon eine Salbe, aber du musst dir beim Apotheker eine aus Quecksilber machen lassen.“

      Anna nickte und wiegte das Kind in der Hüfte, dessen Weinen zu einem kleinen Sturm anwuchs.

      „Falls sein Fieber aber steigt, musst du ihm kalte Umschläge machen – und du musst einen Arzt rufen!“

      Anna schob sich die Haarsträhnen unter die weiße Haube und nickte, wie man nickte, wenn man sich etwas anhören musste, während man sich eine ganz andere Frage stellte.

      „Eine gute Hühnerbrühe lässt ihn schnell wieder zu Kräften kommen.“

      „Ich habe das da“, sagte Anna und deutete auf einen Steinguttopf. Darin lag ein Stück Hammel, das vom vielen Auskochen ganz grau geworden war. Was Anna noch sagte, verlor sich im Geschrei des Kindes. Nun kam Bewegung in Theodor. Er nahm ihr das Kind aus dem Arm. Sobald es in die stille Welt dieses Mannes eingetreten war, beruhigte es sich.

      „Soll ich nicht ein Wachsbild stiften? So steht es im Christoffelsbüchlein!“, sagte Anna endlich. „Welches wär denn eine Fürbitte für eine gesunde Lunge?“

      Auch wenn das Christoffelsbüchlein von der Frömmigkeit der einfachen Leute zeugte und ihnen für die Nöte des Alltags Rat und Trost gab, so wusste Maria doch, dass man sich in diesem Haus ein Wachsbild vom Munde hätte absparen müssen. Also sagte sie: „Eine Kerze ist das Rechte. Hol dir eine geweihte in St. Severin; eine Flamme nimmt ihre Kraft aus der Luft und gibt sie dahin zurück. Du brennst sie in eurer Stube ab und betest dabei am Morgen und am Abend den Rosenkranz.“

      Anna nickte verstehend. Man hörte Schritte über den kleinen Flur und Gottfried trat in die Küche, den Hut in der Hand.

      „Du kommst gerade recht“, sagte Theodor. „Wir werden eben über den Rosenkranz belehrt von einer Nonne, die alle ihre Gelübde gebrochen hat.“

      „Ich habe keines meiner Gelübde gebrochen!“, antwortete Maria gereizt. Sie fing Gottfrieds Blick auf, der sagte: Lass dich von ihm nicht herausfordern! Maria griff in die Tasche und legte zwei Münzen auf den Tisch. „Da, Anna, das ist für das Huhn und für den Apotheker.“ Als Anna sich fragend zu Theodor umsah, nahm Maria das Geld und drückte es ihr in die Hand.

      „Wie geht es Johann?“, wollte Gottfried wissen.

      Es gab keine Blutsbande, die ihn in diesen Haushalt führten. Er war Theodors Stimme, er war das, was Theodor von der Welt geblieben war. Sie beide waren in den Krieg gezogen, aber nur Gottfried war zurückgekehrt. Und Maria wusste, dass er sich für Theodor verantwortlich fühlte. Die Zeit des Krieges hatte sie wie mit Eisenketten aneinandergeschmiedet. Wenn der Krieg auch vorüber war, diese Ketten konnte kein Friedensschluss von ihnen lösen –