Schwester Melisse. Tanja Schurkus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Schurkus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783765571664
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Markus. „Und letzte Woche haben wir dem Struensee einen Drisspott an die Tür gekippt – das war auch mein Einfall!“

      „Dem Polizeipräsidenten Struensee?“ Dieser war in Köln denkbar unbeliebt, daher war sich Markus sicher gewesen, allen damit einen Gefallen zu tun. „Gustav, wenn’s auch nicht dein Einfall war: Du solltest so etwas nicht zulassen!“

      „Ja, Madame.“ Peter Gustav stammte aus der alteingesessenen Brennereifamilie Schaeben. Er war alt genug, um zu verstehen, dass seine Familie es sich mit den neuen Herren nicht verderben durfte, wenn die Geschäfte weiter gut laufen sollten.

      „Und sag deinem Vater, dass ich einen neuen großen Kolben brauche.“

      „Für das Melissenwasser? Hat es denn nun die Amtsprüfung?“

      „Musst nicht alles wissen, Gustav!“ Sie stupste den Jungen an die Wange. Gustav gab recht oft damit an, dass er Schwester Maria dabei half, ihre Heil- und Wunderwasser zu brauen, und dass er eine Menge von dem Spiritus wusste, der aus jedem Kraut die Heilkräfte herausholen konnte.

      Weil Markus nicht wollte, dass sein älterer Freund so ganz den angehenden Destillateur herauskehrte, unterbrach er das Gespräch: „Gusti, guck mal!“ Er deutete auf eine Reisekutsche aus edlem Ebenholz mit Messingbeschlägen, die auf hohen gefederten Rädern vorüberrollte, offenbar dem Rheinberg entgegen. Der war zwar längst von den Preußen abgetragen worden, um einen Zugang für die neue ständige Brücke zu schaffen, aber in den älteren Reiseberichten wurde dieser Ort immer noch der Aussicht wegen empfohlen.

      „Da bleib ich dran!“, rief Markus. „Mesdames et Messieurs: Bienvenue dans la bonne ville …“ Dabei streckte er lachend die Hand aus und lief los.

      Gustav zögerte noch, schien sich mit einem Blick die Erlaubnis von Maria holen zu wollen, entschuldigte sich mit einem: „Ich geb schon auf ihn acht!“, doch das Aufblitzen in seinen Augen verriet, dass auch ihn die wohlhabenden Reisenden reizten. Dann lief er seinem Freund hinterher.

      Maria hörte noch einen Wortwechsel zwischen den beiden. „Du kannst doch nicht Madame zu Schwester Maria sagen“, beschwerte sich Markus.

      „Ja, wie denn sonst? Sie ist doch keine Nonne mehr.“

      „Ist sie wohl …“ Dabei verschwanden die beiden in abenteuerlicher Unachtsamkeit zwischen Zugochsen und Handkarren, zwischen Mägden mit großen Weidenkörben und Pfeife rauchenden Handwerksgesellen.

      Maria war unzufrieden mit sich, weil sie die beiden Jungen nicht schärfer ermahnt hatte. Sie kamen in ein Alter, in dem man ihre Streiche nicht mehr für harmlos hielt, sondern als Majestätsbeleidigung einstufte. Es verging kein Tag, an dem nicht irgendein eifriger preußischer Beamter über die schwierigen Kölner Verhältnisse nach Berlin berichtete und Härte empfahl.

      Doch die Kinder wiederholten nur das Gerede, das sie in den Gassen hörten. Es war eine Leidenschaft der Kölner, in den unteren Fenstern ihrer Häuser zu liegen und die Vorübergehenden in ein Gespräch zu verwickeln, in dem es um das Wohl und Weh – meistens das Weh – der Nachbarn ging: um das schlimme Auge, einen missratenen Sohn … und natürlich um die Preußen. Wie hatte es nur dazu kommen können, dass das „Heilige Köln“, die Stadt der Heiligen Drei Könige im Jahr 1815 zur gemeinsten preußischen Provinz wurde, die von Koblenz und Düsseldorf aus verwaltet wurde? Die Kinder, die in den Gassen umherstreiften, hörten diese Worte und wiederholten sie. Es war Teil des großen Spiels, in dem sie lebten, so wie das Hungern ein Spiel war, das Arbeiten, das Kranksein, das Beten und Lernen – etwas, das man nicht hinterfragte. Die Kinder spielten nie Amtsstube, deswegen konnten sie nicht ermessen, welche Gefahr für sie daraus hervorging: Dort wurde entschieden, ob es nur ein Dummerjungenstreich war, wenn man Pferdeäpfel nach den Soldaten des Königs warf, oder ob es der Beginn eines Aufruhrs war.

      Als Maria 1825 nach Köln gekommen war, hatten die Kinder Waterloo gespielt, denn in den zehn Jahren seit jener Schlacht war nicht mehr viel geschehen. Alle wollten bei den Franzosen sein, auch wenn sie die Schlacht verloren hatten. Aber ihre Väter waren eben die Soldaten des Kaisers gewesen, dessen Namen man hier immer noch mit Wohlgefallen nannte – oder eher: wieder mit Wohlgefallen nannte. Erst vor Kurzem hatte sie Boisserée sagen hören: „Was die Franzosen in zwanzig Jahren nicht geschafft haben, haben die Preußen in einem halben Jahr hingekriegt: dass wir die Franzosen gern zu haben gelernt haben!“

      Maria überquerte die Cäcilienstraße. Eine der Frauen, die Maria in den letzten Wochen in ihrem Heim gepflegt hatte, war nun dorthin gebracht worden. Es gab nicht mehr viel zu tun für sie; die Entzündungen, die ihre Gelenke entstellt hatten, hatten nun auch die Organe befallen. Um diese Uhrzeit öffnete das Bürgerhospiz seine Tore für Besucher. Der Pförtner kannte sie, auch wenn sie keine staatlich bestellte und entlohnte Wartsnonne war, und grüßte freundlich: „Gott zum Gruße, Schwester Maria!“

      Sie trug nicht die Tracht des Annunziaten-Ordens, dem sie einst angehört hatte, sondern ein einfaches braunes Wollkleid mit einer Schürze darüber. Das Haar hatte sie unter einem dunklen Schleier verborgen, den sie im Nacken zusammengebunden trug. Der Schleier hinderte sonst in der Arbeit mit den Kranken, wenn er in offene Wunden oder nässende Geschwüre fiel. Sie hatte sich für diese zweckmäßige Kleidung entschieden, als sie die Verwundeten der Schlachten gepflegt hatte.

      Zweien davon war sie wieder begegnet, als sie vor vier Jahren nach Köln gekommen war: Gottfried, dem Vater von Markus, und Theodor. Zwei, denen sie das Leben gerettet hatte in einem Moment, der aus dem glühenden Sterben jenes Tages bei Waterloo herausragte wie ein Nagel, an dem sie sich immer wieder ritzte. Mitunter fragte sie sich, ob sie nicht deswegen nach Köln gekommen war – und nicht nur, weil es einen alten Domvikar zu pflegen gab. Diese beiden waren für sie wie eine Aufgabe, die sie noch nicht gelöst hatte, oder sogar wie ein Unheil, das sein Ende noch nicht erreicht hatte. Und nun, da Theodors jüngerer Bruder Johann offenbar schwer erkrankt war, wuchs in ihr die Befürchtung, dass das schlafende Unheil jener zurückliegenden Ereignisse wieder erwacht war.

      2

      Maria hob den Rock an, um sich hinter Johann auf das Bett zu knien. Die ausgebesserten Laken waren ebenso gelb wie das durchgeschwitzte Hemd, das der Kranke trug, und seine Haut, die zum Vorschein kam, als sie den Stoff hochschob.

      Durch das Fenster über dem Bett fiel graues Licht: Der Winter war eingeschlafen, aber der Frühling hatte noch nicht die Kraft, die Welt wieder aufzuwecken. Maria holte das kleine Holzrohr hervor, das neuerdings von einem französischen Arzt für die Untersuchung der Lungen empfohlen wurde, und setzte es auf die blasse, blau geäderte Haut. Ein Film von Fieberschweiß lag darauf, die Rückenwirbel zeichneten sich ab. Sie forderte ihn auf, tief zu atmen, dann zu husten. Es wurde ein Anfall daraus. Dumpf dröhnte es in dem Rohr. Sie musste es absetzen, dann klopfte sie auf die Bereiche der Lunge, hörte den Widerhall, wie sie es schon Hunderte Male in ihrem Leben getan hatte.

      Sie hatte gelernt, durch den Klang zu unterscheiden, ob sie es mit einer gesunden oder kranken Lunge zu tun hatte. Sie schloss die Augen, um dem Klang ein Bild zu geben. Sie sah die Illustrationen in den Büchern: die Lungen, sorgsam von einer Feder vor vielen Hundert Jahren gezeichnet und als Kupferstich gedruckt. Die Äste und die kleinen Beeren daran, Bronchus und Bronchiole.

      „Und jetzt die Brust“, sagte sie und setzte das Rohr auf die Rippenbögen. Da waren kaum Haare, als wäre es Johann seiner Bestimmung als jüngster Bruder schuldig, auch ewig ein Knabe zu bleiben. Johann war gut zwanzig Jahre alt, das letzte Kind aus einer langen Kette von Geburten und Wiegentoden, schwächlich, wie die letzten Bemühungen seiner ausgelaugten Mutter.

      Anna stand in der Tür, auf den Armen ein wimmerndes Kind. Sie war Johanns Frau und hegte doch eine Fürsorge für ihn wie eine Mutter oder eine ältere Schwester. Johann war eben jene Art von Mensch, die in den Augen aller immer ein Kind blieb.

      Maria richtete sich wieder auf und beendete ihre Untersuchung mit einem Lächeln, um zu zeigen, dass die Sache nicht übermäßig ernst stand. „Es ist eine Lungenentzündung“, sagte sie. „Das lässt sich auskurieren. Du kannst wieder gesund werden.“ Nur wer sie sehr gut kannte, wusste, dass sie